Читать книгу Die Forelle - Leander Fischer - Страница 15

11 Siegi versucht sich in der
ernstllosen Zeit zurechtzufinden

Оглавление

Jeden Tag ging ich an einer ungemein perfekten Stelle vorbei, seit Ernstl nach Graz abgereist war, und überlegte. Vom jenseitigen Ufer hingen Trauerweidenzweige in die Wasseroberfläche, genau neben das Gestein, es ragte aus dem Fluss. Davor bildete sich eine sprudelnde Untiefe, die seitlich des Brockens die Strömung beschleunigte und die Zweige noch mehr in den Schatten trieb, den Stein zum Fliegengrab verwandelte, die Stelle dahinter umbrachte, ein toter Winkel, unfischbar unter Trauerweidenzweigen. Einen Vorhang bildeten sie dort, nahtlos. Eintreiben lassen konnte ich also vergessen. Selbst wenn ich es schaffte, die Fliege dorthin zu dirigieren, der Stein war genau in der Mitte des Flusses, ich hätte einige Arme Schnur auf dem Wasser, die in der schnellen Strömung abtreiben und die Fliege wieder hinter dem Stein hervorziehen würden. Aber daran war ja gar nicht zu denken, weil die Äste mir den Wurf verstellten. Die andere Flussseite war nicht zu betreten, dort wucherten Pflanzen und hinter einer steilen Böschung hob eine Pferdeweide an. Den Zaun durchströmte Elektrizität. Den hätte ich erst überwinden, mich dann an den Gäulen vorbeischleichen, die Böschung hinunterschlagen müssen. Das sprach nicht für sich. Ich überlegte, die Fliege ins hinterste Eck den Fluss hinaufzuwerfen, sofort Schnur nachzulegen, die zu mir heruntertriebe und die Fliege vom anderen Ufer her in einem Bogen vor den Stein ziehe. Aber was dann? Wenn er so bisse, der Fisch, straffe sich die Schnur, lege sich flussaufwärts um den Stein – und risse. Mindestens auf sechzehn müsste ich mit dem Vorfach hinaufgehen. Vergiss es. Das sieht der Fisch. So ging ich tagaus, tagein den Fluss ab und überlegte. Die Stelle war zu perfekt, sie nicht zu befischen. Natürlich stand da der Gigant. Zeitweise sann ich darüber nach, was wäre, wenn ich ins Wasser watete und die Weidenzweige einfach abzwickte. Aber das machte ja nur die Stelle unattraktiver. Die Ameisen würden dann nicht mehr vom Baum ins Wasser fallen. Außerdem hat das Knacken einer Stelle nur dann ihren Reiz, wenn sie möglichst schwierig zu befischen ist. Und ich, jetzt noch Schüler, würde die schönste Forelle ganz ohne die Hilfe des Meisters erwischen, dann selbst schon Meister. Insofern war ich sehr glücklich mit Ernstls Abwesenheit und meinen quälenden Gedanken, wie denn zu fangen wären die Fische hinter dem Stein. Bewegung tut solcher Überlegung gut, und so ging ich auf und ab den Fluss, die verschiedensten Stromschnellen und Gumpen, Kaskaden und seichten Äschenpassagen, Saiblingsstellen, Sandbänke und Wildränke entlang, immer nur den einen Stein im Kopf. Wenn ich dann müde war, die Sonne hitzewallend den Zenit erreichte, kehrte ich in den Gasthof ein, auf die ebenerdige Holzveranda. Ich blickte versunken ins Wasser, sah mir die großen, schon jahrelang dort gewachsenen Schonstreckenforellen an, wie sie majestätisch schwebten, und dachte daran, blickte hinüber zum Stein, wie viel kräftiger, wohlgeformter, kurz vollkommener noch das Tier sein musste, das dort auf mich wartete. Bis mir eine Lösung einfiele, es anzufischen, kaufte ich mir einen Eisbecher. Dann saß ich vor dem schmelzenden Dessert in der Sommerhitze. Ich kaufte viele Eisbecher. Und die Vorstellung, die Forelle dort doch noch zu fangen, zerrann im Vergehen der Tage.

Wie Vanille, so blond die Sandaufschüttungen im Strom vor mir. Etwa so, als bestellte ich statt Eisbecher Topfenstrudel, von etwas hellerer Farbe also jene Inseln im Fluss, die zwar betretbar waren, in deren Oberfläche man aber Ballen voran, gefolgt von Zehen und Ferse, einsank, gerade noch rechtzeitig den Fuß hob aus dem eigenen Abdruck, der sich sogleich anfüllte bis zum Pegel rundum, Wasser vom Grund, schlammig ungesund koloriert, und futsch war die Spur, man selbst einen Schritt weiter, wo man längst wieder versank, bis man wieder im Gasthof saß unter blauem Himmel. In dieser Farbe schraffierte ich jene Flächen der Dünen, die bei höherem Wasserstand unter der Oberfläche lagen. Der lange Eislöffel hatte die Farbe des Kugelschreibers, den ich benutzte zum Einzeichnen der Kiesbänke in die Mäander. Sie entstanden nur durch zwei tintenblaue Schlingen, gut geschwungen, violaschlüsselig. In der Musikschule saß ich, wartete auf verspätete Schüler, wartete aber nicht, beschäftigte mich, nahm alle meine mit Ernstl verfertigten Notizen zur Hand, welcher Fisch auf welches Muster, an welchem Tag, welche Stelle, versuchte, Rhythmen abzuleiten aus ihren Bisszeitortschnittstellen, suchte wiederkehrende Metren im Fischverhalten, aber da waren keine, Rückschlussverweigerung, nur Johannes: »Warum spielst du nicht?«, er stand in der Tür, die Violine lag neben mir, die Notizhefte am Notenständer, ich hingefläzt am Sessel, Arme vor Brust gekreuzt, Rücken gegen Lehne, Beine ausgestreckt, Krausbirn aufgestellt, glühend, die Ohren. »Du hörst nicht richtig«, sagte ich. Zögernd trat er über die Schwelle, fraglich sein Gesicht. »Hörst du nicht?« Er schüttelte den Kopf. Also nahm ich die Geige, raunte »das Rauschen«, und strich ein sattes Vibrato. »Ich komm manchmal her«, sagte er, schmiss den neonkarierten Schulrucksack von seinem Rücken und setzte sich neben mich. Ich war nun dran, ihn anzuschauen, als wäre was. »Aber du spielst nicht mehr.« – »Also nochmal zum Mitschreiben. Du steigst auf der Heimfahrt aus dem Schulbus. Um mich hier zu belauschen. Vor dieser schalldurchlässigen Tür. Da wartest du dann eine Stunde. Bis zum nächsten Bus?« – »Manchmal auch länger«, sagte er und mir wurde etwas mulmig. In aller Unschuld saß Johannes da, noch kein Stoppel Bart, abartig reine Haut. Sein grauer Pullover mit Regenbogenemblem, Captain Beefheart and his Magic Band. Ich vermutete, das Kleidungsstück gehörte Lukas. Ich spekulierte, deshalb war er hier, konnte sich unmöglich blicken lassen im Zug, den vielleicht auch sein großer Bruder nahm. Der kleine Kerl konnte ein regelgerechter Berserker sein, wenn es um sein Eigentum ging, wenn es um Lenas sinnlose Keinkleidertauschklausel ging, es hielte sie ohnehin schon jeder für Zwillinge etc. pp. Ging es allerdings um die Stücke seines jüngeren Bruders, war Lukas immer nur in eigener Sache unterwegs. Auch die neue Anlage konnte kaum einen Tag im Arbeitszimmer stehen, ohne dass er Anspruch darauf erhob, indem er die Boxen einfach davontrug in sein Zimmer, mit den dortigen alten vertauschte. Lena begeisterte die Fähigkeit ihres Sohnes, autodidaktisch erworben quasi, die Drähte gezwirbelt, in den Verstärker gesteckt, alles angeschlossen, ohne sich zu stromen. Das hatte zuletzt noch ich gemacht, und schon hatte es auch Lukas auf dem Kasten, da floss das Elektrosignal, durch die bohrgelöcherte Regalrückwand, die Leiste am Fußboden entlang, wo extra Miniaturhalterungen angebracht waren, superverdrahtet das plastikbeschichtete und magnetisolierte Kabel. Und erst dieser furchtbare Musikgeschmack, der dann alle Räume der Wohnung verdarb, vibrierend die Wände entlangkroch, den Boden entlangpoch, schon beim Aufstehen in die Fußsohlen, selbst durch zentimeterdicken Plüsch, in den Schlafzimmerteppich, während Johannes sich schon im Gang den Arm rieb, rot angelaufen britzelte er, eine Brennnessel hatte ihm der Herr Bruder verpasst, weil er es gewagt hatte, nach lauterem Bass zu verlangen, Lena schon im Krankenhaus, ich ließ den Rüffel aus, scheiß drauf.

»Was habt ihr denn heute so angestellt?«, fragte ich im Unterrichtszimmer sitzend Johannes. Noch waren sie da, die roten Streifen auf seinen Armen. Egal wie viele Ellenbogen ins Gesicht er abkriegte, immer wieder griff er seinem Bruder ans Genick, ihn zu umarmen, ständig zu zweit unterwegs die beiden. »Wir waren auf der Polizei«, so ein Scheiß, vielleicht verhaftet der Kleine. »Klassenaktionstag.« – »Und was habt ihr da gemacht?« – »Die haben uns allerhand Sachen erklärt. So was machen wir immer, wenn Konferenzen sind und die Noten schon feststehen. Oder wenn eine Schularbeit bei den Lehrern zu Hause liegt und es um nichts geht gerade. Heute hat uns der Herr Gemeinderat was erzählt vom Flächenwidmungsplan. Da ist festgehalten, welche Grundstücke wozu verfügbar sind, Äcker, Baugrund, Wohnsiedlungen, Waldgebiet, Erholungszonen und so.« – »Dir ist aber klar, dass diese Widmungen bloß so lang fix sind, wie niemand dem Herrn Bürgermeister eine Kiste Wieselburger unters Flugdach stellt.« – »Dann gelten die nicht mehr?« – »Die werden umgewidmet.« Und dann stand in der Tür, die Johannes offen gelassen hatte, die verloren geglaubte, diesmal wahnsinnig gut angezogene junge Frau ohne Totenkopfring am Finger und mit wasserstoffblondem Schopf. Während ich Johannes ins Wartezimmer komplementierte, wo er dann abends noch über seinem Hausaufgabenheft mit neonorangefarbenem Kunststoffumschlag saß, sah ich schon den ganzen Ammoniak von ihrem verwirrten Kopf durch die Abflussrohre strömen und den Fluss verpesten, und ich machte, weil Johannes sich immer noch nicht bewegte, eine rotierende Handgeste, die den Jungen gleichzeitig hieß, sich zu verabschieden, und die junge Frau, Platz zu nehmen. »Hey du« und »Hey Conny«, sagten sie einander im Vorbeigehen, »Ballett ist so scheiße«, sagte sie mir, spielte so gut wie noch nie, schickte mich quasi kommentarlos nach Hause, wie ein Mathelehrer von Lukas beim Eintritt in das Klassenzimmer am Elternsprechtag mich mal fragte, was ich da mache, ich solle nach Hause gehen, ich solle meinen Hobbys nachkommen oder was auch immer.

»Wo fährst du denn hin?«, fragte mich Johannes auf der Heimfahrt. Ich müsse noch wo hin, sagte ich, fädelte auf die Bundesstraße ein und zischte sie runter Richtung Oberland, um noch die abendliche Flusstemperatur zu messen. »Ich bin dir nicht böse«, sagte Johannes, »dass du so viel fischen gehst. Schön, dass du was gefunden hast. Apropos«, und gleich würde er mich um etwas bitten, was Lena verbot, »apropos was? Hobby oder Familie?«, fragte ich. »Beides. Ich habe mir überlegt. Darf ich zu Lukas ins Zimmer ziehen?« – »Was sagt deine Mutter dazu?« – »Nichts«, was mir ja bekannt vorkam. »Nun gut, aber warum?« – »Also, er ist so cool.« – »Und weiter?« – »Er hört Musik.« – »Nicht, warum er so cool ist, sondern warum du zu ihm ins Zimmer willst.« – »Er hört Musik«, das verstand ich, drehte das Autoradio so laut wie möglich auf, Eric Clapton mit Backgroundchor in Altstimmlage, dass Johannes und ich schrien. Unser Gespräch handelte weiter vom Flächenwidmungsplan, pro österreichischer Gemeinde genau einen. Legt man sie exakt aneinander, jeder einzelne so groß wie ein ganzer Konferenzraumtisch, ergibt sich die genaueste Karte unserer Nation, offiziell zumindest, Maßstab eins zu fünfhundert. Ich fertigte von da an Blaupausen meines Flusses an, ging rechtsseitig des Verhältnisses einen Zentimeter runter, eins zu vierhundertneunundneunzig. Das ganze mir vorschwebende Konvolut an Notizheften, Merkzetteln, Post-its und DIN-A 4-Karten-Mosaiksteinchen taufte ich mein Fischstandprotokoll. Abends saß ich selig davor, spottete im Geiste über Bürgermeister und Gemeinderäte, die glaubten, irgendetwas zu verstehen von meisterhaften Bürgern und beratschlagender Gemeinschaft, fing wie ein Omen mit der Forellenstelle an, wo zwischen jenen beiden Brücken Ernstl Volki panierte im Morgengrauen, während ich mich langsam entfernte, auf den Kescher in meiner Linken gestützt wie auf einen Gehstock, in der Rechten Notizheft und Stift. Ich ging rückwärts, um den Moment in mich aufzusaugen, wie der Meister warf, Schritt für Schritt.

Der unterste Bezugspunkt der Stange, die goldene Spule, schillerte im Licht des Sonnenaufgangs bronzen. Sie drehte sich, verwehte und verwirbelte den Schein damit, machte ihr Klack-Klack-Klack, solange sie Schnur gab. Ernstl ließ die zittrigen Finger seiner linken Hand von der Winde. Stattdessen riss er direkt am Bauch der herauskommenden Schnur. Meterweise lief sie aus der Spule mit einem Zug, klack-klack-klack, das Rädchen justiert auf fast keinen Biss, klack-klack – klack – klaaak, sie lief gemächlich aus. Wieder riss Ernstl Schnur von der Spule. Sie kreiselte ihr Glänzen zu runden Lichtspuren, die meinen Blick wie ineinanderlaufende Spiralen in ihren Mittelpunkt sogen, in den Fluchtpunkt, das hypnotische Auge einer Schlange, klack-klack-klack, züngelte die Schnur aus der Spule hervor. Diesmal beruhigte Ernstl ihren Drall, indem er das Metall antippte mit der linken Zeigefingerkuppe, sobald er genug Bünde in der Hand hatte, die er auch Klänge nannte. Die Spule stoppte abrupt. Ganz ruhig lag auf ihrer Oberfläche der Sonnenschein, nun nicht mehr vermischt, sondern gold- wie orangefarben, nebeneinander, gestreift.

Auf eins. Die Ritz D flog über das hintere Brückengeländer hinweg, nach vorne, stetig steigend, in einer halbellipsoiden Bahn, wie ein Regenbogen. Ihre Kurve erreichte und durchquerte ihren höchsten Punkt, Ernstl in Verlängerung gen Himmel gedacht, gescheitelt passierte die Ritz D die Zwölf. Sie trat über das vordere Brückengeländer hinaus den Sinkflug an, bewegte sich vor Bäumen und Bergen durch Lindenlaubschatten in Bronze und Schwarz, dazwischen feuerrot und golden schimmernd, als flimmernder Strich über den Fluss, die farbige Variation einer Sternschnuppe. Nur verglühte sie nicht, sondern verharrte, die Eins erreicht, zwischen Ende und Anfang zweier sich fast berührender Lindenblätterschatten. Wie einander zugewandte Gesichter waren die anzusehen, dazwischen ein sanduhrförmiger Lichtfleck, wie geschaffen für eine Ritz D, die schwebte und fernblieb dem Grund verrieselter Zeit. Die Fliege zuckte schon in der Luft, glänzte, tanzte, lebte, bevor sie ein weiterer Ruck erfasste.

Auf elf. Ehrfurchtsvoll trat ich zurück, tumb, stolpernd fast, nur einen Schritt. Wegen des Klack-Klack-Klack der Spule glitt mein Blick zurück, nach unten, die Stange hinab. Zu drei Vierteln umklammerten den Korkgriff Ernstls vier Finger. Sie ließen die linke Seite unberührt, die war für den Daumen reserviert, der die neongrüne Schnur presste gegen Kork. Er hob sich jetzt, ließ die Schnur frei, die sogleich aus Ernstls linker Hand und unter seinem rechten Daumen hinweg durch die Ösen sauste im Schwung der Stangenspitze. Sobald die sich halbwegs entladen, die Kraft fast verbraucht hatte, justierte der rechte Daumen beim »und« von »zwei-und-zwan-zig« die Schnur wieder gegen den Kork, damit die restliche Energie die Schnur strecken konnte auf elf hinter Ernstls Rücken. Seine Hände zitterten zwar sehr, doch hinderte ihn das in keiner Weise. Die ersten vier Finger seiner Linken knickte er, und die Schnur lief die Glieder entlang, dann durch unter dem gehobenen Daumen der rechten Hand, die auch die Stange umfasste. Mal hielt der Daumen rechts die Schnur fest an den Kork gepresst, während die Fingerglieder der linken sich schlossen, klack-klack-klack mehr Schnur von der Spule rissen. Das war immer dann, wenn die Fliege gerade beschleunigte, den Anfangspunkt ihrer Bahn verließ, der gerade noch der Endpunkt gewesen war. Mal öffneten sich die Finger, und ihre ersten vier Glieder bildeten aneinandergehalten eine Rinne, über die es dahinlief neongrün. Ernstl hielt seine linke Hand also mit der Rückseite zum Boden, die Fläche nach oben, als würde er etwas hochhalten. In Wirklichkeit arbeiteten und entspannten bloß die Finger, zumindest ihre ersten Glieder, während der Daumen sich von der Schnur hob, damit sie frei durch die Ösen schoss, bis er sie wieder ausbremste, gegen den Kork presste, die linke, klack-klack-klack, Klänge für den nächsten Wurf abspulte. Je länger es ging, je länger Ernstl warf, je mehr Schnur schon über ihm war, umso mehr ging, umso länger wurde der Wurf, umso mehr Schnur konnte Ernstl pro Stangenschwung in die Luft bringen, weswegen die Intervalle der linken Hand immer länger wurden, ergo immer mehr Meter Schnur abgespult wurden, und bald wartete so viel davon auf das Loslassen der Fingerglieder und das Heben des Daumens, dass Ernstl die Schnur zu doppelten, dreifachen und vierfachen Klängen geschlungen hielt. So vermied er, dass sie über die Straße schleifte beziehungsweise zu Boden hing und auf hartem Asphalt Schaden nahm oder sich verknotete in den Phasen, wenn der Daumen gerade am Kork ruhte, wenn Ernstl die Schnur gerade nicht in die Ösen entließ. Jetzt öffnete er die Handfläche wieder, hob den Daumen, gab frei, was er zuvor gesammelt und zusammengerafft hatte. Das war immer dann, wenn die Fliege gerade verlangsamte, den Endpunkt ihrer Bahn erreichte, der gleich wieder der Anfangspunkt sein würde, markiert sodann durch Daumensenken und Fingerschließen. Und so bildeten Ernstls zwei zitternde Hände ein versetztes Zusammenspiel, ein Laissez-faire aus Freiheit und Kontrolle, Tanzen in Ketten, Laufenlassen und Stoppen. Und ich trat baff noch einen Schritt rückwärts.

Auf Eins. Der Daumen ging nieder, die linke Hand zog, die Spule spulte ab, klack-klack-klack, die Fliege flog, die Schnur streckte sich, das Vorfach, so hauchdünn und schmal, wurde gegen den Luftwiderstand in Schlaufen geweht. Die Fliege, schwerer und schleuderbarer, schnellte voran, zog das im Licht orangefarben schillernde, im Schatten transparente Vorfach hinterher. Es war noch in liegende Achten gefaltet. Im Luftstand zwischen Schnurende und Fliege, die ihren Schwebepunkt längst erreicht hatten, breitete sich das Vorfach sekundenweise aus. Jeder Millimeter Schlaufe strebte in die Gerade, halb zog die Fliege das Vorfach, halb schob das Vorfach die Fliege. Jedenfalls brauchte es doppelt so lange wie die Schnur, obwohl es nur einen Bruchteil der Länge maß, zwei Ernstlarmspannweiten das Vorfach, das Neongrün hingegen ein Dutzend Meter zwischen Ende und Spule inzwischen. Ernstl hob den Daumen, öffnete die Fingerglieder und dann lief nochmal Schnur hinaus. Die Fliege hielt, Neongrün und Orangenabglanz, austariert, in Schwerelosigkeit balanciert, die Fliege voran, alle Schnur und das Vorfach durchgereckt, Daumen nieder, klack-klack-klack, Ernstl ließ die Fliege nicht fallen, hielt sie hoch, zog nochmals zurück, klack-klack-klack, schwenkte seinen Arm auf elf wie einen Uhrzeiger, und ich tat noch zwei Schritte Richtung taufrischem Ufer, näher zum Fisch, und ein-und-zwan-zig, die Schnur an Ernstls Torso vorbei, Gebetsroither Wurftechnick, untendurch, die Fliege hinterher, haarscharf verfehlte sie das Geländer, an Ernstl vorbei, das hintere Geländer touchiert, die Ritz D überholte die Schnur, die streckte sich, zog das Vorfach nach, Ernstl hob den Daumen, gab wieder Schnur, erneut im Steigen begriffen die Fliege, zwei-und-zwan-zig. Und noch zwei Schritte zurück, in die Böschung seitlich der Brücke hinein, die Tropfen an den Gräsern benetzten meine haarigen Beine zwischen Sockenaufschlag und Hosennaht, und hinter Ernstl die durchgestreckte Schnur, und das Klack-Klack-Klack, der Daumen schon wieder unten, ein langer Bund Schnur zu achtfachen Klängen in Ernstls linker Hand, den rechten Arm auf eins, obendrüber die Fliege, jetzt, und wieder, das Strecken bis in die Spitzen der Ritz D, hintereinander, Stangenspitze, Schnurspitze, Vorfachspitze die Ritz D und Vorfach und Schnurgeben, ein-und-zwan-zig, zwei-und-zwan-zig, saust das Neongrün durch die Ösen, schiebt das Vorfach weiter nach vorn wie die Fliege, das Schummern in Rot und Blau und Grün und Orange und Violett und Indigo und die Fliege selbst wie eine Regenbogenfarbabfolge, halbelliptisch dirigiert Ernstl die Schnur wieder hinter sich, untendurch und obendrüber, und klack-klack-klack, und eins, ein-und-zwan-zig, zwei-und-zwan-zig und fast schon unten war ich am Wasser, beinnahe im Schilf, im Begriff, den Kescher zu wässern, begriff, dass es vergebens war, Ernstl Bünde in die Lüfte ballern würde, bis der Wurf eines vierundsechzigfach gefalteten Klangs hinter jenen Stein gelang, den Volki zu seinen Füßen, von dort unten aus, von der einige Dutzend Meter flussabwärts entfernten Brücke anfischte.

Auf eins den Arm. Ernstl reißt an seiner Schnur, klack-klack-klack-klack-klack seine Spule, wie ein Elektriker sein Kabel faltet Ernstl seine neongrüne Schnur in der Linken zu Klängen, hebt den Daumen und es saust aus der Hand am Korkgriff entlang unter dem Daumen durch in die unterste Öse hinein, weiter dahin im Ösentunnel, vorbei an den zwei Nahtstellen seiner zusammensteckbaren Stange und erst bei der letzten Öse aus der vibrierenden Spitze hinaus, weiter über den Fluss vor dem Hintergrund schattigen Laubs, und Lichtstreifen fallen ein, die zerteilen in Nichts und Schein das Vorfach, das von der Schnurspitze vor sich hergetrieben, wie am Riemen gerissen wird, so schnell fliegt die Schnur, dass das Vorfach gar nicht hinterherkommt, gegen die Luft in Achten komprimiert wird, bis es sich dann, vom Vorschlagen der kompakteren, schnalzenden Schnur, bewegt, langsam aufmacht sich auszubreiten, sich in die Gerade streckt, die Schnurspitze schwebt vor einem Lindenblatt und das Vorfach mit der Fliege daran passiert das Licht, glänzt auf, verschwindet im Überholen, gleitet flussabwärts in der Luft, glitzert fort, fliegt in den nächsten Schatten hinein, scheint vor Bergen wieder auf, reflektiert das Sonnenlicht, verschwindet vor dem nächsten Lindenblatt, bringt die Fliege voran, die jetzt ausgestreckt, in ihrer Bahn gestoppt, Manneslängen über dem hinwegrauschenden Fluss und dem Strömungsschatten des Steins darin, vor den ewig grau weilenden Kalkalpen, unter der nur dieser Tageszeit rot scheinenden Sonne, zwischen zwei frühlingsfrischen Lindenblättern in der Luft, von einem Lichtkegel eingefasst, steht, blau und grün schimmert, in Richtung Ernstl das konische, schwarze Köpfchen dreht, flussaufwärts schaut, wohin das Vorfach strebt, vom Ösenknoten in die neongrüne Schnur übergeht, die wiederum zurückfindet die gen Himmel gestreckten, reihenweise auftauchenden Baumstämme entlang, über die spannungsvoll vibrierende Stangenspitze durch die Ösen den vertikalen Karbonfaserschaft hinab in Ernstls horizontal gehaltene Hand, in seine eine Rinne formenden, zitternden vier Fingerglieder, die anderen vier Finger sicher und fest um den Korkgriff gelegt, der Daumen geht nieder, fixiert die Schnur, die rechte Hand schon wieder im Begriff.

Und noch einen Schritt und dann hatte ich genug Distanz zwischen dem Meister und mir, zwischen mich und meinen Meister gebracht, um den ganzen Ernstl zu sehen, alle seine Körperteile, jede ihrer Bewegungen, das ganze Bild gleichzeitig. Ernstl das Wurfgenie, Ernstl der Bindedemiurg, Ernstl der auf elf, der auf einundzwanzig, der auf eins, der auf elf Uhr, Ernstl der stets weise, Ernstl der Greise, der Urernstl, Gebetsroithers Erbe, selbst schon alt, weiter werfend. Immer schneller schien mir die Abfolge, obwohl Ernstl immer langsamer schwang. Er verlängerte das Fliegenfischen, in Ellipsen, die Fliege ein Planet um seine Sonne, Ernstl, schwebend auf zwölf, im Aufgang, der Untergängen gleicht, sein langer Schatten, der mir ins Gesicht reicht, von den kalkenen Alpen her auf meine Wimpern fällt, in meine das Paradies schauenden Augen, die Ernstl bannten in diesem Bild, darunter der flammende Fluss, versinkend sich erhebend, die Sonne, ihr Strahl, mathematisch gesehen von A bis in die Unendlichkeit, ein Strahlen, das über diesen Moment hinausging, alles erleuchtete, ein Blitzlicht, das mir aufging, und Zählen bis zum Donnerwetter, ein-und-zwan-zig, zwei-und-zwan-zig, von eins bis elf, und ich wusste es schon nicht mehr, Ernstl war entweder eben aufgestanden, putzmunter frisch, klar, oder der Fischtag war schon sturmalt am Abend angekommen und Ernstl verlängerte ellenlang ebenjenen Faden, Vogelfedern über dem Fluss in Rot. Ob Sonnenaufgang oder Sonnenuntergang war, ob Morgenrot oder Abenddämmern, ich wusste es nicht.

Wenn ich von seiner Stimme nur den Duktus bewahrte, dann von seiner Gestalt nur diesen immer wieder sich abspulenden Kurzfilm, Schwung gewechselt und Spule, klack-klack-klack, hin damit vor den Projektor, dem das Licht nicht ausgeht, dem Ernstl aufgeht, über dem Fluss, Ernstl zwischen elf und eins, Ernstl versunken auf der Brücke, Ernstl im Sonnenuntergang oder Sonnenaufgang, Ernstl beim Auftritt oder beim Abtritt, Ernstl zu Frühlingsbeginn oder am Ende, Ernstl am Fischtagbeginn, Ernstl am Fischtagesabschied, Ernstl in Ewigkeit, Ernstl auf elf, zwei-und-zwan-zig, eins, Ernstl, Ernstl, Ernstl.

Schon das l in meiner Schlingenschreibe sieht aus wie eine Rute samt Schnur und Vorfach im Profil. Der Schwung beginnt auf der Zeile, nach vorne, nach rechts oben ausgeführt, von der Fliege aus, dann den Strich wieder nach hinten, in der oberen Hälfte der Zeile, auf gleicher Höhe, nach links geführt, und dann in die Schlinge hinabgestürzt, nach rechts unten ausgeführt. Dieser Strich ist die Stange, eben auf elf bewegt, der Strich davor das Vorfach, unten durch, schwungvoll eben erst in die Rückwärtsbewegung eingetreten, obwohl jener Strich in der Schlingenschrift zuerst hinzuschreiben ist. So drehen sich die Dimensionen im Begriff des Werfens um, Gestalt und Bewegung zugleich, weswegen Ernstl ja auch durch seinen letzten Buchstaben am besten definiert ist, der wieder auf den ersten verweist, auf die Bewegung zur Elf, zum großen E, ein Emblem quasi, das ja schon im ersten Buchstaben, mit dem großen E angekündigt ist. Jetzt kommt das große Zeichen, sagt es, und dann das r mit dem Schnabel des Fischreihers im Profil, das kleine n natürlich nichts weniger als die klitzekleinen Nymphchen, die er immer fischte, und das s das letzte Strecken des Vorfachs in der Luft, kurz bevor alles ausgestreckt, gestoppt auf eins, dann ausgebreitet über dem Wasser liegt, Schnur, Vorfach und Ritz D, und in Ernstls Lachen fällt, hinter den Stein, Volki entgegen, beiß. Ernstl auf Zack, auf ein-und-zwan-zig, zwei-und, Ernstl schlug seinen Arm nach oben, -zwan, die Schnur spannte sich den ganzen Fluss zu uns herauf, Ernstl lachte oder triumphrufte und die Bachforelle zappelte am Ernstlende, »hahahahaben wir dich«, -zig und Ernstls Alpha und Omega, Ernstl, Ernstl, Ernstl in Ewigkeit, in meine Hände befahlst du deinen Geist und ich meinen in deine.

Vom Sonnenaufgang total enttarnt nahm Kurti das Fleischerbeil, verließ grimmig schwarzen Gesichts den Unterstand, kam unter der umgefallenen Steineiche heraus, trat bärentapsig ins Dämmern des Wildwechsels, tat einen raschelnden Halbschritt zurück ins Rohrdickicht, verlagerte sein Gewicht auf den hinteren Fuß, holte aus, und dann vor, warf aus der Schulter. Sein Fleischerbeil flog wie ein Bumerang, nur dass es wie ein Tomahawk nicht zurückkam. Stattdessen steckte es in Bambis Hals, das augenblicklich einknickte in den sehnigen Läufen. »Die Kids sind am besten«, raunte er und überquerte die Lichtung in gebückter Haltung, die Oberschenkel stark wie ein Hirschkäfer, fast in einer Art Abfahrtshocke larvierte er zwischen Herrenpilzen und Schieferschichten Richtung jenseitigem Waldrand. Schon war er um die Hälfte verkleinert und kniete über dem Tier. Ich sah seine Ellenbogen die blutige Arbeit verrichten hinter dem Blättervorhang und den baumelnden Eicheln. Ich trat aus dem Versteck, kam Kurti nach auf Zehenspitzen, um dem Boden nur die Stepppike meiner Halbschuhe einzudrücken wie Kitzkicke. Ich drehte mich auf Hälfte der Strecke nochmals zu der umgefallenen Steineiche um, sah den Entwurzelungskranz Erde um ihren Fuß, den Unterstand und hörte in meinem Rücken Blut flatschen und Eingeweide auf Waldboden. »Siegi, die Säcke«, hörte ich Kurti sagen, und wo er gesessen hatte, bedeckten weiße Flächen den Boden, selbst von hier zu sehen, durch den Blättervorhang. Nahezu beglückt schritt ich zurück, weg von den widerlichen Innereien, deren süßlicher Geruch sich schon über den Wildwechsel legte, im zunehmenden Sonnenlicht auflebte. Einer der Säcke war leer, im anderen befand sich ein leichter, handlicher, zylindrischer Gegenstand, der sich durch das weiße Plastik abzeichnete. Kauernder Haltung und zehenspitzig in einer Art Wilhelm-Busch-Karikatur-Mimikry-Schritt schlich ich wieder zurück über den Wildwechsel, etwas beruhigt darüber, dass mir so, in der Hocke, Kurtis Hantieren von seinem Rücken verdeckt bliebe, selbst wenn ich ihm zur Hand ginge. Der Brodem verdickte sich, Kurtis Ellenbogen fuhrwerkten seitlich seines Körpers herum, weder nach Brunft noch nach Urin oder Kot roch es zumindest. Zu wissen schien er, was er da tat.

Kaum waren ich und der Sack in Kurtis Reichweite, wandte er sich auf den Bärenfersen um, riss griffsicher mit den Worten, »hab schon gedacht, du bist gestorben«, den schwereren Sack an sich, zog eine Dose Eisspray hervor. War der waldeigene Eingeweidegeruch schon widerlich, kniff jetzt mit Zischen eine Wolke silbrigen Dampfs, fast pulvriger Konsistenz, in meinen Nasennerv, zwang mich, zu weichen, ein paar Schritte rückwärts wegzugehen. Dabei geriet vor Kurtis Kopf der Rehschädel in meinen Blick, an dem sich schon erste Eiskristalle bildeten in der halbdurchsichtigen Wolke, die als Rückstoß entstand, überall dort, wo die Fontäne aus Kurtis Hand auf den Rehkörper prallte, Oberkante Unterlippe, anorektische Schlegel, die ganze Flanke entlang und zuletzt sogar das Gedärm. Langsamer als erwartet schwand der Anblick von Wolkenkränzen umwundenen haselnussbraunen Fells aus meinem Gesicht. Erst als der klaffende Schnitt durch die Bauchdecke langsam vereiste und das Blut am Halsschnitt gerann, fiel mir auf, dass ich im Gehen, mit jedem Schritt mich aufrichtete, kerzengeraderer Haltung rückwärtsschlich und schließlich ganz aufrecht stand, noch zweimal schwebten meine Fersen nach hinten und endlich senkte sich der Fleischerkopf zwischen mich und das Reh. Die Eisspraywolken schlichen sich ebenfalls, wenn auch langsam, noch waren sie da, wölkten von Kurti weg und legten sich in der Windstille auf den Wildwechselboden. Der Gestank, den die Chemikalie so lange überdeckt hatte, kehrte nicht wieder. Immer noch in der Hocke saß Kurti da, hob das Fleischerbeil immer wieder über den eigenen Kopf, haute es hinunter, hindurch, mittendrein ins Rehkitzgebein in neolithisch konterrevolutionärer, karachotrockener, hackstockhafter Knochenknackermanier. Überall um mich herum glitzerten perfekte Kristalle an Halmen, lagen zuoberst auf Pilzschirmen, Flechten und Farnen. Sie verdarben mir den Gedanken an Schwefelwolken, die immer noch rund um Kurti schwebten, als kämen sie direkt aus seinem Mund, aus seinem Dahinhauen selbst, bis sich das Gewölk auch dort lichtete, als hätte er es weggedroschen.

Zwitschern frühmorgendlich wurmfangender Waldvögel begann in extrem unreiner und krass schiefer Stimmlage. Jedes Schwarzspechtgehämmer wäre mir lieber gewesen zu Kurtis Kniedurchstrecken. Er ließ Bärenspuren und eine gefrorene, schwarze, vor Sonnenreflexen blendende Fläche hinter sich und trug keinen einzigen Blutspritzer am Gewand. Im Gehen bückte er sich mehrmals und brockte völlig wahllos einfach alle Herrenpilze, die ihm in die Quere kamen. Sogleich wanderten sie zuoberst in die raureifüberzogenen Plastiksäcke, steifgefroren die Oberfläche, keinerlei Rückschluss mehr möglich auf den Inhalt, vollgestopft aber doch, aus einer Hand gen Boden hängend, mächtig Gewicht an sich dehnenden Henkeln. Zu ganzer Größe erhoben, das schwarze Gesicht vom Waldrand gerahmt, genau inmitten jenes Geburtskanals zweier ineinandergewachsener Bäume sein weißes Grinsen, er hatte sie sich extra bleachen lassen für diesen Auftritt. So schritt er mir entgegen, die Plastiksäcke schwenkend, in der anderen Hand den Rehschädel vorstreckend. Vom Hals wuchsen Eiszapfen herab, die bereits im Sonnenlicht schmolzen, glitzerten und das Fell hinauf in vereiste, kürzer werdende Fransen übergingen, bis an die kalten Augen, die mir entgegenschauten. Es war nur eine Frage von Minuten und Temperatur, bis sich dieses stillgestellte Ding in einen völlig aufgeweichten, armen Tropf verwandelte. Kurti hielt mir den Rehkitzkopf vors Gesicht, wackelte so stark mit seinem Arm, dass der Unterkiefer auf und ab klapperte. Zwischen Zähnen und Zunge brachen ganze Brocken gefrorenen Blutes und Speichels, fielen heraus aus dem Maul wie die immer gleichen drei Silben, die Kurti mit grell verstellter Stimme in stetem Rhythmus des glitzernden, schlagenden, krachenden, vor Eiszapfen ziegenbärtigen Unterkiefers vor mich hin zickte: »Kostprobe, Kostprobe, Kostprobe, Kostprobe.« Ich entriss ihm und dem schonungslosen Sonnenlicht den Schädel, bedeckte ihn mit Flanell, versteckte ihn unter meinem Hemd, schlich wortlos mit Kurti zurück unter die Eiche, wo er sich in die Wolldecke abschminkte. Fröstelnd ergriff ich meine Fliegenstange. In der untersten Öse saß eine Rehhaarfliege.

Den Lederfleck hielt ich in den Lichtkegel der zum Fliegenbindescheinwerfer umfunktionierten Schreibtischlampe. Im Glühen der Sechzigwattbirne flimmerte das haselnussbraune Haar wundersam silbern. Kitzlig rieb ich es zwischen den Fingern, fühlte die Trockenheit, als ich gegen den Strich streichelte, die Widerborstigkeit, das Wasserabweisen, und als ich meinen Finger mit dem Strich bewegte über das Rehhaar, spürte ich die Dichte, die Geschmeidigkeit, eine zweite Haut fast, zu der sich die daumennagellangen Haare fügten wie ein Film Sonnencreme. Andererseits war das Leder rau und karg, fast als ließen sich davon noch all die Blutbahnen, Muskelwülste und Sehnenstränge ablesen, die einst geschlummert hatten unter dieser Haut. Ich nahm einen Schluck vom beschlagenen Achterlglas, noch kalt und bitter der Pinot Grigio und der Blick hinaus durch die Fensterscheibe in die schwarze Nacht. Hohe Wolken hingen sicherlich über den Bergen. Zwar waren sie nicht auszumachen, doch anhand der fehlenden Sterne spekulierte ich auf ihre gespenstische Anwesenheit. Sie bildeten die dunkle Grundierung für das Spiegelbild, den schrägen Schein der Fliegenbindetischlampe, die matten Linien und Rillen auf der Holzplatte vor mir, golden gefüllt das Weinglas und mein eigenes, haselnussbraun glänzendes Gesicht, von dem ein wallender Bart hing. In den drahtigen Locken befanden sich fleischlose Haken vor Beginn ihres Lebens als Fliegen, eingehängt, systemlos fast, unsortiert, direkt neben bereits gebundenen Fliegen, die sich hier, in meiner Wolle, hoffentlich wohler fühlten als in einem Etui. Davor stand der metallene, zwiegespaltene Raketensprengkopf des Bindestocks wie ein gewaltiger, unabwendbarer, aufdringlicher, ja vergewaltigender Phallus. Ich ließ den Lederfleck sinken, richtete mich selbst im Sitzen auf. Ich griff einen Haken, fädelte einen passenden Goldkopf über den Bogen bis an die Öse. Dann drehte ich das Rädchen am Bindestockkopf. Seine Kiefer gingen auseinander. Ich hielt den Hakenbogen dazwischen, drehte das gezahnte Rädchen andersherum, und die Schraubstockhälften schlossen sich, die Klemmen hielten den Haken, er schwebte vor meiner Brust. Rechts des Bindestocks auf der Tischplatte lag mein Bobbin schon bereit. Bei diesem Gerät handelte es sich eigentlich um eine Triangel in der Größe meiner Handfläche. Einer der drei Metallschenkel durchlief eine zylindrische Kunststoffspule wie Wasser ein Rohr. Der unterste Triangelstab war sozusagen mit schwarzem Faden verkleidet. Nahm ich den Bobbin dann zur Hand, hielt ich ihn an den beiden freien Metallschenkeln. Ich fasste sie an wie meinen Violinenbogen. Jedoch, Momentchen, noch war der Faden ja lose, schlängelte sich zur Seite, lag gekräuselt und glänzend auf der Tischplatte im Licht wie eine sich sonnende Kreuzotter. Ich packte sie am Genick, hatte das Fadenende zwischen Daumen und Zeigefinger. Mit der linken Hand aber nahm ich den Bobbin, legte den Daumen an den rechten Triangelstab, die anderen Finger an den linken, das Metall kühl und glatt, zärtlich fast, in der aufgeheizten Stube ein frischer Hauch, ein Schauer, der meinen Arm hinaufkribbelte direkt in meine Brust wie ein Infarkt.

Ich hob den Bobbin in die Schwerelosigkeit, mein Handrücken schwebte exakt über der Spule wie ein Dach. Mit der anderen Hand hob ich den Faden an, zog. Zirpend setzte sich die Spule in Bewegung, drehte sich zwischen meinen Fingern, zwischen den beiden Metallschenkeln, unsichtbar unter meinem Handballen, auf dem untersten Triangelstab, rechts meines kleinen Fingers, mit der Kuppe spürte ich das Drehen. Ich spulte ausreichend Faden ab, richtete Daumen und Zeigefinger gegen das Licht, dazwischen wie gedacht, ausgefranst die Fadenspitze. Ich streckte meine Zungenspitze zwischen die Schneidezähne, biss mit leichtem Druck, ein sachtes Biberkauen, wartete ein paar Sekunden, bis die Spucke kam in meinen Mund. Ich nahm die Fadenspitze zwischen die Lippen, leckte daran, speichelte sie ein, schmiegte die losen Fasern wieder aneinander. Ich zog das Fadenende aus dem Mund, feucht und spitz, zwischen Daumen und Zeigefinger glänzte es schwarz. Ein größerer Batzen Speichel haftete noch daran, den ließ ich abtropfen auf die Tischplatte mit einem kurzen Abwärtssausen und Stoppen meiner rechten Hand, herrlich diese Fliehkräfte. Dann hob ich die linke Hand samt Bobbin auf Augenhöhe, die Spule fast an meine Nasenspitze, die beiden freien Metallschenkel liefen vorneweg in ein hauchdünnes Metallröhrchen aus. Es bildete gegenüber der Spule die Triangelspitze, die ich jetzt gegen das Licht richtete, sodass die Strahlen das Metallröhrchen durchdrangen. Ich kniff ein Auge zu, linste geradewegs in die Glühbirne, führte indes blindlings meine rechte Hand, Daumen und Zeigefinger, das angefeuchtete Fadenende zur durchleuchteten Mündungsöffnung des Röhrchens. In der linken Hand fühlte ich, wie sich die Metallschenkel erwärmten, in der rechten die Geschmeidigkeit meines eigenen Speichels, ich starrte durch einen Tunnel ins Licht, erzitterte kein bisschen. Das schwarze Fadenende kam in meinen Blick, die Spitze erglänzte, die minimale Öffnung verfinsterte sich, das mochte noch ein Schatten sein, schon schwebten Daumen und Zeigefinger hinterdrein, das Fadenende vorneweg gestreckt, es schwebte weiter, war drin, reingesteckt, eingefädelt. Dann nahm ich triumphierend das Metallröhrchen andererseits zwischen die Lippen, sog daran, dass es den Faden streckte, dass er durchs Röhrchen schnellte, dass es züngelte in meinem Mund. Dann spuckte ich den Faden aus, bevor ich reflexartig keuchte und alles beim Teufel war, wie immer fast erstickt. Es lohnte stets.

Jetzt liefs, der Faden, von der Spule zur Spitze, axial zwischen den beiden Metallschenkeln. Ich nahm den Bobbin rechter Hand, die Spule unterm Ballen, den Daumen am linken Triangelstab, am rechten vierter, dritter, zweiter, erster Finger, der schon fast am Metallröhrchen lag, aus dem wiederum das Fadenende hing wie eine Zunge. Einem Fühler gleich flog es voran zum Haken hin, der vor meiner Brust schwebte im Bindestock. Ich dirigierte die Fadenspitze direkt hinter den Goldkopf, ein Kuss auf den Hals des grauen Metalls. Ich legte die linke Zeigefingerkuppe an die schwarz glänzende Fadenspitze, leichter Druck nur, gegen den Haken, und dann zog ich die rechte Hand sacht Richtung Hakenbogen zurück. Die Spule drehte sich, der Faden wurde abgewickelt, meine Bobbinhand schwebte den Körper entlang. Ich sah im Metallskelett des Hakens schon das nachgeborene Nymphenfleisch, bewegte im Kreis das Handgelenk, ein Rotorblatt der Bobbin, eine Hommage schon fast an die baldigen Hahnenfiebern, wie sie im Wurfwind hecheln würden, auf ellipsoider Bahn. Wie ein Mond seinen Planeten umtanzte meine Hand den Haken, wie unsere Welt die Sonne umkranzte der Bobbin die kommende Fliege, der Faden umgarnte die Nymphe in spe. Gegen ihre Kehle presste immer noch meine linke Zeigefingerkuppe das Fadenende. Dann war der Haken hinter dem Goldkopf siebenfach umschlungen und ich dachte, dass es reichte, nicht dass es ihr noch den eben fixierten Schädel verdrehte, sie sollte doch reizen, nicht umgekehrt. Sie scherte sich stolz und unwiderstehlich um niemanden, kehrtmachen, sich umdrehen, den Mund wässrig recken musste dann nur die Forelle, oh ja, sie würde, auf dass es ihre Welt kopfstellte.

Während ich so hin und her überlegte, baumelte der Bobbin vom Haken. Die Spule, sacht beschwingt wie ein eben verlassenes Schaukelbrett, bildete auf Höhe meines Zwerchfells eine horizontale Parallele zwischen der Tischkante, an der ich saß, und dem starren Haken, dem ich in der achten Umrundung eine blaue Flachsfaser aufgebunden hatte. Der Faden lief nun lotrecht vom Hals hinunter, durch das Metallröhrchen, mittig zwischen den beiden Metallschenkeln dahin. Sie erreichten an den seitlichen Zylinderflächen die Spule ebenfalls, in der auch der Faden sein Ende nahm, alles in allem eine schwebende Triangel, gehalten vom wahren Musikuss, der baldigen Fliege. Der Bobbin schwang aus, ruhte nun in Form eines weiten Kleids, die Beine der Braut gespreizt. So wartete das Ding auf die baldige Vermählung, auf den Zug kundiger Hand, die gerade den drallen Körper schlang, den Bobbin erneut aufnahm, den Flachs niederband, die Hahnenfeder am Hals applizierte und den Bobbin während des Hechelwickelns wieder links hängen ließ. Das Eigengewicht des filigranen Geräts war zu gering, den Faden abzuwickeln. Ich justierte den Biss an den Seitenflächen der Spule, wenn ich sie zwischen den Nymphen auswechselte, um noch dünneren Faden zu verwenden. Niemals riss er. Es war ein wahres Wunderwerkzeug. Immer wieder fragte ich mich, oder war verwundert, fast schon erbost darob, wie alle diese Fliegenzampanos, Ernstl eingeschlossen, den Begriff Bobbin verwenden konnten, ihn zur Hand zu nehmen vermochten, ohne ihm einen Moment Obacht zu zollen. Oh Bobbin, oh Bindestock, oh Opferstock zu Hoch- und Bleipodest, zu Füßen dir, zu Zehen schon, vor dir lag das Eisenteil. Auf dass es die Fliege loseiste. Den Schlussknoten bändigte ich damit. Ein nahezu göttlich namenloses Werkzeug, eine Gerätschaft mit in alle Richtungen weisenden Haken und Gräten. Whipfinisher hatte Ernstl dieses fingerlange Stück immer genannt, ebenfalls ein Fliegengewicht dies Metallgerät. Es zu beschreiben würde selbst das Sprachvermögen eines Shakespeares sprengen. Es sah am ehesten aus wie Zahnarztbesteck. Und im übertragenen und umgekehrten Sinn war das sicher richtig. Immerhin beschloss der Whipfinisher den Bindevorgang, operierte, wenn man so wollte, die gebundenen Fliegen zwischen die Forellenzähne hinein. Und noch abschließender als das Schlussknotenzirkelding lag die goldene Nagelschere hinter dem Bindestock, die den Faden wie eine Nabelschnur abschnitt, sobald er am Hals der Goldkopfnymphe verschlussknotet war, was jetzt geschah, nachdem ich die Hahnenhechel abgebunden und eine Strähne Rehhaar als Schwänzchen sowie eine Lenasträhne als Flügelscheide aufgebunden hatte. Irgendwelche Nebochanten hätten sich mal einfältigerweise einfallen lassen, den Schlussknoten nicht Schlussknoten zu nennen, sondern Kopfknoten, Dummköpfe, hatte Ernstl stets gesagt, Bauernschädel, die sollte man aufhängen, insistierte er, immerhin lege man den Schlussknoten ja zwischen Goldkopf und Körper an, beharrte er, also um den Hals, etc. pp. dc., schloss er und redete ansatzlos irgendetwas weiter, während er an der mir gegenüberliegenden Tischlängsseite auf und ab ging. Er kommandierte, antwortete auf Fragen, die er nicht selten selbst gestellt hatte, wenn er nicht gerade von seinem Achterl trank, oder er monologisierte vor sich hin, schnell und frei, vollgesoffen und assoziativ. Noch sah ich ihn morgens den Weg durch den Herbergsgarten herankommen, zuoberst die Fliegenfischstangenspitze, einerseits den Korkgriff in der Hand, andererseits den Hals der obligatorischen halbvollen Doppelliterflasche Weißwein zwischen den Fingern, erhoben den Kopf zu den Wolken, eine verspiegelte, in allen Regenbogenfarben schillernde Sonnenbrille mit goldenem Gestell vor den Augen, hochgeschlossen bis über den Adamsapfel das Rehhaarfell, das ich nur am Aufschlag erkannte. Verkehrt herum, mit der Lederhaut nach außen und den Haaren nach innen bedeckte es abgesehen von den nackten Füßen und dem Kopf Ernstls ganzen Körper in der kalten Luft wie dereinst Steinzeitmenschen. Im fliegenfischerhaften, dreizehnfachen und doppelt in sich selbst geschlungenen Modus war Ernstl um die Hüfte mit einem hanfenen Strick gegürtet, der die beiden Rehlederhälften zusammenhielt und seine Figur betonte. Fast versank der Stecken von Ernstls Oberkörper in dem weiten Gewand. Sein Gang scheuchte alle Vögel auf, die in den versandeten Flecken des Gartens gebadet oder aus der Dachrinne getrunken, ihre Nester in den Buchen aufgesucht hatten. Nur die Bewegungen seiner Beine ließen sich unter dem Rehgewand erahnen, was nicht zweifelsohne an ihrer muskulösen Gestalt lag. Vielleicht ging es eher um den Schnitt des Lederflecks, der auf Oberschenkelhöhe schlanker wurde. Dann glitt mein Blick hoch über die ledrige Haut, aber so nahtlos, als wäre dieses Rehleder nie abgezogen worden, als wäre da keine Bauschlitzöffnung zu gürten, als schauten und flögen und schlidderten meine Augen über Glätte, ein haselnussbraunes, wie ein zugefrorener See in der Sonne glänzendes Fell bis zum Hals, dann über das Kinn, den Mund, und sogleich spiegelten sich meine Glupscher auf den Brillengläsern über Ernstls Nase. Golden blitzte das Gestell.

Ich sagte: »Wo hast du das her?«

»Das wüsstest du gern!«, herrschte er mich an und trank vom Weißwein, der jeglichen Verschlusses entbehrte.

»Was?«, sagte ich.

»Was, was?«, sagte er und das Fell am Aufschlag schien sich aufzustellen und metallisch zu blitzen im Frühlingslicht, wie eine Waffe, gefährlicher als die in meiner Hand.

»Wie bitte?«, probierte ich es wieder und unter dem fetten Duft des ersten Flieders sagte er: »Wie bitte, wie bitte?«

»Ernstl, also woher denn jetzt?«, sagte ich und legte Hand an seinen Aufschlag, neben seinen Adamsapfel, nur zwei Finger, zwischen denen ich eine Rehhaarsträhne zusammenzwirbelte. »Von meinen guten Freunden aus good old Germany«, und er deutete auf die Axt, die ich hielt. »Pardon?«, sagte ich.

»Siegi Heehrmann, du hast uns wohl verstanden.«

»Also, aus Deutschland, von deinen guten Freunden.«

»Die lassen uns nie im Stich!«

»Oder von deinen deutschen Freunden irgendwo anders her?«

»Das könnte dir so passen, Judas.«

»Du könntest da nicht, für mich, vielleicht auch etwas einfädeln?«

»Es wird kalt im Land. Das wissen die. Da müssen wir uns gut anziehen.«

»Es ist Frühling, Ernstl. Du hast mir den Mund wässrig gemacht.«

»So frostig war der Winter. Dass es gar nicht mehr warm wird. Voll Schmelzwasser der Fluss. Die Tränen der Berge in unserem Herzen.«

»Meinst du nicht, es wird langsam Zeit.«

»Rein mit dir an den Bindetisch.«

»Ernstl, zwei Jahre!«

»Sie können jederzeit herkommen, Herr Heehrmann. Bittedanke.«

Und ich vermochte mich nicht weiter zu beschweren. Sein Handrückenschwenken ging an diesem Tag in beide Richtungen und war ein ausgestreckter, zittriger Zeigefinger. Er wies in einem steten Kreissegment auf die Herbergstür und die Gartentür. Dann ließ er unvermittelt die Hand sinken, entwand meinem Griff sacht die neue Axt, strich über das wieder scharf gemachte Blatt mit dem Finger, der so stark zitterte, dass ich ihn eh schon abgeschnitten fallen sah. »Gut«, sagte er und warf mir das kilowiegende Ding wie einen Jonglierball hoch durch die Luft zu, dass der Schneid um den Schaft rotierte. Einen Schritt zurück sprang ich. Als die Axt am Boden mehrmals schepperte, als ich ungläubig die Augen hob, hatte Ernstl mir schon den Rücken zugewandt, war auf seinem Weg durch den Garten in Richtung seines Lieblingsliegestuhls, stieg barfüßig und ohne erkennbare Reaktion Hummeln kaputt, Bombus terrestris das lateinische Nomen, und ominös stolzierte Ernstl am Flieder vorbei, warf das Rehleder ab, unter dem er nur eine enge Badehose trug, legte seine Fliegenstange ans Kopfende und sich nieder auf das mit einer sonnenfarbigen Federkernmatratze bespannte Holzlattengestell, nahm einen großen Schluck aus der Doppelliterflasche und hin den Wein neben sich ins Gras. »Liegt er wieder auf der Lauer«, sagte Nina, die gerade die drei Holzstufen zur Herbergstür herunterschritt. Ich sah sie fassungslos an. »Wartet auf Katzen, meinst du nicht. Die wildern gerne hier im Garten, bei den vielen Vögeln, wer wills verdenken.« Während sie die Axt aufhob, ließ ich einen Zeigefinger an meine Schläfe schweben und kreisen. Sie sah mich an und sagte: »Ja klar«, und das hohe Surren eines von der Klinge gesprungenen Daumens. »Stahl statt Eisen«, sagte ich, »wie edel«, während sie mit der freien Hand den Schaft hinabstrich, wo der Wurmstich verschwunden und die weiße Musterung der Schwarzeichenzeichnung gewichen war. »Lackbeschichtet«, ihre Hand erreichte das untere Ende der Axt. »Ob sich die hier wohl fühlen wird, zwischen den ganzen Buchen.« Durch den Knauf war eine Kunststoffflasche geschlauft, »zum Aufhängen«, um die Nina nun ihren Zeigefinger schloss. Das Beil baumelte zwischen uns. »Ist zwar nicht meine, aber danke.« – »Das will ich wohl meinen, hab dafür auch ein Dutzend Fliegen hingeblattelt.« – »Eh ein Freundschaftspreis«, sagte sie und propellerte die Axt um ihren Finger wie ein Helikopter seine Blätter um die Rotorachse. Weil ich ja größer war als Nina, musste ich schnellen Schritts weichen. Buchen sollst du suchen, dachte ich, während ich wehender Mantelschöße den Windfang passierte. Sie stolzierte durch den Garten, die Axt immer noch wirbelnd wie ein erfolgreicher Stürmer sein Trikot. »Wenigstens ist sie dir nicht zu schwer«, rief ich Nina durchs Küchenfenster hinterher. Sie blieb stehen, wandte mir den Rücken zu, fasste die Axt rechts direkt unterhalb des Stahlblatts und links am gelöcherten Knauf. Sie hielt den Schaft waagrecht, erst über, dann hinter sich, bis er mittig an ihrem Genick auflag. Er knickte die Haare und eigentlich fehlten bloß links und rechts die eingehängten Wassereimer. Doch Ninas Auftritt war von Eleganz, sodass nur ihr Atlaswirbel und die Handgelenkssehnen das Holz berührten. Ihre Pulsadern ruhten lässig auf dem Stecken, neben Blatt und Knauf obendrauf, wie Billardeure manchmal ihre Queues hochnehmen. In einer Haltung wie am Pranger catwalkte sie vor Ernstl hin, dessen Schädel mir die hochgestellte Liegesesselrückenlehne verbarg. Trotzdem wusste ich, dass auch er grinste, während Nina eine letzte Hüftschwungpose einnahm, beiderseits die Finger um die Axt schloss und sie dreimal in den Himmel stemmte wie eine Hantel, dann auch noch viermal untergriffig aus der Hocke, dieses Gesocks. Ein Messer zog ich aus dem Block und nahm einen Kanten Vollkorn aus dem Kasten, der scheißetrocken war, dachte ich noch, jedoch die Wurst ließ sich genauso schlecht schneiden. Halb glitt die nahezu schneidlose Klinge durch die Masse, halb riss ich die Scheibe stumpf herunter, indem ich mich mit meinem ganzen Gewicht aufs Messer stützte. Im bastgeflochtenen Körbchen lag noch eine geschnittene Scheibe Brot, von der sozusagen pulverisiert trockene Flocken stoben, als ich sie auf den Teller hob. Frühstückshungrig und unter Verzicht auf jedwede Bekanntschaft mit ranziger Butter unter der Glocke schichtete ich die paar unförmigen Wurstklumpen, »was hast du denn da fabriziert?«, kritikasterte Nina, als sie in die Küche trat. »Diese verfluchten Struwwelpeter!«, Ernstls Faust tauchte über der Rückenlehne auf, »gibs ihm ruhig, Nina!«, schrie er, »immer in die Nieren«, und boxte dreimal in die Luft. Wie Operationsbesteck war das Instrumentarium bereits ausgebreitet auf dem Tisch. Rundherum lagen die Kunststoffschatullen, in denen alle erdenklichen Bindematerialien jedweder Fliegenmuster noch ruhten. Ich stellte den Teller nahe der Tischkante auf den letzten Fleck freier Fläche, der gleichsam sagte, dass noch ein Muster fehlte, und ich setzte mich selbst ins letzte Eckbankeck. Draußen sah ich jetzt von Ernstl nur die Fliegenstange und sein schlohweißes Haar links und rechts der Liegestuhlkopfstütze wegstehen. Zu erahnen waren noch Fitzelchen seines Kopfs sowie die letzte graue Stresssträhne über der Rückenlehne. Hin und wieder griffen auch zittrige Finger zur Weißweinflasche, die dann kurzerhand verschwand und wieder hingestellt wurde. Nina trat dazwischen, in meinen Blick, einen feuchten Fetzen in der Hand, und wischte die Brotbrösel auf der Fensterbank weg, »ich würd die nicht mehr essen«, als ich gerade das Wurstbrot an meinen Mund hob. Ich ließ die Brotscheibe sinken, legte sie auf den Teller, nahm ein Stück Wurst zwischen zwei Finger und biss zu. Nina starrte mich an und brach in Lachen aus, hielt sich mit beiden Händen den Bauch, dass die Brösel zu Boden prasselten wie Schrotkugeln. »Ja, Entschuldigung, die meinte ich.« Ich schluckte die ranzige Wurst runter, statt sie auf die Bindeboxen zu spucken. »Wenn du willst, tau ich uns was auf.« – »Was denn?«, fragte ich und sie sagte: »Was weiß denn ich. Sei nicht so feindselig. Wild, Geflügel, Schwein? Worauf du Lust hast.« – »Dann hätte ich gern Ebernierengulasch«, sagte ich und lachte. »Dass du groß und stark wirst«, sagte sie, »schießt Ernstl mit seinen Kumpels an der Oder.« – »Von der deutschen auf die polnische Seite rüber wahrscheinlich.« – »Kormorane in Meck-Pomm, Störche am Neusiedler See und Rehe in Graz, kannst ja schon mal Rosmarin abbrocken«, und sie verließ das Zimmer, die Kellertreppe knarzte.

Ich sah hinaus auf die abstehenden Wehen Haar an Ernstls Kopf und dann auf die krausen Büschel grüner Nadeln, die seit Urzeiten über einem in der Zimmerecke stehenden Terrakotta-Topf hingen. Zuvor war die Pflanze aus jenem Erdhügel gesprossen, den die wenigen Eingeladenen in schwarzen Kutten mit Miniaturhandspaten, auf dass er wachse, Häufchen für Häufchen, zunächst auf das Holz, bald auf die erste Schicht seiner selbst, auf das Fundament des Humushaufens, zuletzt auf die Spitze, das endgültig zugeschüttete Grab von Ernstls Vater geschaufelt hatten, dessen Leichnam ins norditalienische Südtirol überstellt worden war. »Die Totengräber hatten nicht viel Arbeit«, hatte Ernstl gesagt und gelacht. »Und erst die Träger«, abgemagert und einen Kopf leichter. Eigenhändig habe Ernstl den Rosmarin hierher verbracht aus der Asche des Vaters. Sie hätten ihn denunziert. »Herumgelaufen sind wir in Gewand. Das war Nazi, sagten sie. Vor der Wanderung hat es die Mutter extra zerschnitten. Hat zerschlissene Fetzengwandl genäht. Das letzte Hemd im Haushalt aufgetrennt. Zerrissen in tausend Stück Stoff. Die hat sie wild durcheinandergemischt in einem Muster. Dass wir unerkennbar werden und alle Zeichenleser verwirren. Sie war eine gute Hausfrau und tolle Schneiderin. Aber der Schuster bleibt bei seinen Leisten. Unsere festgenagelten Stiefel hätten uns verraten. Also haben es eben die Bauern gerichtet. Bastarde wurden wir in ihren Augen. Überläufer, Gestaltwandler, Zigeunerzauberer, die noch nicht mal Zigeuner waren. Weil wir alles gleichzeitig und damit nichts waren. Und was haben sie gemacht gegen die Hybriden in Graz? Sind zu den Beamten gegangen. Deren Gestern war ja auch schon lang vergangen. Einen ordentlichen Schinken vom schwarz geschlachteten Schwein auf den Katheder. Und schon ist er gerollt, der Vaterkopf, mit Telleraugen, vom Amischafott, vor die Drecksbauernschuhe, der geflohene Südtiroler als Quotennazi. Alle sind sie hin zur Enthauptung und haben sich gegrüßt. Da sind die Heils nur so geflogen. Und hinterher Truemänner und Churchills und Stalins. Der braune Rost nagte schon wieder in die Kirchenstatuen und amerikanischen Blasinstrumente hinein bis Rock ’n’ Roll. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, Amen. Mah, Nina, so super, was für ein Selchroller. Und erst dieser Weinstein am Flaschenboden. Na, gehts uns nicht gut, heute? Bist jetzt schon fertig mit der depperten Arthofer HC?«

Die Forelle

Подняться наверх