Читать книгу Tödlicher Nordwestwind - Lene Levi - Страница 11

Kapitel 9

Оглавление

Enno Fedder und Hauke Schortens waren gerade mit Wartungsarbeiten auf dem Deck ihres Kutters beschäftigt, als die beiden Polizisten den Sielhafen erreichten. Robert stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz ab, dann schlenderten sie hinunter zum Schiffsanleger. Es versprach wieder ein brütend heißer Sommertag zu werden, aber hier am Meer wehte eine erfrischende Brise, die irgendwie Urlaubsstimmung aufkommen ließ.

„Moin Herr Fedder. Erinnern Sie sich noch an mich?“

Enno ließ die Zigarette sinken und starrte ihn an.

„Und das ist Kriminalmeister Onken, mein Assistent. Wir hätten da noch ein paar Fragen an Sie.“

„Haben Sie inzwischen schon herausgefunden, wer dieser arme Teufel war?“ Enno wischte sich seine ölverschmierten Hände an einem Putzlappen ab und steckte sich anschließend seine Zigarette wieder an.

„Wir sind uns noch nicht ganz sicher, werden es aber bald herausfinden. Aber das ist nicht der Grund, weshalb wir zu Ihnen kommen. Vielleicht könnten Sie mir nochmal behilflich sein in dieser Angelegenheit.“

„Ich habe nicht viel Zeit, Herr Kommissar. Sie sehen ja selbst, was hier alles noch zu erledigen ist.“

„Verstehe. Es sind nur ein paar Fragen. Ich würde Sie deshalb gern unter vier Augen sprechen.“

Enno stöhnte: „Also gut, wenn es unbedingt sein muss.“ Er warf seinen Putzlappen achtlos in eine Ecke.

„Und mein Assistent würde sich auch gern mal auf dem Krabbenkutter umsehen. Vielleicht könnte Maat Schortens ihm bei dieser Gelegenheit erklären, wie so ein Schleppnetz funktioniert.“

Enno kletterte über die Leitersprossen der Spundwand hinauf und gab oben vom Kai aus Schortens ein Handzeichen. Der Maat war nicht gerade begeistert, als Jan auf dem gleichen Weg hinunterkletterte und das Schiffsdeck betrat.

Robert wandte sich an Enno: „Haben Sie nicht Lust auf einen Pott Kaffee? Wir könnten einen kleinen Spaziergang zum Kurhaus machen.“

„Das hat aber jetzt noch nicht geöffnet. Die Besitzer machen den Laden immer nur an den Wochenenden auf.“

Robert sah auf seine Armbanduhr. Heute war Donnerstag. Das hatte er vergessen. Dann lachte er:

„Na, dann hat sich wenigstens in dieser Beziehung nichts verändert. Früher war das auch schon so.“

Die beiden Männer nahmen den Trampelpfad über die Wiese und gingen an dem stillgelegten Leuchtfeuer vorbei. Nach wenigen Minuten erreichten sie den Sandstrand vor der Geestkante. Robert betrachtete den gewölbten und massiven Damm aus rotem Backstein, der eine Art künstliche Schutzmauer gegen drohende Sturmfluten bildete. Auf dem darauf angelegten Areal standen das Alte Kurhaus und die vom Zahn der Zeit reichlich in Mitleidenschaft gezogenen Nebengebäude.

„Ich habe es gleich bemerkt, dass Sie sich hier ganz gut auskennen, Herr Kommissar.“

„Sagen wir mal so: Ich verbinde mit diesem Ort einige sehr schöne Erinnerungen. Auch wenn das schon lange zurückliegt.“

„Aber das ist sicherlich nicht der Grund, weshalb Sie sich mit mir unterhalten wollen, oder?“

„Eigentlich schon. Ich hatte nämlich an dem Tag, als wir uns das erste Mal begegneten, ganz einfach vergessen zu fragen, ob Sie zufällig mit meinem alten Schulfreund Jülf Fedder verwandt sind.“

„Mit Jülf? Na klar. Das ist mein Vater.“

„Wie geht es ihm?“

„Soweit ganz gut. Aber seitdem er den alten Laden vor einigen Jahren schließen musste, ist nicht mehr viel los mit ihm.“

„Jülf und ich, wir kennen uns schon seit unserer Kindheit. Er hatte doch damals das Lebensmittelgeschäft der Großeltern übernommen. Oder besser gesagt, übernehmen müssen, denn im Grunde konnte er damit gar nicht viel anfangen. Sein Traum war doch immer Kunstmaler zu werden.“

„Ach, wissen Sie. Die Leute kaufen heutzutage ihre Sachen in Supermärkten. Der kleine Tante-Emma-Laden der Familie Fedder rentierte sich irgendwann nicht mehr. Der ehemalige Laden ist deshalb seit ein paar Jahren eine Ferienwohnung. Jülf kümmert sich darum.“

„Und malt oder zeichnet er denn noch?“

„Kunst ist doch Scheiße, Herr Kommissar. Wenn Sie wissen, was ich meine.“

„Hat aber eine lange Tradition, und ganz besonders hier in Dangast.“

„Mag wohl sein. Bringt aber kein Geld ein.“

Sie waren den von der Tide geglätteten Sandstrand entlang gegangen. Wenige Meter vom Ufer entfernt stand im seichten Wasser ein hölzerner Königsthron mit der Inschrift »Kaiser Butjatha« und in seiner unmittelbaren Nähe, direkt an der Hochwassergrenze, ragte ein drei Meter hoher Phallus aus Granit aus dem Sand, den ein Aktionskünstler dort eingegraben hatte. Dieses Ding sorgte in den 80er Jahren für Furore und ganze Heerscharen prüder Spießer auf die Palme gebracht. Robert gab der Skulptur im Vorbeigehen einen wohlgemeinten Klaps, da er sich darüber freute, dass der Phallus allen Stürmen und Fluten bislang getrotzt hatte. Nach wenigen Metern erreichten die beiden Männer die steile Treppe, die direkt vom Watt über die alte backsteinerne Strandmauer hinauf zum Alten Kurhaus führte. Als sie auf der obersten Stufe ankamen, lehnten sie sich zuerst an das weißgestrichene Metallgeländer und warfen einen Blick auf den fast menschenleeren Strand und über den ganzen Jadebusen, über dem eine flimmernde Luftschicht lag.

Robert entdeckte plötzlich eine aufgestellte Bildtafel, die eine Gemäldereproduktion des Brücke-Malers Max Pechstein zeigte. Der Künstler hatte das Bild 1910 unten vom Strand aus gemalt. Das Bildmotiv stellte genau jene Stelle dar, an der sie jetzt standen. Auf der Abbildung leuchteten das Alte Kurhaus und die klinkerrote Schutzmauer in satten Farbschattierungen. Darüber wölbte sich ein wolkendurchpflügter Sommerhimmel. Die restliche Szenerie zeigte ein Farbenspiel aus Grüntönen der üppigen Vegetation des Geestrückens. Unterhalb der Mauer am Strand war das von Salzgras und Schlickpflanzen bewachsenen Wattufer gut zu erkennen. Zwei einfache Klappstühle hatte der Maler in die untere linke Bildecke platziert. Die baugleichen altmodischen Sitzmöbel standen noch heute im Vorgarten des Lokals. Für Robert war es eine Botschaft aus einer fernen Welt.

„Wann wurde denn diese Tafel aufgestellt?“, erkundigte er sich.

„Keine Ahnung. Vor etwa zwei oder drei Jahren. Der hiesige Tourismusverband hatte sich durch den Dangaster Kunstpfad mehr Attraktivität versprochen. Davon wurden noch mehrere hier in der Umgebung aufgestellt. Wenn Sie möchten, kann ich sie Ihnen zeigen.“

„Danke. Vielleicht ein andermal.“

Enno wurde langsam ungeduldig. Der Kommissar wollte ihn ganz bestimmt nicht unter vier Augen sprechen, um mit ihm über Kunst zu plaudern.

„Herr Kommissar, kann ich nun wieder zu meinem Kutter zurück?“

Doch Robert reagierte nicht auf seine Frage. Im Gegenteil, die Brücke-Maler ließen ihn noch nicht los.

„Hier begegneten die Maler einer mächtigen Natur, einer herben Landschaft. Sie erlebten die Baumblüte, kurz und heftig, die Stürme, welche die Deiche zernagten und die Menschen daran erinnerte, wie klein sie sind. - Sehen Sie mal, als Pechstein dieses Gemälde hier malte, war es für die damaligen Kunsthändler und Galeristen keinen Pfifferling wert. Und heute ist es eine Ikone der Kunst des 20. Jahrhunderts. Mit Geld kaum noch zu bezahlen.“

„Aber Ikonen kann man nicht essen.“

Ennos Bemerkung klang weniger erstaunt, sondern vielmehr erschöpft und frustriert.

„Ich weiß, die wirtschaftliche Situation sieht ziemlich mies aus. Und ganz besonders hier oben im Nordwesten.“

„Das war schon immer so“, bestätigte Enno ganz lapidar Roberts Feststellung.

„Und trotzdem haben Sie sich einen Krabbenkutter gekauft und sind hier geblieben.“

„Was hätte ich denn sonst auch tun sollen? Ich bin jetzt über dreißig und war vorher etliche Jahre arbeitslos.“ Enno verdrängte diesen schrecklichen Gedanken aus seinem Kopf. „Weglaufen war nie mein Ding.“

„Bestellen Sie bitte Ihrem Vater einen schönen Gruß von mir. Ich würde ihn gern mal besuchen.“

„Richte ich ihm aus, Kommissar. War´s das?“

„Nein, noch nicht ganz. Kommen Sie. Setzen wir uns für einen Moment.“

Die beiden Männer waren ganz allein im Vorgarten des alten Lokals. Sie suchten sich zwei der verwitterten Gartenstühle und wählten sich einen schattigen Platz aus.

Jetzt die richtigen Worte zu finden, fiel Robert schwer: „Es gibt da ein paar Hinweise von der Rechtsmedizin. Sie haben zum Beispiel an der Kleidung und auf der Haut des Toten einige Spuren entdeckt, die auf ein Seil hindeuten, an dem der Ertrunkene möglicherweise festgebunden war. Ich frage mich nun schon die ganze Zeit, ob nicht doch noch was anderes mit im Fangnetz hochgehievt wurde. Vielleicht irgendein Ballastgegenstand, ein Stein an einem Seil oder ähnliches.“

Enno gab sich plötzlich überrascht. Robert nickte ihm zu und fuhr fort: „Wissen Sie. Als ich die Leiche auf dem Kutterdeck besichtigt habe, ist mir jedenfalls nichts aufgefallen. Auch auf meinen Fotos konnte ich nichts dergleichen entdecken. Und jetzt kann ich mir darauf keinen rechten Reim machen.“

Enno, der bisher geschwiegen hatte, wirkte nachdenklich: „Also, wenn Sie mich so genau danach fragen, Kommissar, fällt es mir wieder ein. Ja, da war auch ein kleiner Anker mit dabei. Der war mit einem Kunststoffseil an dem Bein des Toten festgezurrt.“

Robert nickte wieder, diesmal lebhafter. Er stellte seine Frage eher behutsam:

„Aber warum haben Sie mir bisher nichts von dem Anker und dem Seil erzählt?“

„Wollte ich ja zunächst auch. Aber dann war ich so verärgert darüber, weil mir dieser tote Kerl den ganzen Fang versaut hatte. Ich konnte ja die ganze Tagesausbeute nur noch ins Meer zurückwerfen. Da gibt es sogar eine Vorschrift, von wegen der Hygiene und so. Würden Sie meinen Granat kaufen, wenn Sie wüssten, dass er zusammen mit einer Wasserleiche aus dem Meer herausgezogen wurde?“

Robert zuckte bei dem bitteren Ton in seiner Stimme zusammen, konnte ihm aber seine Feindseligkeit nicht verdenken.

„Gibt es denn bei einem solchen besonderen Härtefall keine finanzielle Entschädigung für euch?“

„Wo denken Sie hin, Herr Kommissar? Von wegen Entschädigung! Wir sind ganz auf uns allein gestellt.“

„Verstehe. Aber was haben Sie mit dem Anker gemacht?“

„Er hatte mein Netz stark beschädigt. Wir mussten es flicken. Hauke ist dann auf den Gedanken gekommen, das Ding zu verhökern, um wenigstens einen finanziellen Ausgleich für unseren Verlust einzuholen.“

„Ach du liebe Scheiße!“ Roberts Gesichtszüge entglitten zusehends und auf seiner Stirn bildeten sich Falten. Er wusste nicht sofort, wie er darauf reagieren sollte. Enno sprach schnell weiter: „Dieser Rocna-Anker sollte mindestens 3.000 Euro wert sein. Hauke kennt sich da aus, jedenfalls behauptet er das. Ein Verkauf würde zumindest das Schlimmste verhindern. Sie müssen wissen, als Vertragsfischer bin ich gezwungen, eine Fangmenge von mindestens 300 Kilo pro Tag abzuliefern. Unter diesem Limit lohnt es sich nicht mehr rauszufahren und ich könnte meinen Kutter bald in den Wind schreiben.“

Robert war sprachlos, begann aber langsam, zu verstehen.

„Wissen Sie da eigentlich, was Sie sich mit dieser Aktion eingebrockt haben? Sowas nennt man bei der Justiz Unterschlagung von Beweismitteln. Darauf steht eine hohe Geldstrafe, vielleicht sogar Knast, da es nach dem Gesetz als Diebstahl angesehen wird oder als Unterschlagung, schlimmstenfalls sogar als Strafvereitelung. Vom Tatbestand der Hehlerei mal ganz abgesehen. Ich sehe da eine Menge Ärger auf Sie zukommen.“

„Sie werfen da mit Begriffen um sich, Herr Kommissar, da wird mir ganz flau im Magen. Ich hätte vielleicht doch auf Hauke hören sollen. Er wollte unbedingt die Wasserleiche einfach ins Meer zurückwerfen. Wäre es nur so geschehen, dann hätte ich jetzt nicht diesen Ärger am Hals.“

„Sie haben mir immer noch nicht meine Frage beantwortet. Also: Wo befindet sich der Anker jetzt?“

Ennos Unbehagen war sichtbar, und obwohl Robert ihm keinen Vorwurf zu machen schien, waren die nächsten Minuten sehr angespannt. Der Kommissar ließ nicht locker.

„Sie sollten sich jetzt ganz genau überlegen, was Sie sagen. Sonst verstricken Sie sich ganz leicht in Widersprüche und ich kann Ihnen dann nicht mehr helfen.“

„Herr Kommissar, muss ich nun mit einer Strafanzeige rechnen?“

„Das kommt ganz darauf an, was Sie jetzt sagen. Also, wo ist das entwendete Beweisstück?“

„Hauke hat ihn nach Neuharlingersiel gebracht. Er kennt dort einen Sportboothändler, der ihn verkaufen soll. Der Rocna-Anker war ja noch so gut wie neu.“

„Sie können von Glück reden, wenn das Teil noch nicht verscherbelt ist.“

Robert eilte zu seinem Wagen und ließ über Enno seinem Assistenten ausrichten, dass er ihn sobald wie möglich am Hafen abholen würde. Eine Stunde später traf er in der kleinen Marina von Neuharlingersiel ein und fand auch sofort den Sportboothändler. Der Mann hatte zwar das Beweisstück aus hochwertigem Edelstahl inzwischen schön aufpoliert, aber noch nicht verkauft. Er glotzte ziemlich fassungslos aus der Wäsche, als der Kripo-Beamte ihm mitteilte, dass er in seinem Gebrauchtwarenangebot mutmaßliche Hehlerware entdeckt hätte, und er daraufhin mit einer Strafanzeige rechnen müsste. Aber der Geschäftsmann wusste tatsächlich nichts über die Vorgeschichte. Hauke Schortens hatte ihm nichts darüber erzählt. Robert konfiszierte den Anker und trug ihn auf seiner Schulter aus dem Geschäft.

Tödlicher Nordwestwind

Подняться наверх