Читать книгу Die Forelle - Leander Fischer - Страница 7
3 Wie Nina diesen Siegi so findet
und wie Siegi mit etwas Hilfe die
perfekte Goldkopfnymphe bindet
ОглавлениеIch saß am Küchentisch, den Blick auf das Fenster gerichtet, die Läden waren noch geschlossen, ich sah nur den schwachen Abglanz meines eigenen Spiegelbildes, bekämpft schon vom Morgenlicht, das zwischen den Latten der Fensterläden schräg hereinbrach, in sieben Horizonte gesiebt, während ich Ernstl im Nebenzimmer ächzen hörte beim Auseinanderziehen der drei ineinandersteckbaren Schäfte seiner Fliegenfischstange. Die frühmorgendlichen Bachforellen hatten gefräßig in und kämpferisch gegen die Strömung Spannung auf die Karbonfasern gebracht und die Einzelteile der Rute voll Wut zusammengezurrt. Schwer atmen hörte ich den Alten in seinem Refugium, ich vernahm das Quietschen zweier glatter Steckteile beim Scheiden unter Ernstls zittriger Hand und bei dem Gedanken daran, dass ein Zusammenstecken dreier Schäfte gleitend und lautlos vor sich ging, überkam mich Euphorie, so sehr, dass ich die grüne Kunststoffschatulle von der Eckbank riss und auf die Tischplatte vor mir pfefferte. Sie schepperte und rappelte und metallisch kratzte der Inhalt an den Scheidewänden der Box. Ich klappte den Deckel auf, ein Koffer fast der Größe nach. Der Boden war in verschieden große Einbuchtungen unterteilt. Da lagen nackte Haken ihrer Kleinheit nach sortiert bereit, allesamt widerhakenlos. Goldköpfe in ebenso unterschiedlicher Konfektion schauten mich an. Die vertraute grüne Wolle war meterweise verpackt in Plastikbeutel mit Vakuumdruckverschluss. Ebenso verhielt es sich mit den blauen Flachsfasern, den weißen Katzenhaaren und den Hahnenhechelbalgen verschiedenster Couleur. Nur Ninas Haar wurde stets frisch geschnitten. Ich griff den Bindestock ebenfalls aus der Ecke, wichste ihn auf den Tisch und hörte Ernstl ein letztes Mal stöhnen, und die auseinandergehenden letzten beiden Teile der Fliegenfischstange quietschten wie am Spieß zwischen den Kostbarkeiten, die in Ernstls Schatzkammer noch warten mochten, zwischen allen Reliquienschreinen seiner Asservatenkammer, die ich wie eine heilige, tabuumwitterte Gruft nie sehen sollte, zwischen all den Fliegenfischstangen Ernstls ritterlicher Waffenkammer, zwischen den Regalbrettern, Kommoden und Schränken an den Wänden, die ein Zimmer formten oder vielleicht zwei, eine Küche und ein Badezimmer womöglich, wahrscheinlich ein ganzes bewohnbares Appartement, sicher immer reserviert, nicht nur zwischen Ernstls Grazaufenthalten, sondern gewiss das ganze Jahr, harrend seiner Ankunft, wenn die Herberge nicht zu klein war und finanziell zu schwach, zu wenig abwarf, und ich blickte mich um, saß hier, Stube und Küche ineins, während Ernstl schon ohne jede akustische Spur die drei Schäfte meiner Fliegenfischstange zusammensteckte, ein leises Vergnügen, ein heimliches Geschenkzurechtmachen wie zu Weihnachten zwischen den heimeligen Wänden von Ernstls Zimmer voller gerahmter Fliegen und Kalender, überbelichtete Fotografien, wunderschöne nackte blonde Frauen, die sich neben eben gefangenen, dem Wasser entstiegenen kolossalen Forellen im satten Flussufergrün räkelten oder gerade einen von goldenem Flaum bedeckten Arm ausstreckten, um einen ahnungslosen Jüngling namens Hylas ins kalte Nass eines dunklen, von Bäumen umstandenen Weihers zu zerren. Ein Gefährte des Herkules war er gewesen, müde von vielen Abenteuern und vom Arbeiten, was in der beiden Falle dasselbe bedeutete. Hylas und Herkules hatte es auf der Suche nach Rast in diesen Hain verschlagen, aber was war Rast ohne Stärkung, Erquickung und Erfrischung. Der arme Tropf wollte nur eben Trinkwasser holen und ward von niemandem mehr gesehen, abgesehen von diesen Nixen, soweit ich mich entsann. Willi Wasserhaus hieß der Maler, der jene Szenerie auf die Leinwand brachte, und entweder hatte ich die Erklärung vergessen, warum Herkules seinen Diener nicht begleitete und ihm half, oder der Mythos enthielt einfach keine, enthielt sich dessen. Nun ja, sonst hätte es ja auch nichts zu malen gegeben. Hätte sich Herr Wasserhaus eben ein anderes Sujet suchen müssen. War der eigentlich mit Hundertwasser verwandt? Sicher hätte es dem Halbgott einen Platz im Olymp beschert, die Nixen zu besiegen. Eine Bande aufsässiger, auftauchender Wassermädchen zu bändigen entsprach allemal dem Wert, eine dutzendköpfige Schlange zu erschlagen.
Unter solchen und ähnlichen Überlegungen stellte, ich ohne besonders darauf zu achten, die erste Goldkopfnymphe bis zum letzten Handgriff fertig, als mich Ninas aufdringliche Präsenz zum Verharren zwang. Ihr Haar fiel ruhig auf die Träger der blauen Latzhose, nach denen sich die hereinschleichenden Sonnenfinger streckten. Sie legten ihren erhellenden, verheißenden, scheinenden Griff um den Aufschlag der derben, leinenen Bauernbluse, die Nina trug, suchten und fanden um den offenen Kragen spitzlichtfindig die Sehnen ihres entblößten braunen Halses. Dieser Aufzug deutete auf Gartenarbeit hin, und normalerweise jätete, tränkte und pflanzte sie auch allenthalben ein. In diesem Moment aber stand sie da, pflanzte nur sich selbst vor mich hin, bewegungslos, sah mich an, der ich wohl genauso leer in die Luft vor ihr starrte. »Er mag dich wirklich sehr«, sagte sie dann, immer noch starr. »Du, Nina, darf ich mal?«, fragte ich, und sie stutzte, markierte in ihrem Stillstand genau die Mitte von Ernstls Auf-und-ab-geh-Strecke, die Zwölf zwischen elf und eins. Dann sah ich an dem erleuchteten Latzhosenträger, wie ihre Brust in Bewegung geriet, noch bevor ihr Gelächter glockenhell und doch voll Spott an mein Ohr schallte. Nina beugte sich vor, stützte sich mit den Ellenbogen auf die Tischplatte, und der Schatten auf mir verging, ich war im Licht, ihr Kopf sank bis auf Augenhöhe dem meinen entgegen. Eine gute Unterarmlänge trennte unsere Nasen voneinander, sie sah mir direkt in die Pupillen. Mein Blick spiegelte sich darin und glitt ihre Haare hinab, die sich in Hunderten Strähnen auf der ganzen Tischplatte verteilten. »Ja, danke«, sagte ich und griff nach der goldenen Nagelschere. An einer außerordentlich gut gepflegten, splisslosen Spitze schnitt ich ein paar Zentimeter ab, vielleicht insgesamt drei. Zwischen Daumen und Zeigefinger nahm ich das dicke, leicht gelockte Haar, sah darüber hinweg, und als die Spitzen zwischen Daumen und Finger verschwammen in der Peripherie meines Gesichts, bemerkte ich, dass genau zwischen mir und dem Bindestock Ninas Kopf war. Immer noch schaute sie mich statt der Nymphe an. »Zwei Jahre lang ist er verzweifelt. Er nannte das immer sein Schülerfischen«, ihre Lippen bewegten sich ungemein eindringlich. Bei den Vokalen schäumten in ihrem Mund einzelne Speicheltropfen, die folgende Zischlaute sogleich wieder verwischten und in die Wassermasse einpflegten. »Wie Menschenfischen meinst du?«, sagte ich und ihre Augen blitzten. »Eher wie Fliegenfischen«, ein Lichtstreif geriet an ihr elektrisiertes, blondes Haar und ließ es aufleuchten, kein bisschen totes Eiweiß mehr, eher lebendiger Schmuck. »Aber man fischt ja mit Fliegen«, sagte ich und sie konterte, »Ernstl geht morgens wie Forellen Schüler fischen, gegen den Strom, bis ihn jemand sieht und anbeißt, und dann geht er mit seinen Schülern fischen wie mit Fliegen, nur eine weitere Marionette in der Kette.« – »Aber Ernstl fischt doch selber«, sagte ich, und sie richtete sich auf, verdüsterte mich und sprach wie ein Todesengel vor versinkender Sonne am Horizont, »schon mal ein hiniges Insekt gesehen, das zittert. Stumm geht den Fluss die Trockenfliege runter. Das ultimative Muster.« – »Ultimo wie das letzte?« – »Ganz ein Gescheiter, ja, das letzte, ein totenruhiges Insekt.« – »Oder ein Spinnentier.« – »Still!«, sagte sie, »je nach Art und Guster gerade geschlüpft oder schon alt, manchmal beides, eine Eintagsfliege beispielsweise. So weit musst du kommen.« Ihr Haaransatz rutschte langsam nach oben, ihre Strähnen luden sich mit Lichtenergie, Photosynthese statt Proteinbiosynthese, und schon schlang sich die erste Korkenzieherlocke in ihren Schopf. »Aber man kann die Schnur doch geschlungen in die Strömung legen«, sagte ich baff. »Nicht wenn du fischst, wie Ernstl es lehrt. Die letzten drei hat er noch vor der ersten Nymphe davongejagt. Der arme Gerry hat selber ausgesehen wie eine geworfene Fliege, als er die Treppen runtergeflogen ist.« – »Ernstl hat ihn gestoßen?« – »Wer sonst? Nur dass das Granitpflaster keine weiche Wasseroberfläche war. Gestrampelt hat er wie ein Baby, wie ein Babykäfer. Wie bist du überhaupt auf Ernstl gekommen?« – »Kurti hat mir erzählt, er suche jemanden.« – »Der Fleischer?« – »Ja, und dass er der Beste ist, das hat er auch gesagt, der Guru im Dōjō.« – »Okay, dieses Scheißkaff, mein Gott, sei froh, dass du außerhalb wohnst. Hier hat der Teufel wirklich seinen Sack ausgeleert. Okay, erstens, du sagst Ernstl das mit Kurti nicht, auf keinen Fall, verstanden?« – »Wen mag Ernstl eigentlich?« – »Sagte ich doch eben, dich. Also versau es jetzt nicht. Seine Suche war schrecklich. Da kannst du Gift drauf nehmen. Hält doch keiner aus, den alten Säufer, wenn er auch noch grantig ist«, und damit schwebte sie langsam aus dem Raum, nicht ohne zu sagen: »Abgesehen davon weiß ich gar nicht, was er an dir findet«, pflanzte sie mich und ihre Schritte gaben keinen Laut auf den frisch gewischten Dielen. Als ich gerade das Haar zu Flügeln machen wollte, pochte es von draußen gegen das Fenster. Ich ging hin und öffnete die eine Hälfte. Der Laden schwenkte an Ninas Wange haarscharf vorbei. Eine Franse flatterte ihr aus der Stirn. »Zweitens, vergiss diesmal das Frisieren nicht!« Daraufhin stutzte ich die braunen Hecheln noch am Rücken und befestigte die Strähne, ohne eine einzige Hahnenfieber an den Seiten oder am Bauch niederzubinden. Als ich aufsah, stand Nina noch immer dort, lächelte und sagte: »Schöner als ich.« – »Schöner frisiert«, ich. »Schöner eben«, und ging zur Gartenarbeit über.
Draußen trieb der Föhn die Äste wie Wegweiser in Richtung des kalten Flusswassers. »Ja, besser als das Original«, erschien der sturmalte Mann an meiner Seite, ein Querstreifen über seiner Brust im Licht des noch geschlossenen Fensterladens. »Schöner«, sagte ich, band den Schlussknoten, »ja, eben«, sagte er und ich schnitt unter solchem Zug ab, dass es den Faden zurück auf die Spule fetzte. Ich legte die Goldkopfnymphe auf den Tisch. »Schau sie dir an, diese Vollkommenheit!«, sagte Ernstl, während er ein Achterlglas aus der Anrichte angelte, es auf den Tisch stellte und randvoll schenkte aus einer eben gefischten, frischen Doppelliterflasche, »der blaue, dralle Körper, der grazile Hechelkranz, der braune Hals, der goldene Schopf, der rehfarbene Schwanz, die blonde Flügelscheide«, Ernstl hob den Wein an seine Lippen, schielte aber während des Trinkens über den Pokalrand hinaus Richtung Küchenfenster, das die Zugluft halb zu sich, hinaus in den Garten, gezogen hatte, wo Ninas Latzhose die Schenkel hinauf schon mit Humus besudelt war. Im Sonnenlicht stach Nina einen messerscharf blitzenden Spaten ins Wurzelwerk einer mannshohen Brennnessel. Ernstl schluckte, »wie diese Pflanze«, sagte er, »Ernstl, die landet mit vor Sicherheit glänzender Wahrscheinlichkeit auf dem Komposthaufen«, während Nina das Schaufelblatt trat derart abgehackt, dass es ihre Haare kopfüber die Schultern nach vorne schleuderte. Der Schopf schwebte voll im Umschwung eine Sekunde, bis die Strähnen rieselten, Ninas Dekolleté entgegensegelten, wie Federn auf dem Stoff landeten, sich formveredelnd niederlegten, an die Brüste schmiegten bis in die Spitzen, dazwischen derbes Leinen. Ernstl starrte Ninas nun nacktes, sonnenbrandvernarbtes Genick über dem weißen Schlafittchen an, stellte das Glas ab auf dem Tisch und neben die Nymphe, die sich auf der Scheibe spiegelte zwischen Ernstl und mir. »Denn sei sie dein«, sagte er, wandte sich mir zu, während Nina draußen die Brennnessel ausriss samt Wurzeln und allen daran hängenden, vor sich in ihren Kokons hin metamorphisierenden Schmetterlingslarven. Und plötzlich wurde mir Vieles zuwider, der geile Blick des Alten auf Nina oder auf die Dutzenden gebundenen Nymphen, hinausgeschwommen und verquer oder hingekrault zum Beckenrand des Küchenfensters und umgekehrt, aus glasigen Augen, auf deren Netzhaut sich die Herbergsgeberin und die Fliegen womöglich schon doppelt und dreifach abzeichneten. Draußen streckte sich Nina Nase voran an die ersten Blüten des Flieders, erfreute sich an dem Duft oder kontrollierte, ob sich schon Bienen darin tummelten. Ich fädelte den Kopf, spannte den nächsten Haken ein, band einen Körper aus weißem Katzenfell. Auf der Glasscheibe fasste Ernstl spiegelverkehrt in die Zimmerecke, hinter den Terrakotta-Topf, aus dem winkeltotmachend ein Rosmarinstrauch spross. Ernstl grinste im Glauben mich zu überraschen, als er mir wie bei einem Ritterschlag auf die Schulter tippte mit der Fliegenfischstange. Ich erhob mich und zu Boden hingen Latzhosenträger. Nina stand in der Zimmertür, in ihrer Bluse Knopfloch Stängel voran gesteckt eine violette Fliederblüte.