Читать книгу Sind wir nicht alle ein bisschen tri? - Lars Terörde - Страница 6
ОглавлениеCross ist krass!
Endlich ein Wettkampf, zu dem sie ihn überreden musste. Auf der Website des Fremdenverkehrsvereins hatte sie von der Veranstaltung gelesen. »Ein Triathlon auf Ameland? Da müssen wir hin.«
Für einen Ausflug auf ihre holländische Lieblingsinsel nahm sie auch in Kauf, dass ihr Mann einen ganzen Tag mit Sporttreiben beschäftigt sein würde. Nicht, dass er für eine Kurzdistanz so lange brauchen sollte. Er war zwar wenig talentiert, aber mehr als einige Stunden würde selbst er für diese Distanz nicht benötigen. Trotzdem wusste sie genau, dass ein solcher Wettkampftag in aller Frühe mit einem ausgewogenen Frühstück beginnen und erst spät in der Nacht mit einem stöhnenden und krampfgeplagten Mann im Doppelbett enden würde. Und dazwischen würde er siebzehn Mal seine Tasche kontrollieren, immer wieder die Toilette blockieren und der ganzen Familie mit Verpflegungsanweisungen auf die Nerven gehen. Dennoch: Für einen Kurztrip an die Nordsee würde sie sich das alles gerne gefallen lassen.
»Warum sind wir da noch nie gewesen, Kenianer?«, fragte sie fast vorwurfsvoll. »Du weißt doch, wie gerne wir dorthin fahren. Selbst für ein Wochenende …!«
Was sollte er sagen? Vielleicht die Wahrheit? Dass ihn 36 Kilometer kurze Radstrecken nicht interessierten? Dass es doch kein richtiger Triathlon war, weil man nur mit breiten Reifen fahren durfte? Dass Veranstaltungen, die keine fünfzig Euro kosteten, keine ernstzunehmenden Wettkämpfe sein konnten? Dass der Termin nicht in seine Saisonplanung passte? Aber das würde sie bestimmt nicht verstehen.
»Ist mir bisher noch gar nicht aufgefallen, dass es dort einen Triathlon gibt. Aber wenn du möchtest …! Bitte – fahren wir halt hin.« An einem Triathlon teilzunehmen, gehörte definitiv zu den leichteren Gefallen, die er ihr tun konnte.
Sie hatte den Internet-Auftritt der Veranstaltung gefunden. »Cross-Triathlon? Was bedeutet das eigentlich?«
Das könnte sie doch eigentlich wissen. Zwar trieb sie selbst keinen Sport, aber der ständige Umgang mit einem Ehemann, der die Wohnung mit Magazinen zum Ausdauersport pflasterte, hatte auch ihr bereits ein gewisses Fachwissen vermittelt.
»Ist eigentlich alles normal«, erklärte er, »außer dass man mit einem Mountainbike fahren muss.«
»Aber du hast doch gar keins.«
»Ist kein Problem. Kann man auf der Insel leihen.«
Sie öffnete die Streckenbeschreibung. Eine blaue Linie auf einem Satellitenbild markierte den Verlauf der Radstrecke.
»Wo fahren die da?« Sie deutete auf die Karte. »Da sind doch gar keine Wege.«
»Ach, da sind vermutlich nur die Linien etwas verrutscht. Das muss an unserem Browser liegen. Die fahren bestimmt auf den Radwegen aus Muschelkalk und dann am Strand zurück«, behauptete er voller Überzeugung.
Doch leider trog sie ihn, die Überzeugung. Denn es lag nicht am Browser. Die Linie war nicht verrutscht, und die Radstrecke verlief wirklich auf Wegen, wo gar keine Wege waren, und am Ende würde ihm jeder Meter der Strecke zu viel sein. Auf brutale Weise sollte er den Unterschied kennenlernen zwischen gängigen Triathlons auf glattem Großstadtasphalt und der Cross-Variante der Sportart auf einer rauen und windigen Nordseeinsel.
Schon das Schwimmen war anders. Es war eine Premiere für ihn: Zum ersten Mal schwamm er bei einem Wettkampf in Salzwasser. Doch statt der klaren und warmen Dünung vor Hawaii wartete auf ihn vor Ameland das Wattenmeer. Fünfzehn Grad kaltes Nordseewasser schwappte an den Deich. Die erste Prüfung war das Fluten des Anzugs. Als das Wasser über den Kragen in den Neoprenanzug einlief, presste er Zeigefinger und Daumen heftig aufeinander, um seinem Sohn zu zeigen, wie kalt es war.
»Okay, Jungs, einmal reingehen reicht doch! Das ist doch nur ein Spaß, dass wir hier schwimmen sollen. Wahrscheinlich ein uraltes Inselritual, dass man als Mutprobe kurz reinspringt, oder nicht?«, hoffte er im Stillen. Wen hätte er auch fragen sollen? Landsleute waren kaum da. »Na, dann werde ich bestimmt bester Deutscher!«
Doch zu seinem Leidwesen war das Fluten des Anzugs kein friesischer Initiationsritus. Die Holländer meinten es ernst mit dem Wettkampf. Der Startschuss ertönte, und schon jagte das Feld durchs Watt aufs Meer hinaus. Fünfzig Meter konnte man noch im Schlick laufen, dann gab es kein Entrinnen mehr. Einen Kilometer durch eisiges Wasser mussten sie schwimmend hinter sich bringen. Um zwei Bojen herum, die in einiger Entfernung vom Deich in der Dünung tanzten. Doch in den Wellentälern sah er nichts als Berge aus dunklem Wasser und einige Badekappen.
»Was mache ich hier eigentlich?«, fragte er sich, nachdem er schon zum zweiten Mal einen kräftigen Schluck Salzwasser genommen hatte. Selbst im Neoprenanzug wurde es kalt, der Seegang machte das Atmen schwer und die Orientierung zur Glückssache. Er setzte all seine Energie ein, um die ganze Strecke durchzukraulen. Das waren die kleinen Ziele, die er sich als Durchschnittssportler setzte. »Wenn ich schon nicht als Erster aus dem Wasser steige, so will ich zumindest sagen können, dass ich nicht Brustschwimmen musste. Und wenn ich das Schwimmen geschafft habe, dann ist das Schlimmste eh vorbei …«, dachte er, als er durch die Nordsee pflügte.
»Sechsunddreißig Kilometer Radfahren sind doch ein Klacks!«, hatte er noch kurz vor dem Start behauptet. »Da bin ich doch vor wenigen Wochen auf der Langdistanz von Stein noch viel länger auf dem Rad gewesen.« Während er sich an den Bojen vorbei wälzte, erinnerte er sich an den großen Tag, an dem er seinen Erzrivalen hinter sich gelassen hatte: den Schwager, der eigentlich noch gar nicht sein Schwager war. Der langjährige Freund seiner kleinen Schwester hatte schon häufiger versucht, ihn vom Thron zu stoßen. Aber noch hatte der Kenianer alle wichtigen Duelle gegen den jüngeren Herausforderer für sich entscheiden können. Noch war er der ungekrönte Triathlonkönig der Familie. Mit allen Mitteln, erlaubten wie unerlaubten, war es ihm bisher gelungen, seine Position zu verteidigen. Eine Niederlage gegen den Kontrahenten aus der Sippschaft würde seinem Sportler-Ego schwer zusetzen.
Doch heute war der Schwager gar nicht am Start. Er hatte sich seit ihrem letzten Aufeinandertreffen nicht mehr gemeldet, ihn brauchte er heute nicht zu fürchten. Deshalb setzte er sich andere Ziele.
Mit dem Kraulen hatte es schon mal geklappt. Er hatte das Brustschwimmen vermeiden können. Aber mit der Annahme, dass der angenehmere Teil des Tages an Land beginnen würde, lag er gründlich daneben, wie sich zeigte, als er sich auf das Leihrad mit den breiten Reifen schwang.
Er hatte es im Verleih kritisch beäugt. Ein solides Vehikel, perfekt für Jugendliche, die etwas um die Gruppenunterkünfte fahren möchten. Aber für einen echten Sportler wie ihn? Eine Schaltgruppe, deren Namen mehr einer Warnung als einer Verheißung nahe kam, und Bremsen, wie es sie schon lange nicht mehr im Handel gab. Aber egal. Erstens sollten es ja nur die paar Kilometer über die Insel sein, zweitens könnte er dann ja auch nichts Wertvolles kaputtmachen, und drittens wusste er eh nicht, wie sich ein gutes Mountainbike anfühlte. Um genau zu sein, wusste er überhaupt nicht, wie sich ein Mountainbike anfühlte. Weder ein gutes noch ein schlechtes. Er hatte noch nie lange auf einem gesessen.
Nach wenigen Metern merkte er, dass dies keine gute Idee war. Es war keine gute Idee, hier auf Ameland mit dem Mountainbiken zu beginnen. Und erst recht war es keine gute Idee, es in einem Wettkampf mit achthundert Teilnehmern zu tun. Zwischen Sandlöchern, Grasnarben, schmalen Matschpfaden, im steten Auf und Ab der Dünen, wurde er schnell zum Verkehrshindernis. Rechts und links überholten ihn die Holländer. »Chottverdommet!«, tönte es hinter ihm, wenn er mal wieder schmale Pfade blockierte, weil er mit gezogenen Bremsen eine Düne hinunterrutschte. Ohne jede Erfahrung hatte er sich in ein Abenteuer gestürzt, und nun zahlte er den Preis dafür. Erst fünf Radkilometer waren vorbei. Noch mehr als dreißig lagen vor ihm.
Gleich mehreren Teilnehmern konnte er aus nächster Nähe beim Stürzen zusehen. Der Erste fuhr auf dem Feldweg in ein Schlammloch und landete mit einem spektakulären Überschlag in einem Gemisch aus Brackwasser und Schafsscheiße, das im Entwässerungsgraben vor sich hinschwappte. Der Zweite versuchte erfolglos, von einer schmalen Furche auf eine breitere zu wechseln, und der Dritte überholte sein eigenes Vorderrad, als es im tiefen Sand stecken blieb. Das machte den Kenianer noch bänger.
Zudem war es auch noch brutal anstrengend. Keine Sekunde Pause. Lenken, Treten, Durchgeschüttelt- und Überholtwerden. Nach fünf Kilometern brannten die Beine, nach zehn taten die Hände weh, nach fünfzehn waren die Rückenmuskeln ein einziger schmerzender Granitblock. Was sollte er tun? Sich einfach ins Gras zu werfen und zu weinen, schien ihm eine verlockende Idee zu sein. Er wollte nicht mehr. Nicht mehr fahren durch wilde Naturschutzgebiete und auf Pfaden, auf denen er sonst nicht mal laufen würde. Rechts und links jagten holländische Meisjes an ihm vorbei und versuchten, ihn aufzumuntern.
Er hatte keine Ahnung, was sie sagten, aber es ließ ihn zumindest weiterfahren. Er sehnte sich nach dem Strand. Dort hoffte er, auf den letzten zehn Kilometern der Radstrecke etwas Entspannung zu finden. »Bei Ebbe lässt es sich bestimmt gut fahren, und die Rüttelei hat dann endlich ein Ende.«
Es war Ebbe. Aber es ließ sich nicht gut fahren. Für einen Doppelzentner war der Sand immer noch zu weich. Und es herrschte Gegenwind.
Kurz vor dem Ziel erwischte es dann auch ihn. Nachdem er sein Rad auf die Dünenkrone geschleppt hatte, schwang er sich wieder in den Sattel und versuchte weiterzufahren. Doch von einer schmalen Grasnarbe rutschte er in ein Sandloch, das Vorderrad blieb stecken, und der Kenianer überholte in zwei Metern Höhe den Lenker. Er rollte sich über den Unterkiefer ab und testete die Bissfestigkeit von Nordseesand. Der knirschte zwischen den Zähnen, aber sonst war alles gutgegangen. Er spuckte aus, schimpfte über die Ungerechtigkeit der Welt und schnappte sich sein Rad.
Ein beherzter Tritt in die Pedale, ein Ruck, und dann war kein Widerstand mehr auf der Kette. Was war denn jetzt noch? Er traute seinen Augen nicht. Der Tag hatte weitere Überraschungen für ihn parat. Jetzt war es die erstaunliche Erkenntnis, dass Schaltwerke in der Mitte durchreißen können. Es baumelte lose an der Kette. So etwas hatte er noch nie gesehen. An Fahren war nicht mehr zu denken. Ein Kilometer noch.
Doch seine erste Verzweiflung über den Defekt schlug schnell in Erleichterung um. Der Kenianer konnte sein Glück kaum fassen. Das gerissene Schaltwerk war sein weißer Ritter für die grauenvolle Cross-Triathlon-Premiere. Die glorreiche Ausrede für eine schwache Zeit. Es machte aus ihm einen Helden, als er das Rad in die Wechselzone schob.
Der Streckensprecher bejubelte den »Kenianer uit Duitsland«. Die Zuschauer klatschten begeistert. Trotz Defekts nicht aufgegeben. Was für ein toller Kerl!
Er deponierte den Schrotthaufen an seinem Wechselplatz und begab sich auf die Laufstrecke. Nach den ersten beiden Disziplinen machte er sich keine Illusionen mehr. Das Schwimmen und Radfahren war mörderisch hart gewesen. Fürs Laufen erwartete er nichts anderes.
Und diesmal hatte er ausnahmsweise recht. In dem kleinen Wäldchen wurde keine Steigung ausgelassen, jedes Loch war zu durchlaufen, und zu allem Überfluss musste er noch einige Kilometer am Strand rennen. Durch tiefsten Sand die Dünen runter und wieder hoch. Und das ganze zwei Mal.
Was half ihm jetzt noch? Die netten Zuschauer. Die anderen Teilnehmer, die klaglos über die Strecke liefen. Und der Gedanke an die Hotelsauna. Es war kein Vergnügen. 36 Kilometer Radfahren und zwölf Kilometer Laufen fühlen sich anders an, wenn sie mit der Vorsilbe »Cross« versehen sind.
Sein Kilometerschnitt? Er wollte es nicht wissen. Zeit und Platzierung? Völlig egal. Er war am Ende des Wettkampfs nur überglücklich, den schönsten Zielbereich seiner Karriere an der alten Windmühle laufend zu erreichen. Er hatte zuvor anderes erhofft, aber nach dreieinhalb Stunden war es das Beste, was er erreichen konnte. Zieleinlauf!
Doch seine Familie dankte es ihm nicht. Kein Jubel und kein Plakat begleiteten seinen Sprint um Platzierungen im Hinterfeld. Sein Weib und der Sohn waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie die Heldentaten des Kenianers gebührend feiern wollten. Denn es war in der Zwischenzeit Wichtigeres geschehen. Während der Kenianer Sand schluckte, hatte nämlich sein Sohn die Kindervariante zu Ende gebracht. Der kleine Mann hatte seine Triathlon-Premiere absolviert, und das verdiente natürlich mehr Aufmerksamkeit als die Heldentaten des Kenianers. Er berichtete ohne Unterlass. Vom Schwimmen im Hallenbad, wo er als Erster die Bahn verlassen hatte. Vom Radfahren über die Wiese und seiner geschickten Renneinteilung beim Laufen. Das Weib platzte vor Stolz und bereicherte die Erzählungen mit Hinweisen, wie schnell und toll der Sohn unterwegs gewesen war.
»Na, super!«, dachte der Kenianer. »Wenn ich Sport mache, ist es lästig. Aber beim Sohnemann ist das natürlich was ganz anderes!«
So sah es aus. Der Zieleinlauf des Kenianers war zur Nebensache geworden. Keiner interessierte sich für sein gerissenes Schaltwerk, das eiskalte Wasser und seine heldenhaft ertragenen Schmerzen. Er spielte die Nebenrolle.
Auch bester Deutscher war er nicht geworden. Einer der wenigen Landsleute war nämlich Georg Potrebitsch gewesen, der Deutsche Meister auf der Langdistanz. Er hatte die Insel und den Wettkampf genutzt, um sich für seinen Start auf Hawaii vorzubereiten. Nebenbei war er dabei freundlich lächelnd zum ersten deutschen Sieger der Veranstaltung geworden.
Noch in der Sauna war der Sohnemann nicht zu bremsen. »Ey, Papa. Das ist so Hammer. Ich habe meinen ersten Triathlon gemacht.« Auf der Finisher-Party am Abend stolzierte er durch die Reihen im Festzelt. Plötzlich noch einen ganzen Kopf größer.
Der Kenianer füllte derweil am Pasta-Büfett die leeren Speicher auf. Nach dem zweiten Teller fühlte er sich, als wäre er schon immer der beste Kumpel von Georg gewesen, mit dem er am Tisch die Vorzüge der Insel pries. Ein extrem versöhnlicher Abschluss eines harten Tages.
Denn Cross-Triathlon war fraglos etwas ganz anderes als das, was er sonst so machte. Wo schon hundert Meter Pflasterstein reichten, damit er böse Kommentare über skandalöse Streckenführungen ins Internet stellte. Hier hatten sich die Leute reihenweise »zerlegt«, ohne dass es für irgendjemanden ein Grund zur Beschwerde war.
Cross ist krass! Das hatte er heute gelernt. Trotzdem würde er sicher nicht zum letzten Mal dabei gewesen sein.