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Unsäglicher Hunger

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Je mächtiger wir Frauen werden, desto stärker wird uns suggeriert, dass unser Körper völlig unzumutbar ist. Viele der einflussreichsten Frauen der Welt, von Popstars bis hin zu Medienmanagerinnen, tragen in aller Öffentlichkeit Schlachten mit ihrem Gewicht aus, die die Regenbogenpresse nur allzu gern ausbreitet und aufbauscht. Andere, besonders Politikerinnen, werden wegen des angeblich skandalösen Fleischüberschusses an ihrem völlig normalen Bauch oder Gesäß öffentlich der Lächerlichkeit preisgegeben.

Einem kürzlich im Journal of Applied Psychology erschienenen Studienbericht zufolge steigen Gehalt und Einfluss weiblicher Versuchsgruppen in Amerika und Deutschland, je weiter ihr Gewicht unter dem gesunden Durchschnitt liegt, auch wenn man andere Einflussfaktoren für Gewicht und Bezahlung berücksichtigt.29 Bei Männern ist umgekehrt ein höheres Gewicht ein Indikator für finanziellen Erfolg, und erst bei extremer Dickleibigkeit müssen Männer beruflich Abstriche machen.

Ein Kausalzusammenhang lässt sich immer schwer nachweisen. Auch die gründlichste Studie kann unmöglich abschließend klären, ob die Frauen abgenommen haben, weil ihr Gehalt stieg, oder ob ihr Gehalt stieg, weil sie abgenommen hatten. Eines ist allerdings sicher: In Europa und in Amerika entspricht die Angst vor weiblichem Fleisch der Angst vor weiblicher Macht, und die Inszenierung des Ekels vor dem normal großen weiblichen Körper ist in der westlichen Gesellschaft eine zutiefst politische Angelegenheit. Sogar am oberen Ende der Nahrungskette muss der Hunger der Frauen um jeden Preis gezügelt werden, damit es so weitergehen kann wie bisher. Bis hierhin und nicht weiter, und wenn du schon mal da oben bist, wäre es nett, wenn du mal eben mit dem Staubsauger durchgehst.

Diese Studie belegt in aller Deutlichkeit, was die meisten Frauen, die auch nur einen Funken persönlichen oder beruflichen Ehrgeiz in sich haben, instinktiv schon lange wissen: dass sich unser Erfolg im Leben und im Beruf umgekehrt proportional zur Anzahl der Zentimeter Fleisch auf unseren Knochen bemisst und dass ein normaler gesunder Körper in Machtpositionen nicht erwünscht ist. Auch nach einem Jahrhundert Feminismus dürfen nur wenige Frauen eine Machtposition in Unternehmen, Medien und Politik einnehmen – und dort sollen sie möglichst wenig physischen Raum beanspruchen. Wenn es einen Typ Frau gibt, den die Medien nicht leiden können, so ist es das politische Schwergewicht.

Das alles ist allerdings harmlos im Vergleich zu dem Horror, den die Gesellschaft für korpulente und dazu auch noch arme Frauen bereithält. In den westlichen Industriestaaten, in denen die Quantität der Nahrung weniger Probleme bereitet als die Qualität, ist Übergewicht oft sogar ein Symptom der Armut, und diese Fehlernährung hat den unverhohlenen Ekel der kulturellen Rechten vor Frauen der Arbeiterklasse, die zu viel Raum einnehmen, lediglich zementiert.

Vom Vorstandszimmer bis in die Gosse gilt: Das Bestreben der Frauen, den Body-Mass-Index so niedrig wie möglich zu halten, gründet auf der berechtigten Angst, dass wir bestraft werden, sobald wir den patriarchalen Raum betreten. Kein Wunder, dass so viele von uns hungern.

Wer verhindern will, dass Mädchen etwas erreichen, zwingt sie am besten dazu, alles zu erreichen. Während sich Feministinnen früher über die »zweite Schicht« beschwerten, die Frauen jenseits des Arbeitsplatzes mit Hausarbeit und Kindererziehung übernahmen, hat heute die Verpflichtung zur bedingungslosen Leistungsbereitschaft sämtliche Lebensbereiche infiziert: Wir müssen akademisch erfolgreich sein, gesellschaftlich gewandt, körperlich attraktiv, sexuell verführerisch, aber nicht zu »nuttig«, ehrgeizig, aber bitte nicht »penetrant«.

Eines der ersten Dinge, die Mädchen erfahren, ist ihre Machtlosigkeit. Ich meine damit die körperliche Machtlosigkeit: dass Jungs stärker und fitter sind und es auch immer sein werden, ob das nun stimmen mag oder nicht. Ein paar Monate vor den Olympischen Spielen stellte die Zeitschrift Grazia Trainingsübungen der Top-Leichtathleten vor – präsentiert von Models in Designermode, die aussahen, als seien sie kaum in der Lage, die Requisiten zu stemmen, die sie in der Hand hatten.30 Körperlich starke Frauen beeindrucken die Werbeleute nicht, daher befanden sich die Bilder der Athletinnen und Athleten ganz klein unten auf der Seite. Frauen sollen nicht aussehen, als könnten sie ihre Gegner in die Knie zwingen. Hauen dürfen wir höchstens ein Kissen, vorzugsweise in Dessous vor laufender Kamera, da bremst nicht einmal das Patriarchat, das Kissenschlachten durchaus zugetan ist.

Die Kämpfe, die junge Mädchen unter dem Spätkapitalismus ausfechten, sind die Kämpfe unseres Zeitalters, und es geht um Würde, Gender und Identität. Das junge Mädchen, dessen Unterwürfigkeit zu seinem Charme gehört, sollte doch besser wissen als jede andere, dass sie an ihrem Elend nur selbst schuld ist. Sie spürt, dass sie sich zu einer Ware macht, zu Fleisch, das in eine Kunststoffform gepresst wird, doch wenn ihre Seele rebelliert, schließt sie daraus, dass sie als Ware noch nicht gut genug ist, und so strengt sie sich noch mehr an, ihre peinlichen und unangenehmen Ecken und Kanten abzuschleifen.

Also arbeitet sie. Alle Mädchen arbeiten. Wir geben Geld aus, das wir nicht haben, um ein inneres Selbst zum Ausdruck zu bringen, das wir gern hätten, ein gutes und schönes Wesen, das es verdient, gerettet zu werden. Wir wissen alle, jeder arbeitende Mensch, der sich Filme ansieht, weiß es, dass unser wahres Selbst reich, hübsch und beliebt ist und wir nur die richtigen Kleider anziehen und uns bewähren müssen, um genau so zu werden. Erfüllung ist eine individuelle, keine strukturelle Angelegenheit, und vermittelt wird sie durch strenge Konformität, die uns natürlich am besten zu einem Individuum macht, genau wie alle anderen auch.

Einer der grausamsten Streiche, den man der Generation meiner Mutter spielte, war wohl die Mär, dass das Recht, jeden schlecht bezahlten Knochenjob zu übernehmen, den sonst Männer verrichten, die einzige und ultimative Errungenschaft der Frauenbewegung sei. Stimmt, in den meisten westlichen Ländern haben Frauen heute für eine Arbeit, die auch ein Mann tun kann, ein gesetzliches Anrecht auf gleiche Bezahlung, auch wenn sie den Job erst einmal bekommen müssen.

In der Praxis jedoch sind Frauen am oberen Ende der Ge-halts- und Beschäftigungsskala nicht gerade üppig vertreten. Überrepräsentiert sind wir dafür wie eh und je in schlecht bezahlten, unterbezahlten und unbezahlten Jobs, in Haushalts- und Pflegeberufen und anderen Tätigkeiten, die in Sachen Bezahlung und gesellschaftliches Ansehen in der sozialen Hierarchie weit unten angesiedelt sind, eben weil diese Arbeit traditionell von Frauen verrichtet wird. Mit dem Irrglauben, wir befänden uns am Zielpunkt des feministischen Fortschritts, muss dringend aufgeräumt werden, und zwar schnell.

Unsagbare Dinge. Sex Lügen und Revolution

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