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Reden wir nicht über Jungs und Mädchen, als hätte das was zu bedeuten

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Frauen. Männer. Jungs und Mädchen. Die Wörter verändern sich nicht, der Nachklang aber schon, und im 21. Jahrhundert bedeutet das eine oder das andere etwas völlig anderes als im letzten oder im nächsten Jahrhundert. Eine Frau zu sein oder ein Mann zu sein, erfordert Mühe, Aufmerksamkeit, das Unterdrücken von Teilen der Persönlichkeit und das Herausstellen anderer. Als Simone de Beauvoir sagte, man »wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht«, traf sie damit ins Schwarze; noch besser gefällt mir Bette Davis’ Ausspruch in dem Film Alles über Eva: »Denn die Karriere, die alle Frauen einmal machen müssen, ist die, eine Frau zu sein, ob wir wollen oder nicht. Früher oder später kommen wir alle einmal dahin, gleichgültig, was wir sonst erreicht haben oder erreichen wollen.«11

Genderidentität ist Arbeit, performative Arbeit, es ist ein Job, den wir unfreiwillig an dem Tag übernehmen, an dem uns jemand in die Luft hält und unserer noch keuchenden Mutter erklärt: Es ist ein Mädchen. Besonders wir Frauen müssen Weiblichkeit als Teil unserer Arbeit verrichten, wenn wir bezahlt oder beschützt werden oder die Würde und den Status bewahren wollen, den wir der rauen Oberfläche der Gesellschaft, in der wir feststecken, abknapsen konnten. Eines sei klar gesagt: Wenn ich von »Frausein« oder »Mannsein« spreche, dann meine ich nicht das biologische Geschlecht, sondern die soziale Rolle. Von Geburt an und in ihrer gesamten Kindheit werden die Menschen nach Geschlecht aufgeteilt und dazu gebracht, einander zu misstrauen. Das Einhalten von Normen der Männlichkeit und der Weiblichkeit, was wir anziehen, wen wir küssen, welche Mannschaftssportart wir ausüben: All das wird erzwungen, oft unter körperlicher Gewalt, und wer sich nicht einfügen kann oder will, muss eben allein zurechtkommen.

Nicht jeder Mensch identifiziert sich mit dem Geschlecht, das ihm bei der Geburt zugeteilt wurde. Eine nicht unerhebliche Minderheit von Menschen ist transsexuell, transgender, genderqueer oder intersexuell, und ihre Geschlechtererfahrung wurde aus dem Mainstream-Feminismus ausgeschlossen oder gar gezielt von ihm attackiert. Und schließlich: Nicht jeder Mensch empfindet sich stark als Mann oder als Frau, und nicht alle, die das tun, verspüren den Drang, sich auf eine bestimmte Art zu kleiden oder zu verhalten, um toleriert, respektiert, zu Hause belohnt und in der Öffentlichkeit befördert und beschützt zu werden.

Wer als Mädchen zur Welt kommt oder zur Frau wird, steckt allerdings in einem besonderen Dilemma, und genau dieses Dilemma prägt die Absolutheit der Geschlechterunterdrückung. Es ist sehr wichtig, dass jede und jeder begreift, wie Sexismus Frauen beeinträchtigt und sich somit auf alle Menschen auswirkt. Frauen unterliegen strengeren Verhaltensregeln: Ihnen wird vorgegeben, was sie tun, was sie sagen, was sie wollen sollen. Was sie anziehen, was sie essen, wo sie einkaufen, wie sie sich bei der Arbeit verhalten sollen und wann sie ihm besser nicht auf eine Textnachricht antworten, wann sie vögeln, wie sie vögeln, welche Farbe sie sich ins Haar schmieren sollen, wenn er sie verlässt. Wenn man aus den »Fraueninhalten« der Mainstream-Medien die Werbung abzieht, bleiben im Grunde nur Regellisten übrig. Es ist schwer, ein Mann zu sein in dieser Welt, und es ist noch schwerer, der sozialen Klasse der Frau anzugehören, die all die Gewalt und die Traumata, die Männern von der Gesellschaft auferlegt werden, und dann auch die Folgen dieser Traumata tragen soll, die den Männern die Sorgenfalten von der Stirn streicht, den Schwanz lutscht und mit sanfter Unterwürfigkeit die geschlechtsspezifische Gewalt erduldet, wie sie es von Geburt an gelernt hat.

Das Geschlecht ist eine Zwangsjacke für die menschliche Seele.12 Das Geschlecht macht uns fix und fertig, es verwandelt die, die wir lieben sollten, in Feinde, und Frauen setzt es am meisten zu. Für uns ist die Biologie nicht nur Schicksal: Sie ist eine Katastrophe.

Wir sind immer noch nicht glücklich, Frauen nicht und Männer nicht, und die einen sagen, das liege am Feminismus, die anderen, es sei trotz des Feminismus so. Ich würde behaupten, es liegt daran, dass der Kampf gegen das kapitalistische Patriarchat gerade erst begonnen hat, aber mit Sicherheit wissen wir, dass die Genderrollen, Mann und Frau, Junge und Mädchen, etwas an sich haben, das die Menschen furchtbar unglücklich macht. Wir wissen das, weil das Geschlecht noch immer die wichtigste Sprache ist, in der wir existenzielle Krisen bereden.

Frauen sind deprimierter als Männer, ängstlicher als Männer, schlucken zweimal so viele Psychopharmaka und unternehmen dreimal so oft einen Selbstmordversuch wie Männer, die allerdings doppelt so häufig dabei sterben.13 Bei Männern bleibt ein emotionales und psychisches Trauma eher unbehandelt; ein Mann erträgt es schweigend im stillen Kämmerlein, bis plötzlich der Punkt erreicht ist, an dem das Herz es nicht mehr aushält und er schließlich die Gewalt gegen sich richtet, mit einem Seil, einem Messer oder Vaters Gewehr. Die meisten kulturellen Narrative, die sich mit der psychischen Gesundheit befassen, drehen sich heute um Genderfragen, und Forscher und Sozialtheoretiker erforschen, ob Männer oder Frauen größere Not leiden und wessen Schuld es wohl ist. Wer nun eigentlich abgefuckter ist, Jungs oder Mädchen, ist noch nicht ausgemacht, aber dass wir das unbedingt wissen wollen, offenbart doch zumindest eine Wahrheit: Mit dem Geschlecht hat es etwas auf sich, das zutiefst beunruhigt auf einer intimen Ebene, über die selten geredet wird. Rund um das Frausein und das Mannsein oder den Versuch, eine Frau oder ein Mann zu sein, herrscht im 21. Jahrhundert eine tiefe Verunsicherung, und sogar in den wenigen Räumen, in denen sie es dürfen, fällt es den Menschen schwer, darüber zu reden.

Haben wir etwa die natürliche Ordnung gestört?

Unsagbare Dinge. Sex Lügen und Revolution

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