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Verlorene Jungs
»Patriarchalische Männlichkeit entfremdet Männer von ihrem Selbstsein.«
bell hooks, All About Love
Einige meiner besten Freunde sind weiß, männlich und hetero. Das ist nicht ihre Schuld. Sie haben nicht um dieses besondere Privileg gebeten, denn so läuft das nicht mit Privilegien, und jetzt wissen sie nicht, was sie damit anfangen sollen, und tun eben so, als wäre es nicht da. Aber um die Prinzipien von Gender, Macht und Begehren zu begreifen, müssen wir über Männer reden.
Wo ist die Macht, die man den jungen Männern von heute versprochen hat? In den fünf Jahren der Finanzkatastrophe und der Jugendarbeitslosigkeit habe ich zahllose junge Männer, die mir zum Teil sehr nahestanden, still und leise untergehen sehen. Die Rezession war auch für junge Frauen kein Disneyland, aber wir haben uns in mancherlei Hinsicht als emotional robuster erwiesen. Mädchen gehen oft schon von ihrer Erziehung her nicht davon aus, dass eine würdevolle Arbeit oder finanzielle Sicherheit identitätsstiftende Bestandteile ihrer Zukunft sind, und den meisten wurde beigebracht, sich im Beruf und anderswo auf Ausbeutung einzustellen. Das ist genau die Haltung, die Arbeitgeber heute suchen.
Ziel des Feminismus ist ja nicht nur, dass sich Frauen von Männern emanzipieren, sondern dass sich alle Menschen aus der Zwangsjacke geschlechtsspezifischer Unterdrückung befreien. Männer und Jungen beginnen erst jetzt kollektiv zu begreifen, wie furchtbar vermurkst Männlichkeit heute ist – und sie fragen, wie sie das ändern können.
Männlichkeit beschäftigt die Politik, und Männer beschäftigen den Feminismus. Das gilt für ihre Gewalt und auch für ihre Angst, eine kollektive, artikulierte Angst, dass sie in dieser Gesellschaft, die sich gegen sie verschworen zu haben scheint, auch noch die letzten Fetzen ihrer Privilegien einbüßen, die bislang ihr kollabierendes Selbstwertgefühl gestützt haben. Wie sollen sich Männer und Jungen verhalten, wenn männliche Privilegien nicht automatisch mit Macht verbunden sind?
Rock and Roll kann uns heutzutage auch nicht mehr retten. Das wird mir klar, als ich im Jahr 2009 eines Tages vom Einkaufen nach Hause komme und im Flur fast in die Eingeweide einer blauen Gitarre trete, ein wilder Wirrwarr aus Saiten und zersplittertem Holz. Die blaue Gitarre ist völlig zerstört, nicht mehr zu reparieren, Hals und Wirbel gebrochen. Die Luft riecht nach Gras und Traurigkeit.
In der Küche sitzt mein bester Freund; er blutet im Gesicht.
Ich stelle die Einkaufstüten ab und setze Teewasser auf, weil man das in so einer Situation eben macht. Mein bester Freund sitzt reglos auf dem einzigen Küchenstuhl, der noch alle vier Beine hat, und betupft sich das Gesicht mit nassem Klopapier, und der Tee ist heiß und süß und gut gegen den Schock. Wieder mal ein schlimmer Tag im Jobcenter.
»Er hat sich die Gitarre am eigenen Schädel zerschlagen«, erzählt mir unsere Mitbewohnerin, als er ins Bad geht. »Er ist von dem Gespräch nach Hause gekommen, und da hat er sich die Gitarre auf den Kopf gehauen und geschrien, dass er zu nichts taugt.«
Wir sind seit Jahren befreundet, seit wir uns in der College-Mensa kennengelernt haben, vor dem großen Crash, vor dem ganzen Mist, damals, als wir neunzehn waren und die Welt noch mit Kunst retten wollten. Schräge Leseratten aus der bürgerlichen Vorstadt, die die Nächte durchmachen und schreiben und sich Ärger einhandeln wollten. Wir schrappten durch unsere Prüfungen und schlürften unsere Tage wie billigen Wein, berauschend in ihrer schuldbewussten Vorhersagbarkeit. Vier wunderbare Sommer.
Und dann war das College vorüber, und die Wirtschaftskrise schlug zu, und die Musik wurde düsterer und wütender und brachte nicht mehr genug Geld für die Miete ein. Und das einzige Vorstellungsgespräch, das einem Geisteswissenschaftler, dessen Familie nicht das Geld für ein Praktikum aufbringen konnte, angeboten wurde, war das für einen Sachbearbeiterposten im Jobcenter, und die Zukunft öffnete sich vor ihm wie ein großer schwarzer Rachen.
Zu viele Nächte in der Notaufnahme. Nicht genug Geld für den Pub. Es wird klar, dass Liebe und harte Arbeit nicht genug sind, und Rock and Roll kann dich auch nicht retten. Das war vielleicht einmal. Diese Zeiten sind wie Punk und Sozialhilfe verschwunden.
Wir füllen Formulare aus und betteln auf dem Amt um Geld, um uns Essen zu kaufen, Geld, das erst nach einem Monat kommt, das bedeutet einen Monat lang trocken Brot, und wir schreiben wütende politische Songtexte und laden sie auf die Band-Website hoch, aber es nützt nichts. Frei nach Woody Guthrie: This Machine Does Not Kill Fascists. Wir probieren es aus, indem wir mit der Band die ganze Nacht laut Nick-Cave-Songs spielen, um den Mann von der British National Party zu ärgern, der ein paar Häuser weiter wohnt: Er erfreut sich offenbar auch weiter unverschämter Gesundheit.
Und dann, eines Tages, hörte die Musik einfach auf.
Ich hätte meinen besten Freund gern vor der Verzweiflung gerettet, hätte ihn gern für große Taten begeistert. Doch ich habe kläglich versagt und dabei uns beide verletzt und ausgelaugt. Wenn ich heute Freundinnen, Liebhaberinnen, Partnerinnen trauriger, verlorener junger Männer sehe, die es trotzdem versuchen, würde ich sie am liebsten an der Schulter packen, kräftig schütteln und anschreien: Die Jungs sind nicht zu retten. Zumindest nicht so.