Читать книгу Sind wir nicht alle ein bisschen tri? - Lars Terörde - Страница 10

Оглавление

Geburtstagsfreuden

Seinen Geburtstag beging er so, wie es Großstädter in ihren Vierzigern üblicherweise tun. Die Kinder waren bei Aufsichtspersonen, der Laptop hing an der Stereoanlage, und das Bierfass stand in der Küche. Es gab Häppchen und einen großen Topf Bio-Chilli con Bio-Carne. Danach Espresso, gewonnen aus glücklichen Kaffeebohnen, gepflückt von fröhlichen Landarbeitern mit Sozialversicherung. Immer weniger Raucher sammelten sich mit schlechtem Gewissen vor der Türe, und ab halb elf taten alle so, als ob sie noch achtzehn wären.

Es wurde wild getanzt, viel getrunken und ausgiebig Unzucht gespielt. Laszive Latte-Macchiato-Mamis gaben den Vamp, und die Männer zeigten das Selbstbewusstsein, das sie sich in vier Jahrzehnten mühevoll erarbeitet hatten.

Gegen zwölf war es so weit. Marius Müller-Westernhagen weckte die letzten Erinnerungen an eine wilde Jugend. »Mit Pfefferminz bin ich dein Prinz, mit Pfefferminz bin ich dein Prinz, mit Pfefferminz, mit Pfefferminz, mit Pfefferminz bin ich dein Prinz …« Das Wohnzimmer bebte. Der Kenianer hüpfte schweißnass zwischen Unternehmensberatern und Marketingfachfrauen auf und ab.

»Hey, mach mal: Mit achtzehn!«, befahl der Ortsgruppenvorstand der Freien Liberalen dem Herrscher über die Musikdateien. Dem allgemeinen Zustimmungsgejohle folgte die unangenehme Stille zwischen zwei Liedern.

»Geht klar! Wo habe ich das noch gespeichert?« Der Mann am Laptop suchte hektisch. »Ich habe es gleich!« Peinliche Ruhe vor dem Sturm.

Der Kenianer sehnte sich zurück nach den Zeiten, als man am Morgen nach einer durchzechten Nacht die CDs aus dem Abtropfeimer des Bierfasses fischen musste, als am CD-Player noch das Recht des Stärkeren den nächsten Titel bestimmte und mindestens sieben Hüllen kaputtgehen mussten, damit die Party als gelungen durchgehen konnte.

»Ich hab ein Luxus-Auto …« Die Menge formierte sich im Kreis. »… Ich hab ’ne tolle Wohnung … nur was mir fe-he-helt. Ja, was mir fe-he-he-helt. Das ist ’ne richtige Dröhnung!« Und ab ging die Post.

»Mit achtzehn rannt’ ich in Düsseldorf rum …« Der Abi-Jahrgang ’88 begann zu rocken. »… war Sänger in ’ner Rock’n’Roll-Band …«

»Wir verdienten vierhundert Mark pro Auftritt …« Ein Gast, der jeden Morgen seinen Sohn mit dreihundertzwanzig Pferdestärken zur Schulpforte kutschiert, kniete zur Luftgitarre am Boden und zuckte im Takt.

»Ich möchte zurück auf die Straße, möcht’ wieder singen, nicht schön, sondern geil und laut! Denn Gold find’ man bekanntlich im Dreck, und Straßen sind aus Dreck gebaut …«

Ja, Dreck und Straßen. Auch der Kenianer wollte wieder zurück. Zurück auf die Straße. Wenn auch nicht unbedingt im Westernhagenschen Sinne. Er wollte wieder zurück in den Sattel und auf die schmalen Reifen. Das Radfahren, es hatte ihm doch gefehlt.

Er war nüchtern geblieben und freute sich schon auf den nächsten Morgen. Aber: Wie sollte er seine Partygäste nur rechtzeitig loswerden? All die Leute, die sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren in so verschiedene Richtungen entwickelt hatten. »Bescheuerte Autovorlieben«, warf der Kenianer dem Freund vor, mit dem er einst durch Goa getrampt war. Der konterte mit »pathologischem Sportkonsum«, und danach hatten sie sich wieder lieb und schwelgten für wenige Stunden in alten Zeiten.

Die Sorge um zu späte Gäste, die nicht gehen wollten, löste sich bald von selbst. Im Gegensatz zu den wirklich wilden Partys der Jugend sind die Feste der Mittvierziger schnell vorbei. Babysitter, Bürokram, Gemeindefeste, Golftermine, akute oder drohende Kopfschmerzen sprengen die Gesellschaft spätestens gegen halb eins.

Ihm war es recht. Denn er hatte am nächsten Morgen einen Termin mit seinem Fahrrad. Viel zu lange schon hatte es beschäftigungslos im Keller gestanden. Doch jetzt endlich brannte in ihm wieder die Sehnsucht nach übersäuerten Muskeln und Unterzuckerung.

Es war sein Weib, das ihm den Sportsgeist zurückgegeben hatte. Zum Geburtstagsfrühstück hatte ein unscheinbarer Umschlag auf dem Tisch gelegen. »Wie immer ein Gutschein«, dachte er zunächst. »Hosen vielleicht?«

»Du brauchst neue Hosen. Irgendwie sind die alten alle eingelaufen«, hatte sie vor wenigen Tagen augenzwinkernd gesagt. Nicht nett, aber wahr. Doch es war kein Hosengutschein. Auch kein Kochoder Tanzkurs, mit denen Frauen gerne ihre Männer martern.

Der Briefkopf eines Radreiseveranstalters weckte sein Interesse. Gespannt begann er zu lesen. Und dann …

… verschlug es ihm den Atem. Unmöglich! Gott sei Dank, dass er schon saß. Taumelnd hing er über dem Eierbecher. Eine Alpenüberquerung! Mit dem Fahrrad. »Du spinnst!«, stammelte er und las gespannt weiter.

Da stand etwas von etlichen hundert Kilometern und sechstausend Höhenmetern an vier Tagen zwischen Tegern- und Gardasee. Er schluckte. Wie sollte er das schaffen?

»Wie soll ich das schaffen?« Er hatte doch schon so viel zugenommen.

»Ich habe doch schon so viel zugenommen.«

Sie grinste.

»Dann wirst du wohl mal wieder trainieren müssen.«

Blanke Angst oder nackte Freude? Er konnte sich nicht entscheiden. Was für eine Herausforderung! Gegenden, die er nur aus Sportübertragungen kannte. Steigungen, gegen die jede Tour durchs Düsseldorfer Umland lächerlich war. Das konnte er nicht.

»Das kann ich nicht!«

»Sicher kannst du das! Du hast noch fast ein Jahr Zeit. Stell dich mal nicht so an.« Sie hatte seine Zweifel erwartet und war vorbereitet: »Lance hatte erst Krebs und hat danach sieben Mal die Tour gewonnen. Du hast nur Übergewicht!«

Das war trotz aller Vorbehalte gegen den texanischen Tour-Dominator überzeugend. Er entschied sich zaghaft für Vorfreude und erkundete im Internet den Streckenverlauf.

Was für ein Geschenk! Mit einem Schlag war der Sport in sein Leben zurückgekehrt. Hatte er noch gestern gedacht, dass fünftausend Meter Laufen unglaublich viel ist und ein Schwimmbadbesuch vor allem ein zweifelhaftes Sonntagsvergnügen mit Kindern, so änderte dieser Umschlag alles.

Plötzlich konnte sich der Kenianer nicht mehr gedulden. In den frühen Morgenstunden nach seinem Geburtstag sattelte er sein verstaubtes Rad. Den Tacho klebte er aus Angst vor niederschmetternden Geschwindigkeiten vorsorglich ab. Er genoss den Wind und das Licht des Spätsommers auf dem Radweg am Rhein. Am Altstadtufer fanden sich nur noch einige frischverliebte Pärchen, die von der Nacht an der längsten Theke der Welt übriggeblieben waren.

Er wollte fahren. Er wollte seine Vorbereitung auf endlose Serpentinen in den Alpen beginnen. Ein Mal Leverkusen und zurück? Der Rückenwind machte ihm die Entscheidung zu leicht. Sicherlich war es nicht klug, ohne Training hundert Kilometer aus dem Ärmel zu schütteln, aber die leichten Tritte begünstigten die fatale Entscheidung.

»Ach was! Ich habe doch vor wenigen Monaten noch Triathlon-Strecken unsicher gemacht, die länger waren. Da kann doch eine Sonntagsfahrt am Rhein kein Problem sein!«, beschloss er.

Zwei Stunden später leuchtete ihm das strahlende Kreuz des Südens entgegen. Das Logo des Chemiegiganten markierte seine Wendemarke.

Das Café mit Rheinblick bestätigte die Regel, dass schöne Aussicht und guter Kuchen nicht zusammen zu bekommen sind. Aber er brauchte Kalorien, um wieder nach Hause zu kommen.

Nachdem er die Rheinseite gewechselt hatte, machte er sich auf den Rückweg und bekam schnell die Quittung für die beschwingte Hinfahrt.

In Worringen, wo sich 1288 der Erzbischof von Köln und Johann von Brabant bekämpft hatten, schlug er seine Schlacht mit den Elementen. Verdammter Wind! Verdammte Kilometer! »Wie konnte ich nur so blöd sein, untrainiert hundert Kilometer fahren zu wollen!« Er verfluchte sich und seinen Übermut. Verzweifelt kalkulierte er Taxipreise. Das Ergebnis seiner Berechnungen aber ließ ihn auf dem Zahnfleisch weiterfahren.

Und was waren schon ein paar Kilometer Gegenwind gegen Alpenpässe? Nur ein schwacher Vorgeschmack auf das, was ihn in einigen Monaten erwarten würde. Mit weichen Beinen und leerem Magen kam er zu Hause an, wo das Weib in vorausschauender Fürsorge die Reste des Geburtstagskuchens gerettet hatte. Gegen alle Trainingsregeln war er aus dem Nichts hundert Kilometer gefahren. Aber er hatte es geschafft. Das war sein Anfang!

Nur noch halb lebendig schleppte er sich unter die Dusche und träumte von einer Form, mit der er über die Alpen kommen würde.

Sind wir nicht alle ein bisschen tri?

Подняться наверх