Читать книгу Barfuß auf dem Dixi-Klo. Triathlongeschichten vom Kaiserswerther Kenianer. - Lars Terörde - Страница 7

Der Kenianer auf Hawaii

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Es war einer dieser Montagabende im Oktober. Oktober ist für einen Triathleten der Monat der Regeneration, wenn er nicht gerade auf Hawaii startet. Für den Kenianer ist es der Monat des Müßiggangs, der Trägheit, der Süßigkeiten, des Alkoholkonsums, der Chips und des Fernsehens. Keine Wettkämpfe, deren Vorbereitung ihn noch aus dem Sessel trieben. Keine Diäten, um einigermaßen in den Neoprenanzug zu kommen, den er sich vor einigen Jahren in besseren Zeiten zugelegt hatte. Nach der langen Saison begann das schlechte Gewissen noch nicht zu sehr zu drücken. Die Waage wurde nicht mehr betreten, und der Gürtel mit den nummerierten Löchern signalisierte ihm jeden Morgen, dass der letzte Wettkampf schon über einen Monat her war.

So saß er denn in seinem tiefen, roten Sessel, die Chips und das Bier in Reichweite, die Fernbedienung in der Hand, umgeben von den Verpackungsresten der ersten Tafel Schokolade des Abends. Der Tag war lang gewesen, und bei Günther Jauch quälte sich eine angehende Apothekerin durch die Fragen auf dem Weg zu einer Million Euro.

Wenn nun wirklich Nichtstun angesagt ist, wenn dem Kenianer selbst das DSF-Topspiel der Woche zwischen Greuther Fürth und Osnabrück zu anstrengend ist, dann landet er beim Rätselonkel der Nation. Sind die ersten doofen Fragen erst mal überstanden, macht auch ihm das Mitraten Spaß. Unbeeindruckt von der Studioatmosphäre und ohne die Angst, einen mühsam erspielten Gewinn wieder verlieren zu können, lassen sich die Lösungen im heimischen Wohnzimmer einfach aussprechen. Und nicht minder leicht fällt es, die Kandidaten in Langweiler, Sympathieträger und aufgeregte Nervenbündel zu unterteilen.

Die Apothekerin zählte zur ersten Kategorie, die Fragen waren durchwachsen, die Dialoge zäh. Der Kenianer merkte noch, wie ihm die Sendung entglitt. Kurz vor neun im tiefen Sessel nach einem langen, arbeitsreichen Tag. Seine Lider wurden schwer und fielen in immer kürzeren Abständen zu. Er wehrte sich kurz, hörte noch, wie Günther dem Publikum vor den Bildschirmen die nächste entscheidende Frage stellte und dann zur Werbung weitergab.

Zwischen Piemont-Kirsche, Rügenwalder Mühle, Sparkassen-Finanzberater und der neuen VW-Familienschleuder verlor sich der Kenianer und sank in einen leichten Schlaf…

»32.000 Euro, was machen Sie mit dem Geld?«, fragte Günther wie immer bei dieser Gewinnstufe. »Jetzt heißt es bestimmt wieder: Das Auto ist zwar noch okay, aber ein neues wäre schon ganz nett!, Es war schon immer mein Wunsch, mit meiner Mutter nach Ägypten zu fliegen! oder: Whale Watching ist ein alter Kindheitstraum von mir!«, dachte der Kenianer, als ihm plötzlich klar wurde, dass die Frage an ihn selbst gerichtet war. Er höchstpersönlich saß auf dem hohen Stuhl, den Telefonjoker noch in der Hinterhand und die sichere Gewinnstufe bereits erreicht.

Ihm konnte nicht mehr viel passieren, und auf diese Frage hatte er schon so lange gewartet. Er wollte es nicht der Bank geben, eine Wohnung anzahlen, ein Auto oder einen Urlaub finanzieren.

»Ich werde mit meinem Chef sprechen, mir ein Dreivierteljahr Kurzarbeit gönnen und das Leben eines Profitriathleten führen. So mit sechs Stunden Training am Tag, Trainingslagern im Süden, regelmäßigen Massagen und High-End-Ausrüstung, um mich im nächsten Jahr für Hawaii zu qualifizieren!« Günter war für einen Moment konsterniert, gewann aber schnell die Fassung wieder: »Sie wollen also wirklich das ganze Geld dafür ausgeben, um zu schwimmen, Rad zu fahren und dann in der Hitze zu rennen?« Selten in seinem Leben hatte unser Kenianer so überzeugt »ja« gesagt.

Es wurde noch etwas hin und her geplänkelt zwischen den beiden, dann brachte ihm das Schicksal eine Kochfrage, die der Kenianer zwar nicht beantworten konnte, dafür aber sein als Telefonjoker rekrutiertes Weib, und schon fand er sich bei 64.000 Euro wieder.

»Wow, dafür kann ich mir schon eine hübsche Auszeit gönnen«, dachte er in Erwartung der nächsten Frage. Und jetzt, ohne Joker, kam endlich Sport. Er hörte die Frage nach dem ersten Olympiasieger der Neuzeit im Marathonlauf und wollte den Günther schon umarmen. Er »loggte« Spiridon Louis ein, unterband jede Diskussion und stand mit 125.000 Euro vom Stuhl auf – die nächste Frage hatte was mit Geschichte zu tun, und bis auf Sportgeschichte hatte der Kenianer keinen Schimmer von der Historie.

Wenn er wirklich was bräuchte, um erfolgreich Triathlon betreiben zu können, dann war das nicht ein neues Fahrrad, ein neuer Neoprenanzug oder noch leichtere Laufschuhe. Was dem Kenianer fehlte, war einfach Zeit. Die Zeit, um morgens ins Schwimmbad zu gehen, den Vormittag auf dem Rad zu verbringen, abends auf Laufbahnen Runden zu drehen und trotzdem noch ein intaktes Familienleben aufrechtzuerhalten. Die Zeit, um sein vergrabenes Talent freizulegen.

Diese Zeit kaufte er sich jetzt. Eine Auszeit von der Arbeit, um sich für Hawaii zu qualifizieren. Denn dort dürfen nur die Besten der jeweiligen Altersklassen an den Start. Herr Jauch war wirklich beeindruckt. Schon am Tag danach klingelte des Kenianers Telefon.

Stern-TV: »Meinen Sie das ernst mit dem Ironman?«

Nie war ihm etwas ernster! Und schon vereinbarte er mit dem zuständigen Redakteur, dass in der Sendung in regelmäßigen Abständen Berichte von seiner Vorbereitung ausgestrahlt würden.

Eine Woche später saß der Kenianer wieder in einem Fernsehstudio – diesmal in den bequemen Lümmelsesseln bei »Stern-TV«. Erneut der Günther vor ihm, und er sagte zum Abschluss, dass er sehr gespannt darauf sei, wie das Abenteuer Hawaii ausgehen werde.

Der Chef des Kenianers war sofort einverstanden. Neun Monate kostengünstige Kurzarbeit und dazu noch die mediale Aufmerksamkeit durch einen langjährigen Mitarbeiter, eine bessere Werbung konnte er sich für sein Haus nicht vorstellen.

Apropos Werbung. Schon bald riefen die ersten Fahrradhersteller an, um ihm ihre neuesten Boliden gratis anzudienen. Sie alle wollten, dass der Ironman-Rookie im Fernsehen auf ihren Maschinen saß. Nachdem es ihm vor Verblüffung erst die Sprache verschlug und er deshalb eine Antwort schuldig blieb, boten sie obendrein noch Geld an. Damit war nun wirklich nicht zu rechnen gewesen, aber unser Kenianer war im nächsten Jahr der Triathlet mit der größten Medienpräsenz im ganzen deutschsprachigen Raum.

Doch wichtig war »auffem Platz«, wie die Fußballer sagen. Training war angesagt. Jeden Morgen, nachdem der Filius in der Kita untergebracht war, führte sein Weg den Kenianer also statt zur Arbeit ins Schwimmbad – getreu der alten Binsenweisheit »Gute Schwimmer werden im Winter gemacht«.

Mit Hilfe eines Personal-Trainers arbeitete er an seiner Technik. Der Coach brachte ihn in weniger als zwei Monaten vom Mississippi-Raddampfer zum Schwimmbad-Hai, der wie von Geisterhand gezogen durchs Wasser glitt. Eine Rollwende ohne Wasserschlucken und Brennen in der Nase? Mittlerweile ein Kinderspiel. Und endlich gehörte er auch zu den Großen, die jedes Mal eine Trinkflasche und eine Plastikbox voller Schwimmutensilien am Beckenrand stehen hatten. Der Oberkörper veränderte sich, Fettpolster schwanden trotz ungehemmter Kalorienzufuhr. Der Kenianer vertrat ja seit jeher die Ansicht, dass Übergewicht eher auf zu wenig Bewegung als auf zu viel Essen zurückzuführen war. Jedenfalls fiel es ihm schon immer leichter, mehr zu trainieren, als weniger zu essen.

Mit dem Crossrad seines Ausstatters machte er stundenlang die Forstwege der Umgebung unsicher. Er entdeckte neue Strecken und die Schönheiten herbstlicher Wälder.

Für den Winter hatte ihm ein szenebekannter Lauftrainer lange Laufeinheiten verordnet. Um das erhöhte Pensum ohne Beschwerden zu schaffen, stand auch gezielte Regeneration auf dem Programm. Abends Sauna, Massagen und natürlich Essen bis zum Abwinken.

Und trotz des immensen Trainingsprogramms herrschte Frieden zwischen dem Kenianer und seinem Weib. Denn jetzt war sonntags trainingsfrei. Was für ein Luxus für jeden Hobbysportler!

Na gut, dass er im Frühjahr zwei Wochen mit dem Fernsehteam nach Mallorca reisen wollte, kam zunächst beim Weibe nicht gut an. Aber die Aussicht auf gemeinsame, einsame – nur sie und der Kenianer mit seinen beiden Lieblingsfahrrädern – zehn Tage im Breisgau im Mai mit vorreservierten Tischen bei den besten Köchen der Region stimmten sie milde.

Neben den Pfunden purzelten auch die Bestzeiten. Dass er ein eleganter Schwimmer geworden war, wissen wir inzwischen, dass er aber zur Rakete mutierte, nicht. Schwimmkilometer in 14 Minuten wurden schnelle Trainingseinheiten! Vom Laufen ganz zu schweigen. Selbst ein Kilometerschnitt von viereinhalb Minuten trieb dem Kenianer kein bisschen Laktat mehr in die schlanken Beine. Den langgehegten Traum, auf zehn Kilometern unter 40 Minuten zu bleiben, erfüllte er sich bereits beim Silvesterlauf in der Nachbarstadt.

Alle zwei Monate musste er zum Studio-Interview. Des Kenianers Fortschritte waren phänomenal! Im April verblüffte Günther ihn in der Sendung mit Vorher-Nachher-Bildern. Tatsächlich war aus dem tapsigen Riesen ein Windhund geworden. Natürlich gingen die Redakteure von »Stern-TV« auf Nummer sicher. Immer wieder fand sich der deutsche Dopingchefankläger Prof. Franke unangemeldet zur Kenianer-Kontrolle ein. Erst fand er es absurd, aber aufgrund seiner ungeheuren Leistungszuwächse mehrte sich sein Verständnis für diese Maßnahme.

Außerdem war ihm der Typ schon immer sympathisch gewesen, hatte der Kenianer doch genau wie dieser die Vorstellung, dass der ganze Sport dopingverseucht sei. (Vor allem diejenigen, die vor dem Kenianer in den Ergebnislisten standen, hielt er grundsätzlich für hochverdächtig.)

Er war plötzlich prominent in der Szene. Das merkte er an den vielen neidischen Blicken, als er beim Formtest Düsseldorf-Marathon vom Kamerateam in den vorderen Startblock gedrängt wurde. Mit angezogener Handbremse verpasste er knapp die Drei-Stunden-Marke. Es wäre tatsächlich mehr drin gewesen, aber wegen seiner Saisonplanung wollte er nichts übertreiben. Langsam angehen, in zwei Monaten stand in Frankfurt das Quali-Rennen für Hawaii an.

Jetzt galt es, die Zeitfahrposition auf dem Hightech-Carbonrenner zu optimieren. Ganz in der Nähe gab es eine Bahn mit den entsprechenden Fachleuten. Videoanalyse, mehrere Stunden auf dem Holzoval mit computergestützter Auswertung der Leistungsdaten, dann war die richtige Position mit Hilfe des örtlichen Radsportgurus gefunden. (»Bin isch schon mähr Kilometer an Rännän gefahren als viele meinen Kunden in ihren ganzen Läben zusammen«, war einer seiner Lieblingssprüche, den er in seinem breiten schottischen Akzent zum Besten gab.)

Anschließend die zehn Tage im Breisgau. Hotel Colombi in Freiburg. Der Kenianer gönnt dem Weib ja sonst nichts. Abwechselnd flache Strecken durch das Markgräflerland und die Rheinebene mit der Zeitfahrmaschine und dann wieder Bergfahrten auf Belchen, Schauinsland und Feldberg mit dem Trainingsrad. Danach abendliche Diners in den gehobenen Fresstempeln der Region.

Frankfurt rückte näher. Ein bisschen Sorge machte ihm die mediale Aufmerksamkeit. Der Kenianer war in der Form seines Lebens, die Quali greifbar, alle Werte (Gewicht, Körperfett, Wattzahlen) waren gut wie nie. Aber er spürte den unterschwelligen Argwohn der Szene. Die Profis waren sauer, dass ein Hobbysportler mehr Aufmerksamkeit auf sich zog als sie selbst, die Hobbysportler waren neidisch, und die direkten Konkurrenten um Hawaii argwöhnten misstrauisch, ob alles wirklich mit rechten Dingen zuging.

Doch mit dem Startschuss am Langener Waldsee verschwanden alle Sorgen. 2.000 Sportler beim Massenstart. Der Kenianer behielt die Nerven und entstieg dem Wasser im Vorderfeld. Auf der Radstrecke plötzlich ungewohnte Leere. Windschattenfahren ist in diesen vorderen Regionen eigentlich kein Thema, aber dafür sind hier die Kampfrichter viel aufmerksamer als in den Gruppen, in denen der Kenianer sonst fuhr. Immer wieder las er seinen Namen auf der Fahrbahn. Er hatte keine Ahnung, an welcher Position er lag, als er nach knapp sechs Stunden auf die Laufstrecke ging. Unter neuneinhalb Stunden war sein Ziel. Da er im abschließenden Marathon aber tatsächlich unter drei Stunden blieb, waren es sogar nur neun. Hawaii war geschafft, einige Professionals hatte er hinter sich gelassen, die erste Frau war nur kurz vor ihm ins Ziel gekommen.

Schon im September war der Kenianer in Kona, Hawaii. Frühzeitig akklimatisieren. Die Radstrecke schon mal abfahren. Zum ersten Mal im Meer schwimmen. Laufen am Alii Drive. Nicht wirklich spektakulär, aber es ist Hawaii, das Mekka dieses Sports.

Die Wochen bis zum Start vergingen wie im Flug. Carboloading und Tapering unter fachkundiger Anleitung gaben ihm den Feinschliff. Dann kam der langersehnte Tag. Großes Triathlonkino. Schlafen bis drei Uhr morgens, dann so viel Essen, wie reinging. Vier Mal war der Kenianer auf der Toilette gewesen, nur um die Erkenntnis mitzunehmen, dass Mobilklos in Hawaii auch nicht viel schöner waren als hierzulande. Dann ab in die Wechselzone. Den Boliden eingecheckt, den Neo übergestreift und »Star-Spangled Banner« über sich ergehen lassen. Trotzdem Gänsehaut und rein in den Pazifik.

Das Schwimmtempo war schlichtweg geil, auf dem Rad erwischte er die legendären Rückenwinde, und den abschließenden Lauf in der Hitze absolvierte er unter ständiger Begleitung des Kamerateams diesmal knapp über drei Stunden. Dennoch war der Jubel riesengroß, als er unter der magischen Neun-Stunden-Marke ins Ziel kam. Einzig der Nacken schmerzte vom langen Radfahren. Der Betreuer schüttete ihm ein Bier vom Co-Sponsor über den Sixpack. Erschöpft ließ sich der Kenianer zu Boden sinken und schloss die Augen. Das Weib stürzte sich auf ihn, um zu gratulieren: »Super, du Windhund, wer hätte das gedacht? Du bist fantastisch! Komm hoch, die Typen vom Fernsehen wollen dich sprechen, danach kannst du ins Bett gehen…«

»…Komm hoch, dann kannst du ins Bett gehen. Komm schon, Kenianer, ab in die Falle. Komm hoch!«

Verstört blickte der Kenianer aus dem Sessel hoch. »Wo bin ich, was redet das Weib da? War sie nicht gerade noch auf Hawaii? Mein Nacken schmerzt!« Die Gedanken wirbelten durcheinander.

»Was ist denn hier passiert? Sag nicht, dass du mit der Bierflasche in der Hand eingeschlafen bist. Du hast ja das ganze T-Shirt versaut!«

Tatsächlich war ihm die Flasche umgekippt.

»Nein!«, schrie es in ihm. »Ich will nicht hier sein, das ist ein großer Regiefehler. Der Film spielt doch ganz woanders, irgendwo am Pazifik. Ich will die Fortsetzung! Und zwar auf der Stelle und für alle Zeiten. Ich will nicht übergewichtig im Fernsehsessel sitzen, mit Bier übergossen, einem besudelten T-Shirt und einem schmerzhaft blockierten Halswirbel aufgrund einer grenzdebil wirkenden Schlafposition.« Das Leben war so ungerecht…

»Alles in Ordnung, Kenianer? Du siehst irgendwie verstört aus…«

»Nee, nee, ist alles okay, ich war nur etwas weggenickt.«

Barfuß auf dem Dixi-Klo. Triathlongeschichten vom Kaiserswerther Kenianer.

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