Читать книгу Barfuß auf dem Dixi-Klo. Triathlongeschichten vom Kaiserswerther Kenianer. - Lars Terörde - Страница 12
Marathonhelden
ОглавлениеSo fand sich der Kenianer am frühen Morgen mit seinem Schwager in einem Bürgersaal in dem kleinen Örtchen Aegidienberg wieder inmitten von…
…inmitten einer wahrhaft ungewöhnlichen Athletenschar. Hier hatten sich Läufer eingefunden, die – reich an Erfahrung und Kilometern – einen Marathon durchs Siebengebirge nicht als Herausforderung, sondern als gemütlichen Jahresausklang ansahen. Lauschte man den Gesprächen in den Kloschlangen, so war ein Marathon eine Kurzstrecke und das Siebengebirge der passende Ort für einen entspannten, 42,195 Kilometer langen Sonntagsspaziergang.
Ebenso ungewöhnlich wie die Kilometerleistung dieser Menschen waren ihr teilweise hohes Alter und die sonderbaren Outfits. Vorherrschend – wenn auch inzwischen etwas ausgeblichen – die grellen Farben der 80er Jahre. Laufschuhe, die nach heutigen Maßstäben keine mehr sind. Einer der Läufer trug sogar Jeans (und kam später tatsächlich in einer Zeit um viereinhalb Stunden ins Ziel). Hier trafen sich die Urgesteine der Ausdauer-Szene, und das am häufigsten zu sehende Vereinstrikot war das des »Marathon 100er Club«, dessen Mitglied man nur werden darf, wenn man mindestens hundert dieser Läufe absolviert hat.
Liebenswert skurrile Typen in einem Starterfeld, das so völlig anders als bei den großen Stadtmarathons daherkam. Aber eben auch eine beeindruckende Kulisse für den Kenianer und seinen Schwager. Kurzum, hier liefen zwei Ärsche auf Grundeis respektvoll die ersten Steigungen hinauf. Bei einem Wetter, um Siebengebirgsmarathon-Helden zu zeugen. Eisig kalt, aber strahlender Sonnenschein.
Apropos Grundeis. Das gab es dann auf den Höhenwegen des Siebengebirges. Charakteristisch für diesen Lauf ist aber auch, dass man die Höhen schnell wieder verlässt (natürlich nur, um sie bald darauf wieder zu erklimmen), sodass die Wege zwischendurch wieder eisfrei waren.
Der Rennverlauf des Kenianers ließ sich in aller Kürze so beschreiben: Auf den ersten zehn Kilometern Respekt, gar Angst und ein eher verzagtes Angangstempo, was sich später auszahlen würde. Auf den zweiten zehn Kilometern blanke Verzweiflung, da er auf einem glatten Gefällestück plötzlich von einem akuten »Ballack«, einem unschönen Stechen in der Wadenmuskulatur, befallen wurde, als er dummerweise versuchte, während des Laufes ein Foto vom Schwager zu schießen. Der Ballack bereitete ihm vor allem bergab Beschwerden, sodass der Kenianer schon an Aufgabe dachte. Zwischen Kilometer zwanzig und siebenundzwanzig dann Hoffnung und Zuversicht, da die Wade nicht »zumachte«. Eine Schwächephase zwischen siebenundzwanzig und einunddreißig. Freude und Selbstsicherheit auf den letzten Kilometern bis zum Zieleinlauf. Danach etwas Stolz und viel Leere, was ja schon mal vorkommen kann nach einem Marathon.
Und der Schwager? Tja, der Schwager! Er hatte nicht geblufft! Er war verletzt, er war tatsächlich auf Dienstreise gewesen und in den letzten zweieinhalb Monaten vielleicht fünf Mal zum Laufen gekommen. Aber dennoch, trotz dieser quasi nicht-existenten Vorbereitung in den entscheidenden Wochen ging er an den Start (Vorsicht Kinder: nicht nachmachen!). Getrieben von der Rivalität zum Kenianer schwang er sich auf, dem Siebengebirge die unvernünftige Stirn zu bieten. Und erstaunlicherweise blieben die beiden Konkurrenten lange Zeit zusammen. Zwischenzeitlich lief der Schwager unserem Kenianer sogar davon, um dann an der nächsten Verpflegungsstelle großmütig zu warten.
Erst im sieben Kilometer langen Anstieg ab Kilometer dreißig verlor er den Anschluss, entließ den Kenianer und befahl ihm vorzulaufen. »Wenn es eine Heldengeschichte unter den Läufern gibt, dann die des Schwagers«, dachte der Kenianer insgeheim, als er mit schlechtem Gewissen davonzog – auch wenn er geneigt war, dem Herausforderer aufgrund dessen wenig heroischer Vorbereitung und Trainingsmoral den halben Heldenstatus gleich wieder abzuerkennen.
Und die ganze Heldengeschichte? Die spielte sich wie immer unbeobachtet ab. Die wahren Helden des Siebengebirges sind nicht die beklatschten Läufer. Es sind nicht die Kenianer, die ihrem Hobby nachgehen dürfen. Nicht die gut vorbereiteten Vielläufer, die all die fantastischen Eindrücke von der Landschaft und dem Wettkampf für immer in ihrem Läufergedächtnis speichern. Nicht die Sieger, die mit unvorstellbarer Geschwindigkeit die steilen Anstiege und die glatten Gefällestrecken bewältigen.
Es sind die, die sich stundenlang freiwillig und ehrenamtlich in die Kälte stellen. Die an einsamen Verpflegungsstellen im Wald unermüdlich Bananen schneiden. Die Wasser, Tee und Iso an die vorbeiziehenden Läufer verteilen. Die selten mal ein Wort des Dankes dafür bekommen (wobei der Kenianer noch nie ein so freundliches Miteinander von Läufern und Helfern gesehen hat wie bei diesem Lauf) und manchmal sogar Unfreundliches ertragen müssen.
Die, die immer ein aufmunterndes Wort für die Läufer übrig haben. Die vor dem Lauf Verpflegungsstände aufbauen. Die nachher die zahllosen in den Wald geworfenen Trinkbecher aufsammeln. Die Wochen vorher die Organisation des Laufes auf die Beine stellen. Die alles tun, um eine tolle und empfehlenswerte Veranstaltung zu stemmen.
Jeder, der frei von der Jagd auf Bestzeiten einen Lauf durch wunderschöne Landschaften mitmachen möchte, jeder, der einmal eine Veranstaltung mit seiner Teilnahme beehren möchte, die gleichermaßen Mörderlauf mit achthundert Höhenmetern und gemeinschaftliche Waldwanderung, entspanntes Bergaufgehen und einmaliges Erlebnis ist, kann diesen Helden einen Dienst erweisen. Indem er sich selbst zu diesem schönen Marathon anmeldet. Und vor allem, indem er bei seinem nächsten Lauf ein nettes Lächeln und ein kurzes »Dankeschön« in Richtung dieser Helden schickt!