Читать книгу Sind wir nicht alle ein bisschen tri? - Lars Terörde - Страница 13

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Nackt im Netz

Es ist noch nicht lange her, da bestand das Abendvergnügen des Kenianers noch aus wenigen Fernsehkanälen, und die Parallelwelt des Internets war ihm herzlich egal. So einen Unsinn würde er gar nicht erst anfangen. Das hatte er sich auf seine mittelalten Tage geschworen. »Wie muss man drauf sein, um sich einfach so mit wildfremden Menschen zu verabreden? Warum stellen Leute Partyfotos von sich ins Internet?« Facebook, Second Life und YouTube waren für ihn fremde und verschlossene Welten. Und das war auch gut so. »Ich kann mir meine Zeit auch besser stehlen!«, hatte er damals noch behauptet.

Die Homeoffice-Zeit des Weibes bescherte ihm dann ungewollt einen Zugang zum Netz. Ohne viel Begeisterung suchte er hin und wieder nach neuen Informationen zu Triathlon-Veranstaltungen. Später dann meldete er sich gar per Online-Registrierung zu Wettkämpfen an, obschon ihm die Herausgabe seiner wertvollen Kontodaten an Sportvereine zunächst noch beinahe körperliche Schmerzen bereitete.

Eines Tages aber, da berichtete ihm ein Laufbekannter von wundersamen und wirklich nützlichen Dingen in den virtuellen Weiten des Netzes. »Du kannst auf einer Internetseite deine Laufstrecken auf Satellitenbildern vermessen.« Oh, Wunder der Moderne! Triumph der Technik! Er war begeistert. Das würde das Ende all seiner heimlichen Zweifel an Streckenlängen bedeuten. Endlich brauchte er nicht mehr jeden Lauf mit dem Fahrrad nachzufahren, um metergenau die zurückgelegte Entfernung zu ermitteln.

»Alles, was du machen musst, ist, dich anzumelden …«

»Anmelden? Ist das nicht gefährlich? Was machen die mit meinen Daten? Ehe ich mich versehe, habe ich siebzehn Klingeltöne abonniert und drei Kaffeefahrten gebucht«, fürchtete er. Er tat es trotzdem. Zu verlockend war dieser Meilenstein menschlichen Fortschritts, als dass er ihm entgehen dürfte.

Es dauerte nur wenige Wochen, und er hatte all seine jemals gelaufenen Strecken erfasst. Sogar die Urlaubsläufe in Portugal. Bis auf zwei Stellen nach dem Komma wurde der Abstand zwischen zwei Wegpunkten angegeben. Freundliche Satelliten machten Bilder von Wegen, Pfaden, Wäldern und Seen und verlockten ihn bald, das anonyme Medium noch auf andere Weise zu nutzen. Es war der Einstieg in das erste Tagebuch seines Lebens, das er länger als drei Wochen führen sollte …

Im zarten Alter von siebzehn waren die hehren Vorsätze einer täglichen Aufzeichnung seiner Interrail-Erlebnisse quer durch Europa schnell den Verlockungen wechselnder Bekanntschaften zum Opfer gefallen. Zwischen schlaflosen Stunden am dunklen Strand von Lagos und der Nacht in einem Gepäcknetz des spanischen Fernzugs war das Schreiben auf dem Notizblock nach und nach zu einer lästigen Pflichtaufgabe verkommen, bis er ganz darauf verzichtet hatte. Jetzt aber sah es anders aus.

Tag für Tag wuchs die Liste seiner Trainingsprotokolle, die er ins Netz stellte. Grundlegenden Daten wie der Streckenlänge und der Laufzeit ließen sich noch weitere Merkmale der Trainingseinheit hinzufügen. Der Hinweis auf das gewählte Schuhmodell und Notizen zur Laufstrecke machten aus jedem Datumseintrag eine Erinnerung.

Und wenn er nicht sicher war, dass ihm die immer gleiche Beschreibung der absolvierten Route die passende Erinnerung an den Tag bescheren würde, dann fügte er dem Tagebucheintrag noch stichpunktartig weitere relevante Ereignisse hinzu: Hunde beim Liebesspiel am Baldeneysee; ein Sturz über eine Baumwurzel mitsamt einer unschönen Schürfwunde; der Weg, der im dornigen Unterholz im tiefen Wald endete; die unbequeme Toilettenpause im Dünengras ohne Papier; die aggressive Möwe am Nordseestrand; die lebensrettende Schokowaffel am Rheinkiosk; das Schneetreiben am Neujahrstag.

Aber das Internet hatte Läufern noch mehr zu bieten als nur die Möglichkeit, online ein Trainingstagebuch zu führen. Kilometerranglisten! Damit konnte er seine Laufleistung mit der anderer Nutzer vergleichen. Das führte dazu, dass ihn der Wettkampf mit gänzlich unbekannten Menschen zu Unzeiten auf die Straße trieb. Wer wollte schon im täglichen Vergleich hinten liegen? Monatelang lieferte er sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit einem Nicknamen, hinter dem sich vieles verbergen konnte. Ein kerniger Naturbursche? Ein halbprofessioneller Sportler? Oder aber ein arthritischer Opa? Er weiß es bis heute nicht. Zumindest die Freude am Laufen und an heimlichen Wettkämpfen teilten sie. Gegen Ende des Jahres hatte der Kenianer die Nase knapp vorn. Und plötzlich fand sich in seinem elektronischen Postfach ein Glückwunschschreiben mit dem Hinweis, dass der Absender »die verschärfte Kilometerleistung des Kaiserswerther Kenianers im Herbst nicht mehr mitgehen konnte«.

Dabei hatte er seinem Kontrahenten zwischenzeitlich schon alle Schlechtigkeit der Welt angedichtet. »Möglicherweise sitzt da irgendwo ein pizzafutternder Computer-Nerd zwischen leeren Bierflaschen und will mich nur ärgern«, hatte er mehr als ein Mal gedacht, wenn am Ende eines Tages plötzlich wieder ein neuer Laufeintrag des Gegners aufgetaucht war und ihn ins Hintertreffen gebracht hatte. Um sicherzugehen, hatte er eines Tages eine Fantasieleistung eingetragen. Würde der andere auch hundert Kilometer in wenigen Stunden aufholen können? Er tat es nicht. Und das verlieh dem Wettkampf fortan noch mehr Ernst. »Der spielt ja ehrlich«, dachte der Kenianer und löschte – von seinem Gewissen geplagt – den erfundenen Hunderter.

Doch letztlich waren diese Spielereien nur ein erster Schritt in die wirklich zeitraubende Welt der Netzathleten. Blogs! Wo jedermann und -frau Gelegenheit hat, die Online-Welt an den eigenen Gedanken zum Laufsport und zum restlichen Weltgeschehen teilhaben zu lassen. Hier war der Kenianer inzwischen zum eifrigen Leser geworden. Verfolgte Geschichten vom ersten Lauf über fünf Kilometer und von der letzten Zigarette nach 35 Jahren Abhängigkeit, vom siebten Marathon in vier Wochen und von den ignorantesten drei Hundebesitzern der letzten Monate. Sportlergeschichten aus dem wahren Leben. Von schlicht bis spannend, von traurig bis erheiternd. Geschichten, die er lesen wollte, von Menschen, mit denen er eine Leidenschaft teilte.

Und irgendwann zeigte er Zivilcourage. »Misch dich ein. Erheb dich aus der schweigenden Masse«, sagte er sich, schrieb mit zitternden Fingern seinen ersten Kommentar und trat den eigenwilligen Meinungen einiger Netzmitglieder zur Behandlung von Muskelverletzungen entgegen. Damit war die nächste Hürde gefallen. Kommentare. Streit und Versöhnung. Glückwunsch- und Beileidsbekundungen. Meist aber hinterließ er Äußerungen mit dem augenzwinkernden Hinweis, dass hinter den schnöden Zeilen womöglich viel mehr Geist steckte, als man auf den ersten Blick vermuten könnte ;-).

Wenn er nach einem Lauf ins Wohnzimmer zurückkehrte, führte ihn sein erster Gang bald nicht mehr zum Kühlschrank. Der Rechner wurde schon angestellt, bevor der Erholungspuls erreicht war. Immer mehr gierte er nach Dialogen mit Menschen, denen er bisher noch nie begegnet war.

»Was machst du da eigentlich schon wieder am Rechner? Kannst du das blöde Ding nicht mal auslassen?«, klagte das Weib.

Er murmelte pflichtschuldig etwas wie »nur ganz kurz den Lauf eintragen …« und beobachtete selbstsüchtig die Kommentare zu den großartigen Schilderungen seiner Lauferlebnisse.

Es hatte kein halbes Jahr gedauert, und aus ihm, dem einstigen Internet-Verweigerer, war jemand geworden, der ungehemmt seine Ferientermine und -orte in die Welt hinausposaunte, Fotos und Filmberichte seiner Heldentaten veröffentlichte und sich letztlich sogar in äußerst knapper, körperbetonter Kleidung mit Internet-Bekanntschaften auf abgelegenen Waldparkplätzen traf, um sich mit Endorphinen vollzupumpen und das Date mit der besorgten Frage zu beenden, ob das Tempo gut gewesen sei.

Sind wir nicht alle ein bisschen tri?

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