Читать книгу Die Forelle - Leander Fischer - Страница 12
8 Siegi findet den wilden Fleischhacker
im zwielichtigen Wald
ОглавлениеIch rannte um die Fliegenfischereilizenz, meine Existenz, die Stange unter meinem Flanellhemd gegen meine Brust geschmiegt wie ein sicher gehaltenes Kind. Das Kunststück gelang mir ganz gut, im Dunkeln über Wurzeln zu hüpfen und schemenhaft in Augenhöhe auftauchenden Ästen auszuweichen. Nur einen Zweigstreifschlag bekam ich ins Gesicht, stolperte bloß und fiel nicht mehr. Die Wochen und Monate, ja Jahre Training Böschungen hinabzusteigen, über Gartenzäune zu klettern und durch Stromschnellen zu waten, machten sich bezahlt. Nichtsdestotrotz verlor ich mich im Unterholz, ahnte nur noch die Bundesstraße irgendwo hinter den letzten Bäumen des Waldes. Langsam erst, je mehr ich keuchte, desto mehr schlich ich, und je langsamer ich ging, umso deutlicher begriff ich, dass ich keine Ahnung mehr hatte, wo ich mich überhaupt befand, was mir erst recht wieder den Atem nahm. Ich hielt inne an einer Stelle, wo ein Wildwechsel in ein Rohrdickicht eintrat und eine Eiche quer darübergefallen war. Zu meinen Füßen bildete der Baum einen immens weiten Winkel mit dem Waldboden wie eine sehr flache Rampe. Direkt hinter den abgeknickten Kronenzweigen begann der Stamm an meinem Schienbein. Eine gefühlte Ewigkeit weiter reichte er mir erst bis zum Knie. Jedes Fußaufsetzen war gedämpft vom Humus und begleitet vom Schmatzen meiner durchgeweichten Schuhe zu vernehmen. Das Wasser rann mir noch aus den Haaren übers Gesicht. Bei jedem weiteren Ausschreiten fielen die Tropfen von meinem vollgesogenen Hemd. Ich hätte es auswringen können, mein nasses Flanellfell, doch es fröstelte mich schon so. Außerdem ekelte mich die Ähnlichkeit meines nackten Oberkörpers mit denen der Bierdümpel. Sie waren doch Sauproleten. Wie konnten sie Burschenschaftler sein? Gab es auch schlagende, nichtstudentische Verbindungen? Schlossen sie sich zusammen zu obskuren, paramilitärischen Verbänden? Oder brachten ihre gendarmerieakademischen und bäckermeisterlichen Ausbildungen die Bauernschädel vor etlichen Jahren in irgendwelche Fuchsenstuben von Linz, die wiederum Ableger brauchten in dieser Provinz, wohin sich diese Gesellen passenderweise wieder vertschüssten mit ihren Diplomen, Zeugnissen und Urkunden und dann machten, wie sie wollten? Eine Fechtlizenz führten sie bei ihrer Wiederkehr wohl nicht mit sich. Immerhin sah Friedls und Fredls wilder Zwist keineswegs nach irgendeiner Mensur gemäß altehrwürdigem Regularium aus. Sekundanten hatte es keine gegeben und auch ihre Bewegungen waren so unterschiedlich gewesen, als wäre alles möglich, nicht von verbindlicher Norm geformt. Früher wüsste sie nicht, wie sie Ademiker schreibe, heute sei sie eine, eines von Lenas Lieblingsflügelworten. Heute ja eher, Siegi, bring doch mal den Müll raus, womit sie nur mein Bindematerial meinte in zweideutiger Manier, gerade so anspielungshaft, dass ich ihr keine Bösartigkeit anlasten konnte. Und dann dieser Volki, verdammt, ihr Führer. Neben mir lief der inzwischen mannsdicke Eichenstamm kaum auf Höhe meiner Hüfte. Bis zum Bauchnabel, gebremst und gehalten von der Gürtelschnalle, war der Fliegenfischstange Korkgriff hinabgerutscht. Vor meiner Nase streckte sich wie ein langer Stängel der Schaft gegen den Himmel, zwischen den Sternen die Spitze, der ich nachlief wie ein Esel seiner Karotte, statt mich nach dem fixen Polarstern umzusehen. Zwar schimmerte am Vorfach der Mondschein, doch in meinen Beinen schrie der Frost. Ich roch kalten Angstschweiß, den das Flusswasser an mir gelassen hatte. Meine Füße hörte ich immer öfter auftreten innerhalb derselben Zeitspannen wie eben noch.
Kein Ziel vor Augen, keuchend mein Atem, wurden meine Zehen taub, meine Schritte immer kürzer und schwerer. Um mich zu bücken und meine Schnürsenkel zu lösen, blieb ich stehen. Ich meinte, ich bekäme keine Luft, derweil lag eine Hand auf meinem Mund. Von den Füßen schmiss es mich. Zurückgerissen wurde ich. Mit solcher Gewalt, dass keine Schleifspuren den Humus pflügten und unter dem vorhangartigen Blätterwerk an meine Fersen führten. Halb geflogen, halb gefallen, auf diesen Fleck. Brutal angefühlt, sicherlich nicht, das Gespür noch vertrieben aus meinem Gesicht. Mit bibbernden Lippen hockte ich auf dem Boden einer Art Höhle, von dem majestätischen Eichenstamm erschaffen und überdacht. Die Rückwand bildete das noch in Walderde eingefasste Wurzelwerk, die Seiten wurden von dunklem Rohrdickicht umstellt und von mannsdicken Ästen verhängt. Ein Zweig war abgeknickt und ein Blatt fiel noch die letzten Zentimeter, wo ich geschnappt worden war und in diesen Käfig hereingezerrt. Erst jetzt, als es seinen Segelflug beendet, ich es ein, zwei Sekunden verwundert angestarrt hatte, und schließlich, als es mir darniederliegend nicht weiter bemerkenswert, wie ein integraler, bald verwitternder Bestandteil des Waldbodens vorkam, nahm ich ein Gesicht wahr, das direkt vor mir schwebte.
Das flächendeckende Gewächs rundum schirmte uns gegen jedwedes Licht, und die folglich hier drin herrschende Finsternis gab einen unsichtbar machenden Hintergrund ab für all das Schwarz, das sich diese Gestalt über ihr Antlitz geklatscht hatte. Nur das zu Schlitzen verengte Weiß der Augen enttarnte das Wesen. Es starrte mich an. Es entfernte sich langsam, wodurch ich in Kontraktionen, Dehnen, Wabern und Spannen die Halssehnen zu sehen bekam, weniger eine abgrenzbare Fläche als Morphformen in mordsdunkler Nachtluft. Das Augenpaar hob und die schwarzen Punkte darin senkten sich. Der Körper des Wesens bäumte sich auf aus kauernder Haltung. Immer noch gebückt, das Genick direkt unter dem Eichenstamm, schaute es mich weiter an. Ein Blinzeln löschte schlagartig das Weiß, ließ es gleich wieder aufscheinen, verriet, dass selbst das Lid schattig gepinselt war. Langsam schieden sich die Konturen der Gestalt vom Hintergrund. Ich erkannte Schulterblätter statt Eichenzweigen, schwarzes Haar vor schuppiger Rinde, lange Beine neben oberschenkeldicken Ästen. Herabhängende Hände verdeckten Rohrdickicht, indem sich Arme ausbreiteten wie Fledermausflügel, die sich als dunkle Wolldecke entpuppten. Die Gestalt stülpte sie mir mit einer fliegenden Bewegung über und um den Oberkörper. »Siegi?« – »Bist du deppert?« – »Bist du komplett deppert?« – »Was machst du hier?«, und er nickte mit bestätigendem Blick, der sagte, du machst den Mund zu oder ich die Gurgel auf. »Wie schaust du denn aus?«, sagte Kurti, wieder zu voller Größe aufgepflanzt vor dem Eichenstamm, die Spitze eines weitmaschigen Ponchos zwischen den Beinen, Säume als Dreiecksschenkel um beide Oberarme laufend, selbst auseinandergehend wie eine Baumkrone. In grob gespachtelten, krustenartigen Schichten lag die Schminke auf seinen Wangen, und aufgerieben schien sie zu werden, abzublättern und zu Boden zu bröckeln, wenn er die Backen beim Sprechen bewegte. Bevor es noch raschelte außerhalb der Höhle, schleifendes Huschen näher kam bis auf wenige Schritte, wandte Kurti schon seinen Kopf, schickte Blicke ins Dickicht: »Nur Kleinwild«, wieder zu mir gewandt und das Geräusch verschwamm, wie wenn ein Friseur durch Filzknubbel und anderes Zausen und Reißen am wohlfeilen Ende des Kammschwungs durch trockenes Haar ankommt. Noch enger schlang ich die Decke um meine Schultern und schmiegte mich hinein, zog die Enden fest im Schoß zusammen mit meinen darin umwundenen Händen, dass es mir die Härchen auf den Gliedern elektrisierte. Ein Schauern schlich mir, als übersetzte sich das Kribbeln direkt in mein Steißbein, das Rückgrat hinauf, ins Genick, weiter wie ein aktivierter Reizreflexbogen den Hals entlang, stimulierte Stimmbänder, zitterte Zunge wie Zäpfchen an, defibrillierte die Kiefer, worauf mein Hirn erst nach Worten hastete, ich stammelte mich verhaspelnd: »Sie hind sinter hir mer, Kurt!« Während Kurti sich setzte, seine Finger um eine schwarze Thermoskanne schloss, die Kappe abschraubte, dampfenden Kaffee eingoss und mir reichte, nickte er in einer Tour. »Bursch, sie dind on Kurtenschaften irganisiert.« Mit dem Herabrinnen zweier Tropfen über den Gefäßmantel zwischen meinen Fingern schwappte auch die Beruhigung zu mir herüber. Ich ließ mich zurück, lehnte den Rücken gegen das Wurzelwerk, die brennheiße Flüssigkeit in Händen, das Aroma atmend, und seufzte. Rascheln strich wieder durchs Rohrdickicht, begleitet von scheuem, tierischem Fiepen riffelte es weg von unserem Versteck, schrubbte im Unterholz, verschwand weniger im Stillhalten, als dass es verklang in der Ferne, und ich vernahm schon eine Flinte fauchen. »Hab ich ves erschreckt?« Ob er noch immer oder schon wieder nickte, wusste ich nicht, doch die Bewegung wurde jetzt aggressiver, eckig irgendwie, hammerartig, das kundige Schlagen eines Herings in den Humus, dass eine Schlafstelle geschützt war vor Wind und Wetter und herumirrendem Getier durch ein Zelt in wilder Gegend. »Atme mal leiser!« Ahnungslos getadelt senkte ich den Blick auf seine Schuhe, die nichts anderes als Bärentatzen waren, sah schon Jäger und Weidmänner am nächsten Morgen ebenfalls diese Stelle abtasten mit Blicken, die Bodenabdrücke lesen, allerdings im Stehen, Genickverrenkungen und große Augen machend, sich dann verwirrt die Gesichter zuwenden und einander, wie und warum da jetzt wieder Vieh weggekommen war, den klaren Fall erklären. Dann durchkämmen sie den Wald auf der Suche nach weiteren Spuren und kämen überein, viel zu gefährlich, um Hetzen oder Treibjagden zu veranstalten, das käme ja einem Gleicheinschläfern der eigenen Hunde gleich.
Kurti nickte, plötzlich mehr Weiß im Gesicht, taxierte meine nassen Schuhe. »Ich geh jetzt lieber nicht, nicht?« Jäger mit ihren visierschielenden Blicken über Vorderlader hinweg, rundherum hockend in eichenhölzernen Hochsitzen, dass eine Umzingelung entstand, ein Fort um den Forst. Zigaretten hielt Kurti mir hin. Ohnehin ersetzte mein Atem schon die Wölkchen über der Thermoskannenkappe. Kurtis schwarz lackierte Nägel und seine finster gepinselten Finger verdeckten ein Gros der mir unbekannt gestalteten Schrift. »Danke, immer noch nicht.« – »Bitte schon wieder«, nickte Kurti und ich nippte vom Kaffee. Noch rann er warm meine Gurgel hinunter. Ich stellte die Thermoskannenkappe vor mich hin. Kurti fischte zwei Zigaretten aus dem Päckchen. »Immer noch nicht schon wieder«, sagte ich und ließ mich zurück gegen das Wurzelwerk. Meine Hände gerieten an das feuchte Moos, das rund um mich den Boden überzog. »Ich nehme mal an, Feuer können wir nicht anmachen.« Kurti nickte und der weiße Strich ging in sein schwarzes Gesicht. Ich kraulte das krause Moos, versuchte meinen Händen ein behagliches Gefühl einzujagen. Kurti griff unter seinem Poncho an sich herum. Meine Glieder ließen sich erfolglos streicheln, wich doch das Gespür immer mehr aus meinen frierenden Fingern. Nicht mal die Kaffeekappe lockte sie noch, bestand sie doch aus demselben thermoisolierten Stoff wie die Kanne, die neben Kurti stand, der jetzt zwischen Daumen und Zeigefinger ein Sturmfeuerzeug hochhob. Ich tunkte meinen Mittelfinger in den lauwarmen Kaffee. »Das sieht von draußen wie ein Glühwürmchen aus?« Kurti nickte, legte langsam alle Finger um das Sturmfeuerzeug und hielt es an seine Zigarettenspitze. Nachdem ich nicht wusste, wie voll Kurtis Thermoskanne, wie sehr er zu teilen geneigt war, tat ich noch einen Schluck, wenige Tropfen, kalter Stein. Kurti drückte den Daumen nieder, das Hochdruckgasventil öffnete sich mit Fauchen, der Funke sprang, hauchte Tabak und Papier in Flamme. Kurti packte das Sturmfeuerzeug mit der Hand neben sich, in der auch die Zigarette war. Kunststoff klackte an Metall, ein Glutwiderschein blitzte an einer Klinge, auf dem stählernen Fleischerbeil kam das Sturmfeuerzeug zu liegen.
»Das bleibt doch unser kleines Geheimnis hier?« Kurti nickte. Ich registrierte, keineswegs Moos zu kraulen, sondern Wolle, die von meiner Kleidung inzwischen vollgesoffene Decke. »Also wenn ich nicht erfrier.« Im Rhythmus der Züge, die Kurti von der Zigarette nahm, zitterten seine Muskeln. Sie vibrierten, wenn er Rauch einsog, wenn er Rauch ausstieß, ruhten sie. Er schien seinen Atem bewusst zu steuern wie amerikanische Elitepioniere hinter der Front, die während Spezialeinsätzen ganze Nächte in ufernahem Flusswasser verharren. Er ließ seine Muskeln bewusst kontrahieren wie österreichische Gebirgsjäger in Firnfeldern, die zu Trainingszwecken rundenweise Zirkeltraining in mannshohen Neuschneemassen machen. Tage konnte Kurti hier sicherlich so zubringen, hingekniet, Oberschenkel auf Wade liegend, ganz gerade sitzend, vom Scheitel die Wirbelsäule bis zum Steiß auf die Fersen eine Linie, die Arme seitlich angelegt, Ellenbogen durchgestreckt, neben die Füße zu Fäusten geballte Finger auf den Waldboden gestützt, Knöchel voran. Keine Miene verzog er, streng im Takt zitternd, sogar die Zigarette noch auf der Achse symmetrisch im Mund, den Rauch rhythmisch ausatmend, die Glut langsam heranziehend, starr die Augen darüber auf mich gerichtet, der ich zählte, ob auch sein Aschen, ohne einmal Hand anzulegen, nur mit Bewegen der Lippen, einem Metrum gemäß ablief. Immer wieder fiel ich heraus. Meine Zähne klapperten aufeinander, hielten sich dabei an keine stete Frequenz und verquirlten mir das Zählen im Hirn, erzeugten einen schrecklich skelettierten Ton: »Meiße, kalt ist schir.« – »Der Wald hat die Frische gepachtet.«
Hirschfaschiertes frisch aus dem Fleischwolf, tiefgefrorenes Fichtenkreuzschnabelfrikassee, feuersturmfordernde Schweineschwanzstücke für den Grill, filigrane Froschschenkel in Frischhaltefolie, frittierfettspritzende Forstschwerarbeiterschnitzel, feinfaserige Filets, schwarze Schulterschinkenwälder, verpackt von fachkundigen, fliegenden, richtigen Fingern in Fettpapier, Ćevapčići und Schaschlik, hinter Kurtis Ladentheke, all diese Schätze lagen allenthalben auf fröhlichen Zungen und wurden in freudigen Mündern geführt, wann auch immer das Thema im Gespräch auf die Fleischhauerei des Meisters kam, wohin es mich immer zog, gscheit finsteres Fleisch, was ich stets ersehnte, wenn ich den Einkaufswagen unter Halogenlampen schob, durch die steril ausgeleuchteten Reihen griffbereit liegender, in Plastik eingeschweißter Ware, über verlässlich alle paar Meter das Vorderrad fangende Fliesen, die nach ätzendem Citrusreiniger stanken und den ganzen Einkaufswagen erbeben ließen, in diesem rhythmischen Ruckeln und Scheppern das Ticken der Verfallsdatumsuhr und das Vorwärtsmucken der Kühlkettenunterbrechungssekundenzeiger nur verdoppelten. Kurti jedoch machte alle paar Wochen seine Kesselheiße, will heißen, kam in welches Haus auch immer sich das leistete mit seinem riesigen Topf, brachte das Wasser darin zum Kochen mit dem feuerspuckenden Mund eines Flammenwerfers, einem Schweißgerät, einer Gaskartusche, einer Fackel, einem Campingkocher, einem Bunsenbrenner, einem Sturmfeuerzeug, einem Streichholz, womit man auch wollte, die Show gehörte ebenfalls dazu. Dann drehte er den mitgebrachten Fleischwolf, faschierte die unlängst geschlachteten Jungtiere live, packte den Brei ins Gedärm, schnürte die Wurst ab, knotete sie zu und prackte sie hinein ins kochende Wasser, heizte ordentlich ein, fischte sie wieder heraus den frischest möglichen Gaumenschmaus. An alle Anwesenden verteilte er eine Zigarette, nickte, wies auf ein serviertes Weckglas, in das er schon die ganze Zeit kettenaschte, und sagte, »am besten vorher, ist eh noch zu heiß.« Gegen Aufschlag schlachtete er sogar unmittelbar, in der Badewanne, wechselweise auch auf folienausgelegtem Boden, brachte Haken mit, hängte das Tier an die Decke und schnitt die verwurstbaren Stücke im Beisein der baldigen Tafelgemeinschaft heraus. Berichten zufolge brachte er sogar manchmal die schwangere Mutter und begann die Prozedur mit einem Kaiserschnitt, »frischer gehts nicht, noch nicht mal Kalb«, sagte er dann, angeblich nannte er das immer den Kaiberlschnitt. Aber man soll ja nicht alles glauben, was die Gerüchteküche verzapft. Habe man genug Geld in der Tasche und Zeit zu warten, Kurti beginne das Abendmahl mit der Befruchtung bei den Kunden zu Hause, hieß es. Niemand hätte Kurti eine ganze Trachtzeit lang ausgehalten.
»So sieht man sich wieder«, unter dem Eichenstamm. Er zündete sich eine neue Zigarette an der alten an, drückte den Stummel aus und ließ ihn in einen unter dem Poncho hervorgeholten Plastikbeutel fallen. Er schenkte mir brühheißen Kaffee nach und hielt mir nochmal die Schachtel hin. »Jetzt sitzen wir hier.« Ich nahm eine Zigarette heraus, ließ sie mir von Kurti entzünden. Die züngelnde Flamme wärmte meine Finger an und schon beim ersten Zug wusste ich, Marlboro, vielleicht das Päckchen umdesignt, sicher nicht die Rezeptur. Ich pustete den Rauch Richtung Blättervorhang und Rohrdickicht, blähte dabei die Backen, achtete darauf, leise auszuatmen. Eichelgesiebt verließ die Schwade das Versteck, tiefsitzende Nebelfetzen, Morgentau, Bodenfrost, Frische und Kälte, brodelnde Kochtöpfe. »Wir zwei Glühwürmchen.« Kurti nickte. Ich trank von dem Kaffee. Er brannte im Mund. Eine taube Stelle fühlte ich dann mit der Zunge am Gaumen. Schweigend rauchten wir weiter. Kurti immer noch hingesetzt wie ein Moslem kurz vor dem Beugen, ich hingefläzt wie ein armer Poet im finsteren Wald. Ich inhalierte tief ein letztes Mal und schickte eine Atemwolke hinüber zu ihm. Sie waberte vor Kurtis Gesicht herum und tunkte die schwarze Schminke in einen grauen Ton, dass das Weiß seiner Augen und die Wangenfarbe sich näher kamen. Hinter dem Blättervorhang lag das Sternenlicht auf dem Wildwechsel, materialisiert auf Pilzen, wilden Gewächsen, Lianen und Zwergtannen, auf Krüppelkiefern und findlingsmäßig aus dem Boden stehenden Schieferschichten, über die Moos kroch. Wie ein nächtlicher Zuckerguss und grüngraue Streusel stritten und fochten die Pionierpflanzen und das vom Himmel kommende Licht um die freien Steinflächen, bis das Moos etwas schneller zur Stelle war, sogleich aber selbst erhellt, silberspitzig, was etwas wahnsinnig Trauriges hatte, wie Menschen, die als allererste ihren Fuß auf Festland setzen, sogleich zermalmt werden unter den nachrückenden Sohlen.
Ein Rascheln kam auf, von fern erst und bald von nah, als eine gewaltige Hirschsilhouette jenseits des Wildwechsels zwischen zwei umfangreichen, in ihren Wurzeln und Kronen zusammengewachsenen, von dickwindigen Misteln verzweigten, eine Pforte formenden Baumstämmen erschien, als die paarhufigen Beine, keine Körperteile, sondern eher fallholzige Verästelungen des Forstes selbst, schrittweise das Tier Brust voran, kapital und majestätisch langsam aus der Dickung zur Mitte der länglichen Lichtung brachten, als hätte es keine Wahl, eben jetzt in die Welt zu treten. Sein Haupt neigte und Kiefer entzweiten sich, Zunge und Zähne, Moos äsend, das zwölfendige Geweih, es schwebte da, gleichgestaltet der moosfelligen Schieferplatte, die das Tier nährte, das Schaufeln formende, abwurfbereite, moosig bastbesaitete Stück am Wildtierkopf, voll von Blutgefäßen die testosterongeschwängerte Trophäe, als ob sie am Opferaltar darniederläge. Kurtis stierende Augen, die oder wir, schweiften weg, der Wald war immer schon der Forst, sahen ab von der Lichtung, geh spazieren, taxierten das Beil, auf der wilden Seite, fixierten wieder mich. Seine Finger juckten nicht. Er wirkte müde und lasch. Dann haschte er doch. Fasste eine Zigarette aus der Packung. Das Klicken des Feuerzeugs hallte wider wie eine Flinte in leerem Wald. Aber bloß in mir, denn das Wildtier war nicht voll, weder Blei noch Moos, schon gar nicht sonst was, stand da, aß. Es sei wohl der Platzhirsch und fehle zu sehr, fehle zusehend, falle auf, wenn er ausfalle, nicht mehr auftauche. Kurti nickte, stockte, zitterte, rauchte.
»Warum kommst du nicht mehr zu mir?«
»Die Schlange ist zu lang.«