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Kapitel 2

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Etwa zur gleichen Stunde dieses hochsommerlichen Julitages stand Robert Rieken in Gummistiefeln und einer nagelneuen Anglerkluft am Leib auf dem schmalen Holzsteg am Ufer eines kleinen Binnensees, der idyllisch zwischen Wiesen und Wäldern eingebettet lag. Ein geschäftstüchtiger Grundstückspächter war auf die Idee gekommen, aus diesem etwa 70.000 qm großen Wasserareal ein gewerblich attraktives, kleines, aber feines Anglerparadies zu schaffen. Robert war schon oft an dem Werbeschild des Betreibers vorübergefahren. Jedes Mal nahm er sich vor, sein nächstes freies Wochenende dafür zu nutzen, um diesem Anglerparadies einen Besuch abzustatten. Aber immer wieder war irgendwas dazwischen gekommen. Allerdings waren seine freien Tage in letzter Zeit ziemlich rar geworden. Genaugenommen war dieses Wochenende das erste Dienstfreie, seit seinem persönlichen Rückversetzungsantrag, der vor etwa sechs Monaten stattgegeben wurde. Jetzt war er als Beamter bei der Oldenburger Kripo einem neuen Dienstherrn unterstellt und dieser sorgte dafür, dass Robert alle Hände voll zu tun bekam, denn auch in seiner ehemaligen und zugleich neuen Dienststelle herrschte akuter Personalnotstand. Er genoss diese Arbeit, auch wenn er sich in letzter Zeit mehr auf die administrativen Dinge konzentrieren musste, als auf sein eigentliches Element - die Ermittlungsarbeit.

Vor etlichen Jahren begann seine Beamtenlaufbahn hier bei der Oldenburger Polizei, doch irgendwann hielt er den eintönigen Alltag nicht mehr aus. Es zog ihn vielmehr in die Großstädte, denn er wollte beruflich etwas erreichen. Etwas, das ihm damals in dieser verschlafenen Stadt, in der scheinbar jeder jeden kannte, nicht möglich erschien, und von dem er selbst nicht mal genau wusste, was es eigentlich war. Doch als er wenig später in der Großstadt Berlin, die erst kurz zuvor wieder vereint worden war, als ganz gewöhnlicher Streifenpolizist seinen Dienst antrat, zerplatzte sehr schnell seine Vorstellung von einer gerechteren Welt. Auch in den Großstädten wurde nur mit Wasser gekocht und es gab, wie überall, gute und auch schlechte Bullen. Vor allem aber ging es dort wesentlich härter zur Sache, und zwar auf beiden Seiten des Gesetzes. Es herrschte ein ungeheurer Druck, dem jeder Polizist tagtäglich ausgesetzt war.

Robert stammte ursprünglich hier aus dieser Gegend. Jetzt war er nach über zwei Jahrzehnten wieder in die ihm vertraute Landschaft seiner Kindheit und Jugendzeit zurückgekehrt. »Back to the roots«, wie er es nannte. Eigentlich wollte er durch seine Rückversetzung nach Oldenburg nur eines erreichen: lieber Fahrraddieben das Handwerk legen, als weiter brutale und kaltblütige Gewaltverbrechen aufklären zu müssen. Irgendwann war das Maß einfach voll gewesen. Mit Raub, Erpressung, Mord und Totschlag wollte er nichts mehr zu tun haben, denn die meisten seiner Dienstjahre hatte er als Ermittler und Profiler in den härtesten Revieren des Landes zugebracht.

Er war jetzt Mitte fünfzig und das jahrzehntelange Stadtleben hatte aus ihm mehr und mehr einen Einzelgänger gemacht.

Sein einst durchtrainierter Körper war in den vergangenen Jahren etwas aus dem Leim gegangen, aber er hielt ihn dennoch einigermaßen fit. Das funktionierte auch ohne großen Muckibudenzauber oder Polizeisportgruppenstumpfsinn. Er fuhr, so oft es ging, mit dem Fahrrad und fand sich selbst nach wie vor annehmbar. Im Laufe der letzten Jahre war die Bundweite seiner Jeans zwar ein paar Nummern größer geworden, aber auf seine seelische Verfassung hatte dieser Umstand keinerlei Auswirkungen.

Eine andere Begleiterscheinung des unvermeidlichen Alterns löste er auch auf seine eigene Art. Um dem langsam, aber unaufhaltsam fortschreitenden Haarausfall zuvorzukommen, entschloss er sich kurzerhand, der immer dünner werdenden, zuletzt ganz spärlichen, langen Haartracht ein Ende zu bereiten. Robert rasierte sich den Schädel glatt und damit war für ihn dieses Kapitel abgeschlossen. Anfangs erschien ihm der radikale Kahlschlag zwar noch gewöhnungsbedürftig, aber schon nach einigen Wochen hatte sich das gelegt. Jetzt war er sogar froh darüber, weil er sich so das morgendliche Betrachten seines Antlitzes im Badezimmerspiegel ersparen konnte. „Was vorbei ist, ist nun mal vorbei. Also was soll´s?“, sagte er zu sich selbst, als er seine abgeschnittenen langen Haare auf den Fliesen des Badezimmers zusammenkehrte und in einen Abfalleimer warf. Um sich vor zu starker Sonneneinstrahlung zu schützen, trug er stattdessen neuerdings einen ziemlich zerbeulten, aus naturfarbigem Bast geflochtenen Sommerhut. Nicht so ein albernes Model, das stets den Eindruck erweckt, als würde jemand versuchen, seine stark ausgewölbte Neandertalerstirn zu verbergen, sondern einen ähnlichen Hut, wie ihn manchmal auch Neil Young trägt. Diese momentan aus der Mode gekommene Kopfbedeckung gehörte schnell zu seinem neuen Markenzeichen, genau wie die graumelierten 8-Tage-Bart-Stoppeln, die wie eine Feile kratzen konnten.

Robert empfand sich selbst als eine Art Rhythm & Blues-Veteran; und wäre er damals nicht bei den Bullen gelandet, hätte aus ihm vielleicht sogar ein anständiger Gitarrist werden können. Er besaß noch immer seine alte Flying V. Ein wahres Prachtexemplar des legendären Gitarrenbauers Gibson, das einst auch schon Jimi Hendrix gern mal malträtierte oder gar auf seinen Bühnenshows in Kleinholz verwandelt hatte. Leider stand die Gibson schon lange nur noch in einer Zimmerecke herum. Und es war auch schon lange her, dass sie mit dem Hughes & Kettner-Verstärker eine elektrisch-knisternde erotische Verbindung eingegangen ist. Roberts Finger waren nicht mehr so flink wie früher, vor allem aber fehlte es ihm an der notwendigen Zeit und Ruhe fürs Spielen. Darum standen beide Gegenstände mehr zu Dekorationszwecken in seiner Wohnung, was er sehr bedauerte. Aber allein schon die Anwesenheit des Instruments und des Gitarrenverstärkers erzeugte in ihm ein angenehmes Gefühl von Geborgenheit.

Warum er jetzt hier auf dem hölzernen Anglersteg stand, konnte er sich eigentlich selbst nicht ganz erklären. Schuld daran waren die Zeitschriften des Lesezirkels im Wartezimmer seines Zahnarztes. Dort stand nämlich in einem dieser dämlichen Ratgeber zum Thema Work-Life-Balance, dass das Forellenfangen ein ganz probates Mittel wäre, um ein aus den Fugen geratenes inneres Gleichgewicht wieder in den richtigen Einklang zu bringen. Er hatte sich tatsächlich von diesem esoterischen Blödsinn zu einem Selbstversuch verleiten lassen. Und wer weiß, vielleicht stimmt es ja. An irgendetwas muss man doch glauben. Die zweite Empfehlung des Käseblatts, der Besuch eines riesengroßen und vollbesetzten Fußballstadions, wäre sowieso nichts für ihn gewesen. Massentauglichkeit war nicht gerade seine Stärke. Also blieb nur das Angeln.

An solch regnerischen und schwülen Tagen, wie an diesem, würden die Forellen besonders gut beißen. So behauptete es zumindest der Teichwart, als sich Robert heute die Tageskarte kaufte. Erst vor wenigen Tagen hätte ein Petrijünger ein sieben Kilo schweres Prachtexemplar aus diesem See gezogen. Robert konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Bei regnerischem Wetter? Das war ja nun in dieser Gegend ganz bestimmt keine Seltenheit und wäre sicher für den Seepächter ein grandioses Minusgeschäft. Der Mann schien sich nicht so gut mit den hiesigen Wetterverhältnissen auszukennen, dafür umso mehr mit Anglerlatein.

Um den besten Angelplatz am See ausfindig zu machen, verließ sich Robert lieber auf seine eigene analytische Fähigkeit und gab deshalb auf die Ratschläge des Teichwarts nicht sehr viel. Robert wusste ganz genau: 95 Prozent der Fische stehen auf nur 5 Prozent der Fläche eines Sees. So ähnlich verhielt es sich auch in der Kriminologie. Man musste nur ein sicheres Gespür dafür entwickeln, wo sich genau diese 5 Prozent der Fische aufhielten, dann könnte man auch mit etwas Glück und Verstand den Größten von ihnen ködern und an Land ziehen.

Kaum hatte er seine Angelschnur das erste Mal ausgeworfen, spürte er auch schon, wie die Schnur von der Rolle raste. Dann ein kurzer Anschlag, Drill, und schon hing sein erster Fang fest am Haken. Die Forelle blickte ihn mit erschrockenen Augen an, als er sie vom Spinner befreite. So leicht hatte er es sich nicht vorgestellt. Es war fast schon eine Enttäuschung. Ab sofort müsste also seine Work-Life-Balance wieder im richtigen Lot sein. So ein Scheiß aber auch. Robert grinste in sich hinein. Etwas, an das es sich wirklich noch zu glauben lohnte, würde er wahrscheinlich in seinem Leben nicht mehr finden können. Und wenn doch, dann vielleicht nur in der Natur. Er liebte das Licht und die Leute hier oben im Norden, das Rauschen des Schilfs am Seeufer und den modrigen Geruch, der gerade mit einem ganz seichten Luftzug vom Moor herüber wehte. Der feinstaubige Regen machte ihm nichts aus. Im Gegenteil, er vermisste ihn schon lange Zeit sogar körperlich. Die feuchte und schwüle Hitze des heutigen Tages empfand er dagegen als ziemlich unangenehm. Es war genau diese Klimakonstellation, die am Ende eines solchen Sommertages zu einem Unwetter führen würde. Vermutlich spürten das sogar die Fische im See.

Gerade hatte er die Rute zum zweiten Mal ausgeworfen, als er plötzlich die Vibrationen seines Mobiltelefons spürte, das in einer der vielen Seitentaschen seiner Anglerweste verstaut war. Er tastete nach dem Handy, konnte es aber nicht so einfach herausziehen, weil es sich unter einer Naht verklemmt hatte. Nervös versuchte er es noch einmal, da er wusste, dass es spätestens nach dem dritten Vibrationsintervall lautstark und schrill zu dröhnen anfing. Ein beseelter Petrijünger warf ihm bereits vom Nachbarsteg aus einen wütenden Blick zu. Aber es war bereits zu spät. Das Ding begann zu dröhnen und der unangenehme Ton verbreitete sich über die glatte Wasseroberfläche wie ein nervtötender Schall. Endlich hielt Robert das Mobiltelefon zwischen seinen Fingern. Er warf einen prüfenden Blick auf das Display. Der Name seines Chefs wurde angezeigt. Robert drückte eilig auf die Verbindungstaste.

„Moin Chef. Woher wissen Sie eigentlich, dass ich hier bin?“, witzelte er los.

„Wo sind Sie denn? Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo Sie sich aufhalten.“

Das war mal wieder typisch für seinen Chef. Er hatte Roberts kleinen Scherz nicht verstanden.

„Sie werden es nicht glauben, aber ich sitze im Augenblick auf einem Anglersteg mitten im Ammerland und habe vor wenigen Minuten meine Abendmahlzeit aus dem Wasser gezogen.“

Die Stimme seines Chefs klang etwas gehetzt, er benutzte wieder mal diesen dienstlichen Beamtenton: „Herr Rieken. Ich weiß, dass heute Sonntag ist und ich weiß auch, dass Sie an diesem Wochenende keinen Bereitschaftsdienst haben. Aber hören Sie trotzdem gut zu. Sie werden umgehend etwas ganz anderes aus dem Wasser ziehen. Vergessen Sie also Ihr Abendessen und fahren Sie so schnell wie möglich zum Dangaster Hafen. Ich habe vor etwa zehn Minuten einen Anruf von der Küstenwache erhalten. Einer der einheimischen Fischer hat da einen ganz merkwürdigen Fang gemacht. Da wartet ein toter Mann auf Sie. Wo, sagten Sie, stecken Sie im Augenblick?“

Robert war nicht gerade begeistert von der Aussicht, seinen dienstfreien Sonntag mit einer Wasserleiche zu teilen: „An einem Anglersee in der Nähe von Westerstede.“

„Gut. Wenn Sie also die A 29 nehmen, könnten Sie es sogar in einer halben Stunde schaffen. Es tut mir leid, Sie in Ihrer Freizeit belästigt zu haben, aber ich kann selbst nicht weg. Sie wissen ja, einer muss hier im Büro die Stellung halten. Also verlieren Sie keine Zeit und fahren Sie los!“ Er räusperte sich kurz. – „Ach, übrigens, der Mann, der die Leiche herausgefischt hat, heißt Enno Fedder. Er wird im Hafen auf Sie warten.“

Robert antwortete nicht gleich, sondern wartete einige Sekunden darauf, ob sein Chef noch etwas von ihm verlangen würde. Dann hörte er wieder dessen gehetzte Stimme: „Rieken, sind Sie noch dran?“

“Ja, Chef. - Sagen Sie, warum schicken Sie nicht Kriminalmeister Onken zum Hafen? Ich kann mir gut vorstellen, dass er in seiner bisher noch nicht sehr erfahrungsreichen Polizistenlaufbahn kaum Erlebnisse mit einer Wasserleiche hatte. Ich finde, diese Bildungslücke könnte er gleich heute schließen. Das wäre doch jetzt eine passende Gelegenheit …“

Doch Kriminaldirektor Heribert de Boer fuhr Robert ins Wort: „Geht nicht. Weil ich ihn telefonisch nicht erreichen kann.“

Robert bereute in diesem Moment, den Anruf seines Chefs überhaupt entgegengenommen zu haben. „Ist sonst noch was?“, fragte er ziemlich genervt.

„Nein, nein, nichts weiter. Ich wollte Ihnen nur noch sagen, dass Sie die Angelegenheit schon schaukeln werden, Rieken. Machen Sie mir Meldung, wenn Sie herausgefunden haben, was an der Sache dran ist.“ Dann legte er auf.

Robert entnahm aus dem Kescher die gefangene Forelle und schenkte ihr die Freiheit zurück. Dieser Fang war für seinen Geschmack ohnehin etwas zu schnell und viel zu leicht an den Haken gegangen. Ja, es kam ihm jetzt sogar so vor, als hätte der Fisch auf Bestellung angebissen, als wäre er darauf trainiert, so kompromisslos wie möglich seinen Lebensfunken auszuhauchen. Was für ein merkwürdiger Gedanke. Robert schüttelte den Kopf, packte den Anglerkram zusammen und ging zurück zu seinem Wagen. Hinter ihm schimpften einige Angler am Seeufer, denen wahrscheinlich gerade die eigene Work-Life-Balance aus dem Gleichgewicht geraten war.


Tödlicher Nordwestwind

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