Читать книгу Sind wir nicht alle ein bisschen tri? - Lars Terörde - Страница 11

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Gruppenzwänge

Es gibt viele Dinge, die schlimmer sind, als nach langer Pause wieder aufs Rennrad zu steigen. Aber eines dieser Dinge ist, nach langer Pause wieder mit dem Laufen zu beginnen. Die Schwerkraft schlägt gnadenlos zu, weil keine Kugellager zwischen dem Sportler und der Erdanziehung wirken. Und nur zwei leichte Sportschuhe dämpfen den einsamen Kampf gegen die Physik.

So waren Puddingbeine, Schmerzen und Muskelkater vorprogrammiert, als der Kenianer nach mehreren Wochen Abstinenz die Laufschuhe schnürte. Das wusste er. Deshalb wollte er beim Neuanfang auf keinen Fall bekannte Gesichter. Er wollte keine mitleidigen Blicke der Nachbarn und vor allem keine Läufer aus seiner Heimat, die ihn überraschend überholen würden. »Kommt nicht in Frage! Wie sieht das denn aus, wenn all die Fußkranken aus meinem Hausrevier auf einmal schneller sind als ich?« Nein, auf seiner Hausrunde würde er erst wieder laufen, wenn er sich im Fünfer-Schnitt unterhalten könnte.

Er fuhr zur Duisburger Regattabahn. Dort waren immer massenhaft Sportler unterwegs. Selbst in schlechter Form würde er hier noch einige langsamere Läufer finden. Und wenn es nur der Ü60-Lauftreff der katholischen Frauengruppe wäre, der sein geschundenes Ego aufbauen sollte. Denn auch wenn er es ungern offen zugab: Überholen war ihm wichtig. Mal wortlos mit starrem Blick nach vorne, mal mit einigen überheblichen Worten der Aufmunterung auf den Lippen. »Ich laufe dann mal mein Tempo weiter. Du weißt schon, ich will meinen Rhythmus nicht verlieren …« Besser ließ sich ein Läufer-Smalltalk nicht beenden.

In der Hoffnung auf viele Überholvorgänge parkte er am schönen Sportpark Wedau und machte sich auf den Weg zur beleuchteten Laufstrecke an der Regattabahn. Fünf markierte Kilometer, die Läuferherzen höher schlagen lassen.

In der Dämmerung startete er in den Herbstabend. Doch wo war sein Tempogefühl? Wo sein Rhythmus? Wohin die Leichtigkeit seiner Schritte? Alles war weg. Verloren in den letzten drei Monaten. Ausgedünstet in die Sofakissen. Die ersten Meter fühlten sich an, als ob er noch nie zuvor gelaufen wäre.

Mühsam kramte er gerade das Laufprogramm aus den Tiefen seines motorischen Gedächtnisses, als auch schon eine Gruppe gemächlicher Läufer vor ihm auftauchte. »Hervorragend! Sicher alte Männer beim pulsgesteuerten Koronarsport.« Er drückte den Rücken durch und betätigte die Läuferhupe. Kräftig ließ er den schweren Laufschuh ein Mal über den Schotter schleifen.

Der letzte Läufer blickte sich verschreckt um. »Ey Jungs, macht mal Platz, Laufgranate von hinten!« Allgemeines Gekicher. Er platzte vor Stolz, als sie ihm die Gasse öffneten. So schnell hatte er gar nicht auf Triumphe gehofft. »Tag, die Herren!«, rief er großmütig. »Immer schön auf den Puls achten …« Seine Form hatte mehr gelitten als die große Klappe.

»Hallo, Kenianer! Wie schön, dass du endlich mal mitmachst. Bist zwar ein bisschen spät, aber wir sind sowieso noch beim Einlaufen.«

»Hallo Kenianer«? Hatte er richtig gehört? Wer in aller Welt hatte ihn hier in der fremden Stadt erkannt? Jetzt erst bemerkte er ihn. Aber nun war es zu spät …

Bernd! Früher hatten sie gemeinsam Fußball gespielt. Bernd war der Schrecken aller lokalen Stürmergrößen. Ein zäher und ausdauernder Wadenbeißer, Knöcheltritte knapp über der Grasnarbe waren seine Spezialität.

Seit einigen Jahren aber war aus ihm ein friedlicher, vereinsorganisierter Triathlet geworden. Und immer, wenn sie sich über den Weg liefen, pries er die Vorzüge seiner Trainingsgruppe: »Wir ziehen uns gegenseitig hoch. Haben mehr Spaß am Wettkampf und lassen es im Trainingslager in Spanien ordentlich krachen. Komm doch auch mal vorbei …«

Nun, vor allem die Sache mit der Woche auf »Malle« klang natürlich verlockend, aber nach den vielen Jahren bierernsten Amateurfußballs wollte der Kenianer sich nicht mehr auf fremdbestimmte Wochenpläne einlassen. Und die Trainingswoche auf Mallorca würde sicher nicht auf Gegenliebe des Weibes stoßen. So hatte er stets fadenscheinige Ausreden gefunden, warum er dienstags nicht zur gemeinsamen Laufrunde an der Regattabahn kommen konnte: »Überstunden machen. Die Firma braucht mich. Leider! Sonst immer gerne.«, »Der Sohnemann ist krank!«, »Ich habe einen Termin zur Atemgasanalyse und Leistungsdiagnostik.« …

Und plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Was war heute noch mal für ein Tag? Richtig, Dienstag! Und welchen Ort hatte er sich ausgesucht, um bekannten Gesichtern aus dem Weg zu gehen? Ausgerechnet die Regattabahn! Wie sollte er aus der Nummer bloß wieder rauskommen? Vielleicht einen spontanen Milzriss vortäuschen? Belastungsasthma? Eine Wadenzerrung? Oder gar die Wahrheit sagen? Dass er gar nicht in Form war und nur zufällig hier? Nein, Schwäche zu zeigen, war seine schwerste Übung und kam nicht in Frage. Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss.

»Klar. Ich wollte doch mal sehen, was ihr so macht! Was steht denn heute auf dem Trainingsplan?«

Vielleicht sah das Programm ja nur einen gemütlichen Regenerationslauf vor. Genau das Richtige für einen Herbstlauf nach einer langen Saison. Doch diese Hoffnung musste er schnell begraben.

»Fahrtspiel«, erklärte Bernd. »Einer darf drei Minuten bestimmen, dann fünf Minuten locker traben, dann der Nächste, wieder Trabpause und so weiter.«

Fahrtspiel! Die Wundertüte des Lauftrainings. Rasche Variation als Prinzip. Und als Grundvoraussetzung eine Bereitschaft zu außergewöhnlichen Übungen, von der man sonst höchstens in fragwürdigen Kontaktanzeigen liest: »Nichts muss, alles geht!«

Alleine wäre so was ja durchaus okay. Aber unter dem Druck von zehn Kerlen in ihren vermeintlich besten Jahren schwante ihm Übles. Denn moderne Männer machen sich das Leben unnötig schwer. Anstatt den Status in der Gruppe schlicht an der Körperkraft festzumachen, müssen inzwischen andere Kriterien her. Sei es die kumulierte PS-Zahl des Fuhrparks in der Garage, das Jahresgehalt, die Zahl der Google-Treffer für den eigenen Namen … oder auch – in der Welt laufender »Best Ager« ganz entscheidend – die Tempofestigkeit. »Wie lange und wie hart?«, bestimmt hier die Hackordnung.

»Kein Thema!«, hörte er sich sagen. »Wer fängt an?«

Im Geiste überschlug er, was ihn erwartete: drei Minuten intensiv, dann fünf Minuten besseres Spazierengehen, und das ganze mal zehn. In knapp anderthalb Stunden würde er aus diesem Alptraum heraus sein.

Ein fantasieloser Windhund zog das Tempo an. »Drei Minuten im Vierer-Schnitt«, lautete die Ansage. Sie hetzten im Gruppenverband die Schotterwege an der Regattabahn entlang, und es dauerte keine fünfzig Meter, bis der Laufcomputer des Kenianers lautstark »Pulsalarm« meldete. Vernichtende Blicke voller Mitleid trafen ihn. In der fünfminütigen Erholungspause bemühte er sich um seine Läuferehre.

»Sorry, Leute. Das war noch die Pulsobergrenze, die ich am Tag nach der Langdistanz zum Auslaufen eingestellt hatte.« Sie nahmen es ihm ab.

»Gott sei Dank gibt es an der Regattabahn keine Steigungen«, dachte er gerade, als ausgerechnet Bernd das Wort erhob: »Sollen wir nicht zur Sechs-Seen-Platte rüberlaufen, da können wir einige Hügel mitnehmen. Wir wollen unserem Gast doch etwas bieten, oder?«

Es traute sich keiner zu widersprechen. Verdammt! Worauf hatte er sich da bloß eingelassen? Horst befahl kurze Sprints auf den Aussichtshügel.

Fünf Minuten lockeres Traben reichten, um die Gruppe unheilvoll nah zur gelben Fußgängerbrücke zu führen. Hoch und steil ist sie, damit Freizeitkapitäne mit ihren Segelbooten unter ihr durchkreuzen können. Er ahnte, was kommen musste. Bernd war dran. Zwei Mal volles Tempo hin und zurück, hoch auf die Brücke und wieder runter! Solche masochistischen Spiele hatte er schon in der Saisonvorbereitung als Fußballer immer genossen. Auf dem Weg hinauf brannte die Lunge, auf dem Weg hinab die Oberschenkel. Milchsäurensatt hatte er fünf Minuten Zeit, sich auf die nächsten Schrecken vorzubereiten.

Rüdiger hatte an der Brücke erkennbar geschwächelt. Der Kenianer hoffte auf Milde. Doch vergebens. »Fünf Meter Abstand zum Vordermann. Fünfer-Schnitt, und dann spurtet immer der Letzte an die Spitze.«

Nach den drei Minuten war ihm speiübel. Tröstlich war lediglich, dass keiner mehr wirklich gut aussah. Aber niemand wollte sich eine Blöße geben und als Erster aufgeben. Und so ging es weiter mit Bockspringen, Slalomlaufen, Skippings und Antritten mit Partner auf dem Rücken. Willkommen im Boot-Camp für Erwachsene.

Alte Männer drillten sich im Kampf gegen die Zeit. Für eine kurze Unterbrechung der Qualen sorgte Kurt, der sich zuvor schon zwei Mal zum Pinkeln verabschiedet hatte. »Lauf-ABC für die Koordination!«

»Pah, Schwächling!« Der Kenianer dankte dem Himmel für die verlängerte Ruhepause, versuchte aber, einen gelangweilten Gesichtsausdruck aufzusetzen. Zum Schluss war es an ihm, der Gruppe den Rest zu geben. Er hatte sich etwas Besonderes ausgedacht.

»Simulierte Zweikämpfe. Spurt zwischen den Bäumen. Volles Wettkampftempo!«

»Hä? In den Wald? Runter vom Weg?« Kurt hatte den Ernst der Lage noch nicht begriffen.

»Na, klar! Das ist doch kein ordentliches Fahrtspiel, wenn ihr nicht ein Mal den Untergrund gewechselt habt!« Der Kenianer kannte die Regeln der Lehrmeister aus dem Effeff. Strafend blickte er in die Runde. »Wechselnde Untergründe und Unebenheiten gehören dazu! Aber bitte! Wer nicht mehr kann, darf gerne schon mal mit dem Dehnen anfangen …« Mehr brauchte es nicht, um die Gruppe zu überzeugen.

Zehn Triathleten sprinteten in den Wald, als wenn hinter jedem Baum ein Gratisrennrad aus Carbon auf sie wartete. In vollem Tempo stürmten sie auf die Bäume zu, als handelte es sich um Slalomstangen oder englische Verteidiger. Kurt schrie auf und sank theatralisch zu Boden wie Andi Möller im Karlsruher Strafraum. Eine ernsthafte Verletzung oder nur eine erneute Jahrhundert-Schwalbe? Der Rest ließ sich nicht aufhalten und stob weiter in alle Himmelsrichtungen auseinander.

Lediglich der Kenianer blieb stehen. Für ihn bot sich die Gelegenheit, unbeobachtet hinter einem Busch den Puls zu beruhigen. Er fühlte sich sowieso schon erbärmlich, da konnte er auf die abschließenden Spurts bestens verzichten.

Nach drei Minuten sammelte sich die Gruppe wieder auf dem Weg. Kurt jammerte über seinen geschwollenen Knöchel, und der Rest der Truppe trabte mit Schuhprofilen voller Hundedreck zurück zum Parkplatz.

»Super Idee, Kenianer! Querfeldein hatten wir bisher noch nie! Kommst du nächste Woche wieder?«

»Ganz bestimmt nicht!«, schoss es ihm spontan durch den Kopf.

»Nee, Bernd, leider nicht! Ich muss demnächst dienstags immer lange arbeiten. Der Dienstplan wurde umgestellt. Echt schade, denn es hat mir wirklich Spaß gemacht. So ein Fahrtspiel ist echt eine prima Abwechslung zwischen den ganzen harten Tempoläufen. Aber es geht wirklich nicht.«

»Schade, Kenianer. Du bist immer willkommen!«

»Danke! Tschüss zusammen!«

Unter anerkennendem Gemurmel wankte er davon. »Echt Klasse in Form, der Kerl! Hat zum Schluss ordentlich einen draufgesetzt!«

Wenn sie nur geahnt hätten, wie es wirklich in ihm aussah. Ihm war hundeelend. Viel zu viel hatte er sich zugemutet. Wochenlang hatte er nur gefaulenzt und gefuttert und nun mit dem ersten Lauf direkt ein absolutes Härtetraining absolviert.

Mit jedem Schritt von der Gruppe weg entglitten ihm die Gesichtszüge. Seine Maske fiel, als er außer Sichtweite war. Nein, es war nicht im Sinne der höheren Trainingslehre, das Ego an einer Gruppe Gleichaltriger zu testen. »Nie mehr im Leben werde ich dienstags an der Regattabahn auftauchen!«, nahm er sich fest vor. Kurz bevor er sich heftig in die Büsche erbrach.

Sind wir nicht alle ein bisschen tri?

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