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Die Fremden im Dorf
ОглавлениеWiewohl ich mehrere Monate schon vormittagelang Fleisch holen fuhr in dieses Dorf, dort kam mir doch nichts zu Ohren über einen eigenbrötlerischen Fliegenfischer namens Ernstl. Der Greis war nicht anzutreffen so ohne weiteres, immerhin sparte den Alten selbst die Schlange in ihren Worten aus, anders als alle anderen Fremden im Ort. In Sachen Ernstl verloren auch kein Sterbenssilbchen meine baldigen sogenannten Vereinskollegen, mit denen im selben Wirtenzimmer zu sitzen, verschwistert in Feindschaft, über bitterem Wacholderbeer, ich mir noch nicht einmal vorstellte, während ich unter ihnen auf mein täglich Fleisch wartete. Sogar wenn das Thema dann auf Nina und die Herberge kam, auf Gerry und sein Gipsbein, auf dem niemand unterschrieb, ungeschickt habe er sich eben angestellt, ausgerutscht, ein Abwärtssatz, aus die Maus, die drei Treppen zur Herberge hinuntergefallen aus dem Haus, niemand nannte und kannte da den Alten beim Namen. Lange Zeit dachte ich, dass die Einheimischen einfach kaum etwas von Ernstl wussten. Aus farbenfroher Vorzeit, meine ich heute, stammte alles, was zusammenzustammeln gewesen wäre über den jungen Herrn Thalinger, bevor sein eremitisches Dasein fossilisierte in ritualisierten Formen, erstarrte, verknöcherte und verkalkte, gehauen in grauen Stein. Seit Dekaden schon kam er in dieses Dorf, um diesen Fluss zu befischen und im Anschluss wieder zu verschwinden. Sich über Ernstl zu unterhalten wäre wie von den Felsen zu sprechen, die im Winter Schneewehen verschleierten, von den kommenden ohngesichtigen Wolken, wie sie den Himmel verhingen, oder den dahingehenden Lichtstimmungen am Ufer.
Lange noch bevor die Fleischerei überhaupt aufsperrte: »Bitte«, ein Handrückenschwenken seinerseits Richtung Tür, hindurch putzmunter, und nach dem frühstückhaften Fischen begannen wir, Ernstl mit mir an der Seite und das Fliegenbinden in der Herbergsküche während des Messingschlagens der Kirchturmglocken. Weit drangen sie über das Dorf hinaus, verebbten aber schon auf der Hälfte des Weges zur Herberge flussaufwärts, wurden erst nur überdeckt und weggetönt von den Stromschnellen in grellem Klanggemenge, verhallten aber schon bald aus purer Distanz, nach ein paar Reifenumdrehungen, nachdem die Straße links wegbog vom jetzt unerhörbaren Strom, wo ich immer anhielt zum Pissen, am bewaldeten Straßenrand, Stille und Konzentration für mich und das Rieseln der Tropfen ins Moos, die alle landeten, wo ich wollte, ganz anders als zu Hause, wo ich manchmal daneben oder meine eigene Hose traf. Auch tot schon das Gerede auf dem Schotterparkplatz vor der Dorfkirche, das pünktlich zu Gottesdienstschluss anhob, nicht mal mehr als Schatten ahnbar wie die Schlange vor der Fleischerei, während Ernstl und ich in geographischem Sinne gar nicht allzu weit entfernt die Schnüre über die Wiesen fliegen ließen so lange jeden Mittag, bis die Spule keinen Klang mehr gab, bis wir alle fünfzig Meter Schnur, Vorfach voran, dirigiert durch die Luft schweben, die Fliegen kleebewachsene Brachen hinter sich, die anschließende Straße unter sich und jenseits des Betons sich in eine geöffnete Kastanienblüte niederließen, die wir anvisierten, bewarfen, trafen, fernab vom Schuss jeglicher Gequatscheschrotflinten, die weder auf Ernstl zeigten noch ihn als Patrone einlegten und verfeuerten. Viel eher als zu schießen, schwiegen sie ihn so tot, als wäre er schon marod oder gerade gar nicht hier, sondern abgefahren nach Graz zu Frau Thalinger, wo er das Gros des Jahres zubrachte, Dutzende Kilometer weit weg von seinem natürlichen Habitat, das so gar nichts mit dem Dorf zu schaffen hatte, bestimmt nur durch Weißweinrausch und Strömungsschall und dekadenlangen sowie meilenweiten Steirer Nachhall: »Denk immer an die Ratte! Wodurch unterscheidet sie sich von der Maus?«, fragte Ernstl, und ich antwortete: »Na, durch den Schwanz.« – »Falsch«, sagte Ernstl, der nackte Schwanz sei nur Gestalt. Er habe keine Bedeutung. Die offenbare sich erst in der Bewegung. »Ein Greifvogel fliegt eine Maus an. Sie flieht oder stellt sich tot. Beides beschert ihr sicheres Ende. Eine Ratte stellt sich auf die Hinterbeine. Sie mandelt sich auf und kämpft. Ohne Schwanz könnten wir die beiden nicht unterscheiden. Und das ist überlebensunerlässlich für uns.
In Graz damals warteten und wachten wir. Zum Verstummen brachte die rote Morgensonne den Nachtvogel. Franzosenvolle Kasernen suchten wir, fanden in den Hinterhöfen bröckchenweise Käse auf. Die Ratten wachten dort schon und warteten auf uns. Auf allen vieren schlichen wir die erdgeschossigen Fensterbretter entlang. Der müde Blick der Kasernenbesatzungsmacht schwebte über uns hinweg. Die Wachmannschaften übersahen uns, während wir an ihnen vorbeikrabbelten. So unähnlich waren wir uns nicht. Auch sie schliefen nicht, wachten über die Stadt. Sie warteten, was passierte im Land, in ihrem Viertel der Nation, ein nationales Viertel. Ein gutes Viertel warfen sie weg von jedem Stück Käse. Während es in der Kaserne nach Kaffee roch, näherten wir uns den Müllcontainern, die uns nährten. Der Gestank erhob sich dort aus der Nachtkühle und die Ratte fauchte schon im Hinterhof. Der Mond stand noch monsterhoch am Himmel und setzte die Ratte ins Licht. Doch drinnen, hinter dem Fenster, zwischen vier schützenden Wänden, verflucht, da standen sie. Unablässig linsten wir dorthin, wie ein Frosch, von unten nach oben, dass ja nur der Hals nah am Grund war, dass der Raubvogelblick hinwegging über unser Genick. Günstigen Winkel hielten wir, den Kopf unten, geduckt zum Kopfsteinpflaster, geköpft vom Fensterbrett. Wir und die Ratte blieben dem Franzosenblick entzogen, sie und wir und das Tier, alle unsichtbar. Nur die Schwaden vom Kaffeedampf sahen wir abgeschnitten unter der hohen stuckverzierten Kasernendecke. Da waren sie drin, in einer ehemaligen Kadettenanstalt, dann Ex-Gymnasium, humanistischer Art, alsbald Lazarett. Da stand kein Lazarus jäh wieder auf, bis die Besatzer darin wachten, Kaffee machten, echten, aus Angola. Wir krabbelten dahin, zu unserem Essenstisch, dem Kopfsteinpflaster vorm Müllcontainer. Dort war unser Platz, dort fiel etwas ab, manchmal sogar etwas Gewand, ein Latz, der Lendenschurz, gespannt um unseren Schwanz. Nur Knickerbocker hatten wir an, wie man dann später sagte, um den Amis weiszumachen, man habe was gemeinsam.
Verstohlenen Blicks schlichen wir, den Kopf im Genick, an die Hauswand geduckt, dass die eh schon schorfverklebten Ellbogen und Knie wieder aufrissen, auf allen vieren, zum Hinterhof. Ah, François, schau mal da, lass die Ratte abknallen, hätten sie uns gesehen, Gewehre in Anschlag sofort, es wäre sogar verstehbar gewesen. Aber so aufmerksam waren sie nicht, ließen achtlos Käse übrig, den die Ratte witterte, auf den wir uns zubewegten, nur Vanillin und Schlagobers in Franzosennasen, wiewohl es bestialisch stank hier draußen, während sie dort drinnen todmüde wachten über dieses lebensmüde niedergelegte Land, das zum Himmel roch. So nah dem Pflaster, während der Franzos hocherhaben war, seine Flügel rümpfte, sich aufschwang in den Besitzerhimmel, kaffeedampfvoller Nase sah er nicht mal auf unsereins runter, sondern über uns hinweg, was für ein Glück, dieser gottverdammte Backstein, gleich geschafft. Das Heben, das Senken, das Abstellen, sich wieder Vorknöpfen und Zurbrustnehmen der Kaffeetassen, Geklapper von Frühstücksbesteck, seidenes Zurren vom Krawattenschürzen eines Gecks, quietschendes Wichsen schwarzgenagelter Stiefel, Oberstschimpfen über Espressoverbrühen, Filterkaffeeverschwendung, Parfumflakonzirpspritzverschlüsse. All diese Geräusche drangen aus den Fenstern, unter denen ich mich dahinbewegte, deckten unsere frühmorgendlichen Schritte zu, das Schuhu der Eule, inzwischen stumm, deswegen auch schon, das Fauchen, das Fiepen, eine Ratte, die sich von der anderen Seite hörbar an den Käse ranmachte mit ihrem Schwanz, der rund um das Stück herumscharwänzelte wie die Peitsche eines feisten Wächters, die sich flugs in eine Schlange verwandelte, als wäre der Schwanz das Lebewesen und die Ratte das Anhängsel.
So standen wir uns im Hinterhof nebst dem Müllcontainer gegenüber, in der Mitte das Bröckchen Schimmelkäse, das wir beide einkreisten, somit einander näherten, wachsame Schritte, das Abtasten zweier Gegner, der Hinterhof der Ring, der Roquefort der Gewinn, allein der Name schon, Spott über uns, über Österreich, dort, ein Rokokofort, hier ein Müllhinterhof, wie Gott in Graz sie, während wir mit Ratten kämpften und sie uns übersahen. Nur wir schauten uns selber an, und zwar im Bild der Ratte, dieser bösartigen Viecher, wie sie auf allen vieren krabbelten, ihren Schwanz hinter sich herzogen, der so lang wurde, im Gleichschritt im Kreis, jeder seinen Radiant, die Ratte und wir, dass wir dem Vieh mit jedem Schritt zustiegen, dem roten Backstein den Rattenschwanzzirkel eingezeichnet, mehr als einmal keine Zehe entfernt vom Fußaufsetzen, davor, ihn plattzutreten, bevor der nackte Schwanz doch noch wegglitt mit diesem schrecklichen Schleifgeräusch, während wir weitergingen, die Ratte fixierten, den Schwanz übersahen, nur in die Knopfaugen starrten, die spitzen Zähne gewahrten, nicht achteten den Schwanz, der immer länger wurde. Wie Krabben krabbelten wir im Krebsgang beide unseren Radius haltend, stets dieselbe Umlaufbahn zum Roquefort wahrend, während am Himmel noch backsteinrot der Mond wohnte wie der Franzos in der Kaserne und der Nachtvogel auf seinem Ast, schon verstummt, dass die Ratte ihrer Sache sich ganz sicher fühlte, munter und frisch herausgeputzt das Fell, hochglanzpoliert ihre Augen, voller Achtung vor uns wandte sie den Blick keine Sekunde ab. Ihren Schwanz zog sie nach, ihr Fiepen erklang, ihre Krallen schabten, und dann, groß, so riesig, ein immenses Tier, sie stellte sich auf, hoch genug, Ton zu geben, Gestank zu riechen und sich daraus zu erheben, den Schwanz stolz zu tragen, und trotzdem unsichtbar, welch Graus, wie groß sie war, und doch klein genug, nicht zu sehen für den Franzos, der aus dem Fenster glotzte gen Alpen. Wir aber waren auf allen vieren, erniedrigt selbst vor der Ratte, dass wir sie packen wollten und treten, uns damit selber freistrampeln, aber barfuß waren wir, und diese spitzen Nagerzähne, die sie jetzt spitzte zum schlimmen Ende im Hinterhof.
Noch nicht bereit, den Roquefort aufzugeben, unser Fußtritt ihn in hohem Bogen in Sicherheit zu schießen und sein Zerstieben in noch kleinere Bröckchen, wovon der größte flog davon in Richtung Müllcontainer. Wir sausten hinterher, wir, die Ratte, der Sichtwinkel riesiger, der Franzosenblick neigte sich, vom Fensterbrett fast schon zu sehen. Ein Schatten trat heran, schaute kaffeewach wohl durchs Hinterhoffenster, hörte sein Absatzklacken, der eigenen Sporen Scheppern, an der Schulter Epaulettensäuseln, nicht aber unsere Sohlen, nicht die Rattenkrallen, nicht uns johlen. Immer schneller, bei jedem Schritt geduckter, unvermeidlich kleiner wurden wir, je weiter wir uns entfernten vom Fenster, umso buckliger spurteten wir, stets flacher mit allen vieren am Boden auf den Käse zu, der da vorne lag, wartete im Sichtfeld der Wächter, und wir zunehmend schlimmer im Hintertreffen, das Nachsehen noch im Angesicht der Tiere zu haben. Dabei wurde ihr Schwanz stetig länger wie der Faden einer davonrollenden Zwirnspule auf Dielenboden, in den Ritzen das Klack-Klack-Klack dieser Krallen auf dem Backsteinboden, an dem unser Ohr fast schon auflag, dass wir es vibrieren spürten, das Schlenkern dieses Schwanzes, den wir langen mussten dringlicher noch als Roquefort. So viel an Vorsprung gewann sie mit jedem Satz, sprang weiter vor und wehte dieses Rattending durch die Luft, dass uns der Atem knappte und erst die Distanz zwischen uns, der Abstand unfassbar, die Strecke, fast wären wir drauf geblieben. Die Ratte schneller, kecker, dreckiger, die Ratte und der lange Arm, der Sprung, Strecken, schorfverkrustete Ellenbogen, in vollem Flug, Fingerspitze und letzter Schwanzzipfel, ihr haarscharfes Nahen einander, schon im Schließen die Hand. Ein Schatten glitt den Arm entlang und brachte eine Windböe, die alle Härchen das Glied entlang aufstellte, weiterwehend die Ratte zu Boden prackte mitten im Satz. Wir fielen voll auf die Schnauze, hatten nichts zwischen den Fingern, den letzten Augenblick noch im Schädel, den wir wieder wendeten hin zum Fenster. Ein fassungsloses Franzosengesicht, dem Müllcontainer zugewandt, ein Tohuwabohu aus Federn und Fell. Chaos, fliegendes Fell, Fiepen, Krallen, Hacken, ein Knäuel. Fast lag auf unserm Arm noch der Habichtflügel Schatten. Er veredelte den Dreck auf der Haut braunschwarz zum ledernen Falknerhandschuh. Es schoss uns ein, im Sprung gestreckt, den Arm gereckt, im Flug, Raum beansprucht. Einmal sind wir nicht zusammengezuckt, sondern haben uns hechtsprunglang gemacht. Da kam dann der Habicht, in Verlängerung unserer Hand, als hätten wir ihn losgeschickt, zur Hilfe und nieder mit dem Rattenvieh. Die Flügel peitschten, die Zähne bissen, der Schwanz stand, der Habicht flatterhaft, der Franzos fassungslos, die Ratte kampfeslustig, wir unbeachtet und nichts wie los. So zogen wir ab. Wir kämpften. Wir hielten die Situation aus. Wir warteten auf den Auftritt des großen Habichts. Er sah aus höchster Höhe auf uns nieder, er war uns blickwinkelgeneigt.«
»Und so leid es uns tut, Siegi, fast alles besteht aus Kämpfen mit Rattenschwänzen. Es war ein Erlebnis. Der Überdruss am Rattenschwanz ist immer sinnlos. So was verdrießt uns nur. Find dich damit ab. Es gibt kein Ergebnis.« – »Und Vermögen?« – »Das wird den Erben vermacht.« – »Und ist das nichts?« – »Mammon«, Ernstl sprach es aus wie die französische Mutter, »hat immer noch alles verdorben. Sollen selber schauen, wo sie bleiben. So war das auch bei uns. Der Käse, denkst du jetzt sicher, Siegi, ausgeschissen in den Fluss. Vorher noch durch die Grazer Stadt gelaufen. Dachten schon, wir müssten das Essen verstecken. Aber meinst, da hätte unsereins irgendeiner angeschaut. Die Passanten mit ihren Hüten und Koffern sind einfach weiter ihren Schwarzmarktgeschichten nachgegangen. Die ersten Diven sind schon wieder herumchauffiert worden in den KdF-Käfern. Erst dachten wir noch, die wollten sich nicht einlassen mit diebischem Gesindel wie uns, das fix samt Roquefort vors Militärgericht kommt. Aber von Soldaten wimmelte es an jeder Ecke. Sie verloren Kaffeepäckchen beim Hütchenspielen, steckten einheimischen Schönheiten Zigaretten ins Hutband, unter dem es blond hervorwallte. Wir, die Nase hoch oben, den Roquefortgeruch darin. Die Lider offen, den Blick auf einem Level mit den fremden Köpfen. Wir versuchten einen Augenblick Kontakt herzustellen. Und nicht ein Mensch schaute auf uns. Wir brachen immer wieder ab vom Roquefort. Die Bröckchen flogen durch die Luft. Die Passanten schossen wir ab. Wir trafen sie alle. Aber keiner hat sich umgedreht. Sie wischten nicht mal den Dreck weg von ihrer Kleidung. Und dann war nur noch ein klitzekleines Fitzelchen Roquefort in unserer Hand. Draufgestiegen waren die Passanten mit ihren geschissenen Schuhen aus lauter Bosheit. So viel Beachtung haben wir dann schon gekriegt. Da sind wir zum Fluss abgezischt, das letzte Stückchen zu verspeisen. So Zucker, dass wir, auf einem Stein sitzend, mit Zungennagen und Zahnspitzeln noch das letzte Fitzelchen herauskitzelten. Es steckte noch vom Tritt unter dem großen Zehennagel, an den wir Hand anlegten, die Fußsohle hoben, sie an unseren Mund zogen, uns hinunterbückten zum eigenen Dreck, die Lippen fast am Nagel, den Rücken krumm, da sahen wir, dass unser Lendenschurz liegengeblieben war im Hinterhof. Wir standen auf und schauten unsere Spiegelung an im Fluss und überlegten so ruhig wie möglich. Sie wachten ja schon alle. Und der Lendenschurz lag im Sichtfeld des Fensters. Wir verbrachten also die Nacht am Ufer, versteckten uns gut in der Au. Eine Partie dieser Bauerntrottel von den umliegenden Höfen überlebten wir. Sie kamen einhergestolpert bei Einbruch der Nacht, voll mit selbstgebranntem Zeug. Zwar war an uns nichts dran, aber das war ja derzeit bei allen so. Oft konnte man Leute sehen, denen Finger fehlten. Die Forellen waren auch nicht wirklich proper. Fingen eh keine, diese Sauproleten, zu grob ihr Fischen, zu ungehobelt ihre improvisierten Holzruten. Sie blieben hungrig nachts, die Bottel die meiste Zeit im Mund, sonst in der Hand. Sie waren sogar noch schlimmer als die Bierschädel heute. Dass uns die ihren Stecken durchgerammt und uns gegrillt hätten, kannst sicher sein!
Der Nachtvogelschrei erklang noch über Graz, da marschierten wir schon los, froh wegzugehen, der gesitteten Bagage entgegen. Bevor jemand wachte in der Kaserne traten wir in ihr Sichtfeld. Und der Lendenschurz lag ja wirklich da nebst den Kampfspuren vom Vortag. Bist du deppert, der Habicht hat ausgeschissen toter als tot im Hinterhof. Eine Saat Rattenbisse spross aus seinem Gefieder. Der geschwungene Schwanzfedernkranz war ausgelichtet wie eine abgemähte Monstranz. Nur eine Schwinge stand noch ab. Und genau im selben Winkel auf den Habichtanus lag auf der anderen Seite der Rattenschwanz, dass es auf dem roten Backsteinhintergrund wieder zwei Zinken ergab, wie die Beine eines Hangman-Strichmännchens. An dem Arrangement machte sich auch schon eine Maus zu schaffen. Als wir näher herantraten, fleuchte sie davon, dass der haarige Schwanz ihr hinterherhechelte. Und in unser Sichtfeld sturzflog die Schneeeule, stob absolut lautlos der Maus hinterher. Losreißen konnten wir uns kaum von diesem Schauspiel. Dann wandten wir uns ab, den Lendenschurz noch nicht gegürtet, schauten in den Mündungslauf eines Gewehrs. Der Finger des Franzosen am Abzug zitterte. ›Wer bist du?‹ Ich sah den zerfledderten Habicht, roch Verwesung, fast Pestilenz, sozusagen schon Cholera und quasi den Dünnschiss in der Franzosenhos, das hat er noch nie gemacht, ein Reservist, der jetzt erst tapfer die Besatzung macht, und die Schneeeule, wie sie die Kralle hebt, der Mauskopf schaut heraus, geht immer höher und verschwindet vorm anderen Kopf, der kurz ruckt, wie zum Kuss, Schnabel voran, und der Kopf reißt ab und fällt, dass es das schneeige Gefieder sprenkelt in Schwarzblut und Weißschuld, und erst das Hacken dieses Tiers, wie mit einem Bajonett, das Herausziehen der Innereien, sage ich dir, mein Rattenschwanz stand und ich mandelte mich auf und ich sagte: ›Wir sind Ernstl Thalinger!‹, und der letzte Vollmondscheinstrahl vor Dämmerung vergoldete die tellergroßen Schneeeulenaugen zu blonden Bällen.
Der Franzos kannte sich natürlich gar nicht aus, und die Frage war nur, ob wir eh unser Telefonat bekamen. Seine Frage war dann, wen wir anrufen wollten, und wir sagten, wir hätten im Elsass gekämpft und würden gerne ein paar Takte unserer besseren Hälfte pfeifen, wir würden doch sehr hoffen, die Marseillaise als Warteschleifenmusik«, all dies konserviert in Ernstls Stimme, als ob das noch kein Ergebnis war: »Ja, und da hast du dich dann mit einem einzigen Anruf rausgeboxt?« – »Sicher! Am Schluss wollten sie noch wissen, wie wir schlichen in den Hinterhof. Holladira, sagten wir, voilà die Ratte, und sonst nichts mehr. Dann gab es ein bisschen Reibereien, ein paar Papiere, Verhöre, Einzelhaft, der ganze Rattenschwanz, den sie dir anhängen, ein Wurmfortsatz, anatomisch absolut bedeutungslos, aber evolutionär das Allerwichtigste. Wie wir wurden, wer wir sind. Wir waren ja inzwischen eine Ratte. Keine Chance, niemals hätten wir unser eigen Loch gestopft. Wir verrieten die Rattenlinie in den Kasernenhinterhof nicht und nahmen sie jeden Morgen. Vor der Dämmerung noch spazierten wir ein und aus, die Angst vorm Nachtvogel abgelegt. Wir schlugen uns durch und fraßen den Müll. Er wurde mehr mit der Zeit, der Container quoll fast über und auch eine neue Generation Fische schlüpfte. Ratten haben wir lange keine mehr gesehen, die waren noch nicht auf zu unsrer Frühvogelstunde. Außerdem konnten wir gut auf ihre Gesellschaft verzichten. Das sind mörderische Wesen, die zwingen ihre eigenen Kinder zum Selbstmord. Ein brutales Sozialsystem ist das. Manchmal sterben Eltern eben. Dann werden die Waisen wieder eingegliedert. Aber sie müssen ab dann als Erste fressen. Sie sind Vorkoster. Das funktioniert gut. Vergiften kannst du sie nicht. Heute sagt man in Wien eine Ratte pro Einwohner. Damals in Graz haben wir die Müllcontainer durchwühlt und sind draufgekommen, dass wir die Vorvorkoster sind. Von da an einzige Nahrungsbeschaffungsquelle nur noch der Fluss«, sagte Ernstl und nickte so bedeutungsschwer, dass ich mich ihm einfach entgegenstellen musste, nicht anders konnte, als ihn zu fragen, was war denn mit Errungenschaften, mit Trotzkämpfen, was denn wäre, wenn er all das aufschriebe, ob das nicht ein Ergebnis wäre, etwas, das übrigbliebe, und er sagte, er habe Bücher brennen sehen, weil die Zeiten kalt waren. Und ich sagte lauthals, die würden heute problemlos nachgedruckt, es stimme alles nicht, was er erzähle, es gebe ein Fortschreiten, und das bleibe, er total lapidar, keinerlei Zeit für Auseinandersetzung, ich und mein Alter einerlei: »Auf unsere alten Tage zahlt sich das nicht mehr aus. Wie viele Doppler trinken wir pro Tag«, und ich rechnete es ihm vor, warf ihm den Schmierzettel hin. Er nahm einen besonders großen Schluck, stellte die Flasche auf den Tisch, grün war sie, weiß das Etikett, Burgenland in farbigen Lettern, wie Wiesen, er habe heute mehr Durst, und er winkte ab, er wisse ja gar nicht, wie er schreiben solle.
»Und wenn du einfach mit dem ersten Muster anfängst.« – »Sicher nicht, Fliegenfischen reicht, aus die Maus«, er hatte wieder auf seine Schiffchenstrecke auf und ab an der Tischkante zurückgefunden, jedweder Zug abgefahren, dass da noch was zu machen war an unseren gemeinsamen Vormittagen außer Fliegen. Er griff die Flasche, wiegte sie, deklamierte, dass ich mich resigniert hinter den Bindestock klemmte, voll Groll, »bedenke, nicht immer haben wir einen Greifvogel parat. Nicht auf jedes dahergefleuchte Getier können wir einen Habicht hetzen. Deswegen braucht es den Schwanz. Um die Ratte zu kennzeichnen.« – »Verflucht, du hast gesagt, verdammt, der Schwanz wäre nicht wichtig«, ich schrie. Er wisperte: »Ist er auch nicht, zumindest nicht für die Maus, wie ihr auch die eigene Existenz nicht wichtig ist. Der Ratte hingegen ist ihr Leben wichtig. Sie schleppt ihren Schwanz die ganze Zeit mit sich herum, er ist das Zeichen ihrer Gestalt, ihre Potenz. In dem einen Moment dann, von Angesicht zu Angesicht mit dem Habicht, bekommt alles Bedeutung. Übrigens ist das beim Mauseschwanz auch so. Aber die verendet. Die Ratte lebt. Also lerne den Rattenschwanz zu lieben. Ziehe ihn nicht hinter dir her durch den Dreck. Führe ihn stolz vor dir. Denn nur so wirst du Angesicht in Angesicht mit dem Fisch letztendlich bestehen. Ansonsten bist du nichts als eine ahnungslose Maus, der ihr Dasein als Maus nicht wichtig ist.« – »Besoffenes Geschwätz, jetzt ist der Habicht der Fisch, oder was?«, ich schmollte. »So oder so ähnlich. Woran erkennt man denn den Habicht?« – »Wahrscheinlich nicht unbedingt an der Gestalt, nehm ich an, ja?« – »Doch, an der Brust, sieht genauso aus wie die des Sperbers, bloß ist der kleiner, wie man sagt, gesperbert.« – »Wie Hahnenhecheln vielleicht?« – »Der Gockel ist dann nochmal kleiner. Und das kleinste Glied der Kette ist die Fliege, die wir mit der gesperberten Feder versehen. Das ist ihre Gestalt. Angesicht in Angesicht mit dem Fisch offenbart sie uns dann ihre Bedeutung, du wirst sehen, Forellen kämpfen, sie sind Ratten, dagegen kommst du als Duckmäuserich nicht an.« – »Was ist mit Wissen, Können, Vermögen?« – »Mister Heehrmann, zehn Jahre in der Wüste mindestens, nehmen Sie an?« – »Herr Thalinger, Sie verarschen mich!« – »Beizeiten? Kein bisschen. Und jetzt los! Liebe den Rattenschwanz!«