Читать книгу Die Forelle - Leander Fischer - Страница 8
4 Eine pubertierende Teenagerin
befindet sich am Flussufer
ОглавлениеPappeln, Birken, Trauerweiden, Schlüsselblumen, die offensichtlich in den schmalen Grasstreifen zwischen den geschotterten Wegen gepflanzt wurden und den Wunsch der Ausflügler nach Schönheit ausdrückten wie Teenagerfinger Pickel in sonst ebenmäßigen Gesichtern. Wie die verkrusteten Wunden wirkten die aus dem Boden hervorbrechenden Blumen. Ich folgte dem Flussverlauf der Äschenstrecke, stets neben mir die schwimmende, neongrüne Schnur, die schlaufenförmige Spitze, leicht absinkend, wo sie ins Vorfach überging. So würde ich zumindest den Bissruck bemerken, dachte ich, und dann den Fisch, zwei imaginierte Ernstlarmspannweiten in Verlängerung des Schnurendes. Unbemerkt war die Nymphe aus meinem Blick gesunken, ihre genaue Position längst ungewiss, obwohl das Wasser sonnenklar war. Die Lage von vor einigen Tagen ließ sich daran ablesen. Es hatte weder geregnet noch geschneit die letzten Wochen, überhaupt hatte dieser Winter wenig Schnee gebracht. Dreckiges Schmelzwasser gab es also keines. Außerdem verriet die Sonne, wie sie stand, wie sie ihre Strahlen auf die flachsblaue Flussoberfläche aquarellierte, dass ich niemanden beim Fischen antreffen würde. Weil es schon auf zwölf zuging, brauchte es schon einen Zampano der extra kleinen Goldkopfnymphe. Stattdessen begegnete ich auf meinem Spaziergang durch dieses landschaftsarchitektonische, kurortangemessene Erholungsgebiet Senioren, Greisen und Greisinnen, Gassigängern samt sabbernden Labradoren, die ihre Schlappohren im Lauf wie Entenflügel aufflattern ließen. Früher wurden diese Viecher als Apportierhunde bei der Jagd eingesetzt. Da ballerte man mit voller Schrotflinte die Wasservögel vom Himmel herunter, ja, braver Hund. Aber dazu waren diese Menschen nicht hier. Ihre Enten hatten sich in leblose Gummiapportel verwandelt und der früher kultivierte Jagdinstinkt ihrer inzwischen verstreicheltrottelten Vierbeiner war völlig verkommen. Wenigstens einmal im Jahr kam es vor, dass ein Kind hinfiel im eigenen Haus, und dann gab es einen Vorfall, weil sich der Hund schlagartig durch das Stürzen der Beute erinnerte an den Vorfahr. Ich linste ins Wasser, hatte die versunkene Schnurspitze verloren und vermochte mich bissiger Gedanken kaum zu erwehren. Die Rolle des Hundes war es, sobald der Herr es für richtig hielt, zu sterben, eingeschläfert zu werden, wer wollte es ihm verdenken, da wenigstens noch ein Kind mitzunehmen. In seltenen Fällen wurden die treuen Begleiter auch ausgesetzt, heulten auf der Suche nach einem imaginären Rudel, mutierten zu Streunern, verunsicherten die Wälder und landstricherten Flussuferwiesen hinunter.
Ein paar Fahrradfahrer radelten an mir vorbei. Sie trugen Helme, Knieschoner und hatten Wasserflaschen dabei. Vom Boden, der inzwischen von Schotter zu Sand und Staub übergegangen war, hob sich eine Wolke. Die Partikel nahmen mir die Sicht, verklebten meine verschwitzten Schläfen, kitzelten meine Nasenhaare, vertrockneten meine Zunge, strömten in meine Lunge, und als ich nieste, stieß ich entweder noch ein paar Sandkörner aus oder blies den eh schon hochgewirbelten Staub vor mich hin. Ich drang weiter vor in die Wolke, nahm noch ein bisschen Dreck auf Geheimratsecken, Lidern und Flanellhemd mit, der aufgewirbelte Staub legte sich. Die Fahrradfahrer waren weg, gepflanzte Blumen gab es hier auch keine mehr, die Bäume waren höher und die Rentner alle überholt, so weit hinter mir, die nächsten Rentner noch nicht in Sicht, die Hundebesitzer wohl irgendwo hängengeblieben, an Leinen, Apportierartikeln, ich wusste es nicht, es war mir auch egal, dass ich völlig allein stand. Ich hörte das Wasser plätschern, sah Gestrüpp sich vom Ufer in einer Halbparabel schwungvoll ins Wasser stürzen. Zwischen den Zweigen, die eintauchten in die Äschenstrecke, und den Wurzeln, die im Trockenen weilten, entstanden hervorragende Stehplätze für Fische. Ich hob meinen Kopf, dachte an Ernstl und Trockenfliegen, Insekten, die den Strauch bevölkerten, versehentlich zur Beute wurden, indem sie ins Wasser fielen, von Fischen statt Vögeln vernascht wurden, und sah einem Flugzeug im Landekurs auf Linz zu, wie es lautlos einen Kondensstreifen ins Himmelblau schlitzte. Linker Hand wucherte der Wald. Hinter den paar Gewächsen, die den Weg auf der gegenüberliegenden Flussseite säumten, lagen weite Felder. Bis zu den Kalkalpen hinter der flachdachigen Eigentumswohnungssiedlung, aus der ich kam, reichte mein Blick. Es roch verdorben, woraus ich schlussfolgerte, dass hier irgendwo ein Kadaver vor sich hin moderte, möglicherweise sogar irgendwo am Ufer, oder eine Blutspur sickerte in den Fluss, was womöglich die Wasserqualität und den Appetit der Äschen verdarb, was zum Misserfolg und Fernbleiben der Fischer beitrug, die sich heute Morgen schon vergebens versucht hatten.
Oder es war das ranzige Mädchen, das an der nächsten Kurve in Sicht kam, auf seinem Stein hockte, seinen eigenen Geruch mit Zigarettenqualm zu übertünchen probierte, in einer schmutzigen Strickjacke steckte, sein Gesicht mit verfilzten Haaren verdeckte, die bei dieser Kopfhaltung keineswegs verbargen, dass es idiotisch auf die Wasseroberfläche glotzte. Ein kniegroßes Loch in der schwarzen Jeans, ein halbwegs verkrusteter roter Schlitz am Arm, ein an irgendeinem Kaugummikondomautomaten gezogener Totenkopfring an jedem Finger, eine Zigarette in der Hand, die sie nun wieder hob gegen ihr Gesicht, wie ich erkannte, sobald ich auf ihrer Höhe war, das meiner einstmaligen Schülerin und jetzigen Balletttänzerin. Sie hauchte mir den Qualm entgegen. Ich war stehen geblieben. »Oh, hallo.« Da muckte sie ihr Kinn erst nach oben und bemerkte mich. »Ist wohl nicht möglich, eine Sekunde hier ruhig zu sitzen«, sagte sie. »Solltest du nicht in der Schule sein?«, fragte ich. »Und du?«, fragte sie. »Nur zur Information«, sagte ich, »wir wohnen da nicht.« – »Aber hier wohnst du auch nicht. Geh nach Hause!« – »Ich nehme an, wir sehen uns nächsten Mittwoch nicht.« – »Richtig geraten, du Bastard.« – »Du musst mich nicht mögen.« – »Arschgeige!« – »Vielleicht könnten dich deine Eltern mal abmelden, wenns genehm ist. Dann bekommt jemand anders deinen Platz beim Monster.« – »Das willst du doch gar nicht …« – »Unhold«, half ich ihr. »Eine Stunde rumsitzen und nichts tun und Geld dafür. Ist doch nicht schlecht. Außerdem berserkerst du doch viel lieber auf deiner Scheißgeige, als noch so einem Wannabe-Jimmy ein paar Riffs beizubringen.« Sie hatte mich bergquellkalt erwischt und ich Kinder in ihrem Alter: »Und du redest ungeheuer gern mit deinen Eltern, nicht?« – »Ja«, knurrte sie. »Und wie gefällt dir die Korsage?« – »Ey, alter Sack, ich warne dich. Hier war schon einer, der mich anbraten wollte. Ich hab ihn weggeschickt. Der sitzt jetzt sicher in irgendeinem Bahnhofsresti. Verziehst du dich auch am besten hin. Könnt ihr euch zusammen aufgeilen. Vielleicht haben sie ja sogar eine minderjährige Kellnerin.« Ich war erstaunt und wechselte in den Orchestermodus, spielte nach dem Fehler weiter, überspielte einfach alles, urösterreichischer Überzug, Zuckerguss und Höflichkeit. »Entschuldigen vielmals, Mademoiselle.« – »Spar dir das Pseudokulturmenschgehabe.« – »Ich dachte, deine Eltern hätten dich ins Ballett gesteckt.« – »Ebendeswegen ja.« – »Hey, das ist doch nichts Schlimmes. Ich habe so was zwei Jahre getragen.« Sie lachte, abgrundtief spöttisch, zog noch einmal an der Zigarette, dämpfte sie auf dem Stein aus, auf dem sie saß, und steckte sie in eine leere Bierdose, die sie aus ihrer Strickjackentasche zog. Jetzt sag einmal, dieses Blech, woraus bestand das. Und die Marke eine ehemals jüdische Firma, inzwischen fest in österreichischer Hand, unmöglich, auf die Zunge biss ich mir. »Ja wirklich. Als Jugendlicher habe ich mir den Rücken ruiniert. Vom vielen Üben. Gebeugt über die Saiten. Immer im Sitzen. Deswegen haben wir in der Stunde auch gestanden. Das kam dann bei der Stellung raus. Und statt ins Bundesheer haben sie mich in ein Korsett gesteckt. Vorrübergehend untauglich. Ärzte, Physio und andere Therapeuten, Unteroffiziere, Chargen, alles dieselbe Bagage.« – »Musikschullehrer hast du noch vergessen«, und nach einer kurzen Pause, »gehst du deshalb jetzt hier spazieren?« – »Ja, möglich wärs. Und du?« – »Ich denke nach«, ich sah ihr starr in die verkniffenen Augen. Es war nicht das Gegenlicht der Sonne. Genauso wenig wie die Lichtstrahlen aber hielt sie auch meinen Blick nicht aus. »Ja, schau mich an, Alter. Wonach siehts denn aus? Was so Problemkinder halt machen. Über den schwarzen Schwan und Ophelia denk ich nach. Selbstmordphantasien und so. Zufrieden?« Ich winkte ab. »Erst, wenn du dich von mir auf ein Eis einladen lässt.« – »Danke, das hat der letzte Penner auch schon probiert.« – »Und was hast du gesagt?« – »Pädophiles Schwein.« – »Und wirklich?« – »Dass meine Mama gesagt hat, ich darf nichts von Fremden nehmen.« – »So gesehen, kannst du mit mir auf ein Eis gehen.« – »Danke, nein, ich bin noch mit Denken beschäftigt. Könnte dir auch nicht schaden.« – »Gut Frau Ersthelferin. Was denkst du denn so?« – »Also der vorher hatte eine blaue Blume ans Revers gesteckt.« – »Eine Kornblume?« – »Ja, genau so einen Scheiß. Kannst du mir sagen, was alle diese Leute an wegsterbenden Dingen so toll finden?« – »Ja, das verstehe ich auch nicht.« – »Kannst ja bei mir zu Hause anrufen, wenn dir noch was einfällt.« – »Okay«, sagte ich kleinlaut, wandte mich ab, und dann sagte sie noch, was mich kurz innehalten ließ: »Nur, weil wir gequatscht haben, heißt das jetzt noch nicht, dass wir Friends sind. Höchstens, dass du nicht so mies bist wie der Letzte. Deine Stunde kannst du jedenfalls in Zukunft alleine verstehen. Ich hab verstanden. E-cua-dor, E-cua-dor, Chi-le. Zynischer gehts nicht, oder? Diese fucking Geigen sind aus Tropenholz«, und ich folgte den Himmel und Wolken zerschneidenden Kerosinschweifen zurück, vorbei an Ernstl, hinein in mein Auto, der gerade eine Forelle drillte, die er direkt zu seinen Füßen gefangen hatte. Es war genau zwölf Uhr und noch genug Zeit, ein herrliches Essen zu bereiten und es im Ofen warmzustellen für meine vom Gymnasium heimkehrenden Söhne, bevor ich zur Musikschule abfahren musste. Die Tanknadel zeigte schon wieder auf null statt Full. Doch als ich spätabends heimkehrte, diesmal unmittelbar nach der Musikschule, waren die gebratenen Fleischscheiben immer noch da, Lukas und Johannes bereits in ihren Zimmern und Lena abwesend. Nachdem ich früh aufzustehen hatte, wie ich in diesem Moment erwog, legte ich mich nieder. Vielleicht hatten auch meine Söhne sich in Umweltschützer, Vegetarier, Aktivisten, sonstige ungeheure Ungetüme oder wer-weiß-na-was verwandelt. Über diesen Gedanken brütend und den purpurroten Sonnenuntergang durch das Schlafzimmerfenster beobachtend dämmerte ich weg in unruhige Träume, und als ich wenig später dieser Nacht aus ihnen erwachte, fand ich mich im Eichenbett auf einer Daunenfederkernmatratze, neben meiner normalerweise nackt schlafenden Lena in weißem, gebleichtem, raupentotem Seidennachtgewand einerseits, die noch nicht ihre typische Schlaftemperatur ausstrahlte, einem eiskalt fluoreszierenden Wecker andererseits, der mittels Kupferdrahtspulen, Batteriesäure und kaltem Licht elf Uhr anzeigte. Ich stellte mich schlafend, blieb wach bis eins, sicherzugehen, vor bösen Geistern gefeit zu sein.