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Das Joschka-Syndrom

Auch drei Wochen nach der Rückkehr aus dem Wohlfühlparadies für Stadtmenschen standen seine Laufschuhe noch immer unangetastet im Schrank. Der Dreck des letzten Wettkampfs klebte einsam unter den Sohlen. Seit diesem Tag hatte er keinen richtigen Sport mehr betrieben. Die Fettverbrennungseinheit unter vollbusiger Pulsdiktatur würde er auch bei bestem Willen nicht mit dem Begriff »Sport« in Verbindung bringen wollen. Zu echter, weil anstrengender und schweißtreibender Körperertüchtigung konnte er sich einfach nicht mehr aufraffen. Wozu auch? Hatte er nicht sich und allen anderen gezeigt, zu welchen Großtaten er fähig war? Er hatte eine Langdistanz absolviert! Was wollte er mehr?

Noch eine Zeit lang präsentierte er seine Wettkampfergebnisse jedem, der nicht schnell genug das Zimmer verlassen konnte. Doch Freunde und Kollegen zeigten sich zunehmend genervt von seinem Triathlon-Latein. Immer häufiger entzogen sie sich seinen Erläuterungen mit Hinweisen auf »das Archiv, wo ich dringend noch was holen muss«, oder »den Sohn, der schnell noch zum Töpferkurs gebracht werden möchte«. Was aber immer noch besser war als die Frage, ob er »Alzheimer, oder was?« hätte, weil er das »ja gestern schon« erzählt habe und »das mit der Wahnsinns-Endbeschleunigung« inzwischen wirklich »jeder hier im Haus begriffen hat«. Ja, so war das mit der Vergänglichkeit des Ruhms.

Es kam noch schlimmer. Nach und nach verlor er sogar selbst die Lust an seinen Wettkampferinnerungen. Ganz zu schweigen von der Freude an satellitenüberwachter Bewegung und dem Streben nach besseren Durchschnittsgeschwindigkeiten. Es wurde ihm zunehmend egal. Er fand Pulskurven unwichtig und Ergebnislisten nach der hundertsten Kontrolle langweilig. Selbst sein Lieblings buch, der tonnenschwere Katalog des Radsportversands, lag schon seit Wochen unberührt auf dem Nachttisch. Das war das letzte, untrügliche Zeichen, dass er sich auf dem Weg in die große Sportler-Depression befand. Litt nun auch er am gefürchteten »Joschka-Fischer-Syndrom«?

Mit diesem Begriff beschreibt der Sportwissenschaftler Hans Stollenwerck jenen Läufertypus, der nach einigen erreichten Zielen wieder in seine alten Verhaltensmuster zurückfällt und sich vom kurzfristig und exzessiv betriebenen Sport wieder abwendet. Normalerweise betrifft dies vor allem »Ein-Mal-Eventsportler«: Menschen, denen vor einem Jahr plötzlich klar geworden ist, dass ein teurer Wettkampf mit prominentem Label eigentlich ihr langgehegter Lebenstraum ist. Zwölf Monate lang stellen sie ihr Leben auf den Kopf. Exklusive Schwimmseminare werden gebucht, und das Rauchen wird von heute auf morgen zu Gunsten eines Dreierzugs eingestellt. Aktienfonds werden abgestoßen, um einen Carbonrenner anzuschaffen, auf dem sie ihre verschütteten Radfahrerfahrungen aus Erstsemesterzeiten wachrufen können. Die Flaute in der Agentur kommt plötzlich wie gelegen, bietet sie doch Zeit zu ausgiebigen Trainingseinheiten. Akribisch arbeiten sie den Trainingsplan ab, der ihnen von einem Personal Coach im Anschluss an einen spirometrisch unterstützten Laktattest auf den Leib geschrieben wurde.

Auf den letzten Metern ihres großen Tages begreifen die »Ein-Mal-Eventsportler« dann, dass ihr Ziel erreicht ist. Ein Jahr außergewöhnlicher Marter hat sie zu diesem Moment geführt. Und bevor sie vor lauter Selbstergriffenheit weinend zusammenbrechen, schleifen sie die Kinder fürs Beweisfoto über den Zielstrich und widmen den Lauf ihrem Lebenspartner – in völliger Fehleinschätzung der ehelichen Belastungen durch eine mehrmonatige Wettkampfvorbereitung.

Und nun …? Was kommt jetzt? »Schmerz vergeht, Stolz bleibt!«, ist ein beliebter Motivationsspruch für Ausdauersportler. »Leistungsfähigkeit vergeht, Kalorienbedarf bleibt!«, orientiert sich leider näher an der Lebenswirklichkeit.

Der Körper signalisiert, dass der Wettkampf ein ernährungsphysiologischer Notfall war, für dessen erneutes Auftreten er in Zukunft mit ausreichenden Reserven gewappnet sein will. Mit Chips, Mohnstriezeln und Hefeweizen befrieden die Event-Sportler nun ihre Ur-Instinkte und gewinnen schnell wieder an Gewicht und Trägheit. Im trügerischen Glauben, endlich selbst so eine Sportskanone zu sein wie das talentierte Nachbarkind, das früher immer als leuchtendes Beispiel herhalten musste, machen sie erst mal Pause.

»Bald fange ich wieder an. Aber nicht heute und auch nicht morgen.« Schon nach wenigen Wochen ist die Form im Keller. Zaghafte Laufversuche führen nur zu neuerlicher Frustration. Langsamer und erschöpfter als zuvor schleppen sie sich nach Hause und füllen die Leere des Feierabends erst mal mit einem Bier. Spätestens mit dem zweiten kommt der hehre Vorsatz, ab morgen wieder richtig zu trainieren.

Am nächsten Tag beginnt der Kampf von neuem. Nach wenigen Monaten in dieser Abwärtsspirale sieht der Event-Sportler aus wie Joschka Fischer wenige Jahre nach seinem beeindruckenden Marathondebüt. (Anm.: Der Ehrlichkeit halber sei erwähnt, dass der ehemalige Außenminister kein »Ein-Mal-Sportler« gewesen ist. Er hat es immerhin auf drei Marathon-Teilnahmen gebracht.) Ganz so weit war der Kenianer zwar noch nicht, aber ein kleines Stück dieses vorgezeichneten Weges war auch er schon gegangen. Er nahm zu, die Form nahm ab, und Sport machte ihm keinen rechten Spaß mehr.

Das Weib sah es mit Sorge. Eine Zeit lang hatte sie gehofft, dass weniger Sport mehr Familienleben bedeuten würde. Doch sie hatte sich getäuscht. Dass er immer mehr Ähnlichkeit mit einem korrupten afrikanischen Staatenlenker als mit einem gazellengleichen Wunderläufer bekam, war ihr egal. Aber dass ihr Mann mit weniger Trainingszeit zu einer übellaunigen Sofakartoffel wurde, ging ihr kräftig gegen den Strich. Was war das denn für ein Vorbild für den Sohnemann? Sie grübelte, wie sie ihn wieder in sportliche Bahnen lenken könnte. Doch ihr vorsichtiger Hinweis auf das schlechte Beispiel des ehemaligen Außenministers brachte keinen Erfolg. Im Gegenteil. Es gab einen Streit, der in seiner Anspielung auf die vier Ehen des Herrn Fischer gipfelte. »Da habe ich ja noch ordentlich was nachzuholen …«

So konnte es nicht weitergehen, beschloss sie. Lieber einen Triathlon-Junkie mit wenig Zeit für gemeinsame Sonntagsausflüge als eine Couch-Potato im Haus. Und da sein Ehrentag näherrückte, fragte sie sich, ob ihn vielleicht das richtige Geschenk auf den Pfad der Körperertüchtigung zurückbringen würde.

Aber was könnte das sein, das richtige Geschenk?

Nur keine Ausrüstung, so viel stand fest. Unmengen von Funktions-Shirts und Laufhosen quollen längst aus allen Winkeln des Kleiderschranks. Und Stützstrümpfe oder Schwimmpaddels boten noch lange nicht die Gewähr, dass er sich aus dem Sessel erheben würde.

Doch dann dämmerte es ihr langsam. Hatte er nicht einmal etwas erzählt von Heldengeschichten auf mäanderndem Asphalt? Von grandiosen Herausforderungen, einmaligen Naturerlebnissen und den letzten Prüfungen, die das Leben für zivilisationsgeplagte Stadtmenschen bereithielt? Ja, sie wusste, was sie tun würde. Mit einer Idee im Kopf machte sie sich auf die Suche …

Sind wir nicht alle ein bisschen tri?

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