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Kapitel 6

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Um diese Uhrzeit waren in der 5. Etage der Polizeiinspektion nur noch wenige Beamte anzutreffen. Das Gebäude leerte sich täglich kurz nach 18 Uhr mit einer fast mechanisch, exakt einhergehenden Pünktlichkeit. Diese war übrigens auch in der Fußgängerzone zu beobachten, wenn dort die Geschäfte um diese Zeit dichtmachten und sich die Straßen innerhalb einer Viertelstunde nahezu schlagartig leerten. Robert fiel ein Satz ein, den er manchmal von einem seiner früheren Dresdener Kollegen gehört hatte: ‚Privat geht vor Katastrophe‘.

Sein Privatleben war ihm in diesem Augenblick ziemlich gleichgültig, denn nur hier in diesem schäbigen Büro konnte er ungestört nachdenken und versuchen, konzentriert zu arbeiten. Durch seinen Kopf jagten zahlreiche Fakten und Details, die Lin durch ihre Arbeit ans Tageslicht befördert hatte. Als er heute am Nachmittag sein Büro verließ, war dieser tote Mann lediglich eine ganz gewöhnliche Wasserleiche. Nun aber war aus ihm plötzlich das Opfer eines Verbrechens geworden, mit großer Wahrscheinlichkeit sogar das eines Mordfalls, der aufgeklärt werden musste.

Robert räumte eine der Pinnwände leer, an der lauter Kurzinformationen und Fotos von gestohlenen Gegenständen aus Wohnungseinbrüchen der jüngsten Zeit angeheftet waren. Er verstaute den ganzen Kram in einen Karton und schob ihn in eine Ecke des Büros. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass die stadtbekannten Einbrecher und Kleinkriminellen, die Dealer und Fahrraddiebe einige Zeit vor seinem wachsamen Auge Ruhe haben würden. Sein Vorteil war, sie wussten nichts von ihrem Glück. Dann öffnete er die Akte mit den Untersuchungsergebnissen der Rechtsmedizinerin, suchte nach dem Foto, welches das Gesicht des Toten zeigte und heftete es genau in die Mitte der Pinnwand. Er betrachtete die entstellten Gesichtszüge der Leiche ausführlich. Der Mann sah aus, als würde er schlafen, wären da nicht die hässlichen roten Flecken auf seiner Stirn. Robert war sich nicht sicher, ob er diesen Mann zuvor schon irgendwo einmal gesehen hatte. Der einzige markante Anhaltspunkt waren seine rotblonden Haare. Und dann war ja noch dieses Tattoo. Das war aber auch schon alles, was an ihm auffällig war. Vielleicht sollte er mithilfe dieser Merkmale einen Datenabgleich in der Vermisstendatei des Bundeskriminalamts vornehmen; ein Job, den er gern seinem jungen Kollegen anvertraut hätte. Aber Jan war jetzt nicht im Büro.

Robert startete seinen PC und wartete ab, bis das Programm vollständig aufgebaut war. Die Vermisstendatei erfasste täglich bis zu 300 Neuzugänge. Insgesamt waren es über 6.000 Personen. Es war immer wieder erstaunlich, wie viele Menschen täglich verschwanden. Der Versuch wäre also zwangsläufig sowas wie die berühmte Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. Das stand schon jetzt fest. Als er die Datenbank öffnete und die ersten Einträge der verschwundenen Männer in der Altersgruppe zwischen 20 und 35 Jahren zu überprüfen begann, klingelte plötzlich sein Telefon. Er nahm ab und hörte Lins Stimme am anderen Ende.

„Entschuldige bitte Robert, wenn ich jetzt noch störe. Aber ich wusste rein intuitiv, dass du noch im Büro sein würdest.“

„Du störst nicht, im Gegenteil. Ich versuche gerade, die Informationen in meinem Kopf zu ordnen. Es wird wohl heute Nacht noch ein ziemlich kompliziertes Puzzlespiel.“

„Hör mal. Mir ist da noch was eingefallen, Robert. Es ist wahrscheinlich nichts von Bedeutung, aber es könnte vielleicht doch wichtig sein.“

„Schieß los“, sagte er und lehnte sich entspannt im Schreibtischsessel zurück.

„Es geht um die Klärung der Identität des Toten. Die Armbanduhr könnte dir vermutlich einen entscheidenden Hinweis liefern. Sieh dir mal das Ding etwas genauer an. Hast du sie?“

„Ja, sie liegt hier vor mir auf dem Schreibtisch.“

„Mir ist eingefallen, dass echte Uhren des Herstellers Jaeger LeCoultre alle eine Seriennummer besitzen. Es ist so eine Art Produkt-ID. Kannst du eine Zahlenkombination entdecken?

Er drehte und wendete die Armbanduhr zwischen seinen Fingern hin und her: „Nein, kann ich nicht. Wo soll diese Nummer eingraviert sein?“

„Für gewöhnlich auf der Rückseite, am unteren Rand in der Mitte. Das gesamte Gehäuse lässt sich irgendwie drehen.“

Er sah auf die Uhr und stand auf, um sie direkt unter den Lichtkegel der Schreibtischlampe zu halten. Plötzlich entdeckte er einen winzigen Schutzmechanismus und das Gehäuse sprang federleicht aus seiner Halterung: „Du hattest recht. Ich habe den Mechanismus gefunden. Das Uhrwerk lässt sich drehen. Aber da ist nur so eine kitschige Strass-Verzierung auf der Rückseite eingearbeitet.“

Mehr konnte er auch nicht im Lichtschein der Lampe erkennen. Aber im nächsten Augenblick stockte ihm eine Sekunde lang der Atem: „Moment mal“, sagte er hastig und klemmte sich den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter fest. Nun konnte er mit beiden Händen den Gegenstand genauer untersuchen.

„Was ist? Hast du die ID entdeckt?“, hörte er Lins Stimme.

„Nein, die Nummer nicht, aber du hast mir doch heute die Fotografie mit dem Tattoo gezeigt. Ich glaube, die Verzierung und das Tattoo“, er zögerte kurz, bevor er weitersprechen konnte, „sind vom Motiv her beide sehr ähnlich. Warte bitte mal einen Augenblick.“

Robert legte den Telefonhörer auf den Schreibtisch, aktivierte die Freisprechtaste und begann eilig die Akte des Untersuchungsberichts zu durchwühlen. Wenig später hielt er das gesuchte Foto in der Hand: „Volltreffer, Lin! Volltreffer! Die beiden Motive sind tatsächlich absolut identisch.“

„Du hast eben von einer kitschigen Strass-Verzierung gesprochen. Sehr merkwürdig.“ Lins Stimme begann leicht zu vibrieren.

„Ja, da sind unglaublich viele und ganz winzige Glitzerdinger eingearbeitet. Solchen Tinnef habe ich jedenfalls auf einem Uhrengehäuse noch nie gesehen.“

„Mit der Bezeichnung Tinnef wäre ich an deiner Stelle zunächst etwas vorsichtig. Wenn das echte Diamantsplitter sind, hältst du gerade ein kleines Vermögen in der Hand. - Versuche es doch morgen einfach mal bei einer Vertretung dieser Firma. Soviel ich weiß, gibt es in Bremen einen von Jaeger LeCoultre autorisierten Vertragshändler.“

„Woher weißt du das alles, Lin? Und seit wann interessierst du dich für solchen Luxuskram? Manchmal muss ich mich wirklich über dich wundern.“

„Ich bin eine Frau. Schon vergessen? Und Frauen lieben nun mal Luxuskram. Obendrein habe ich bereits im Internet recherchiert, Herr Kommissar. Ist das etwa verboten? Außerdem steht es noch gar nicht fest, ob es sich um eine echte Reverso oder doch nur um ein billiges Imitat handelt.“

Bevor er antworten konnte, sagte sie: „Du, hör mal. Du solltest jetzt nach Hause gehen. Mach einfach für heute Schluss. Kriminalpolizisten, die rund um die Uhr im Einsatz sind und obendrein noch in ihrem Büro schlafen, gibt’s doch nur in diesen albernen Tatort-Krimis.“

„Besten Dank für den netten Hinweis, Lin. Ohne deine Mithilfe hätte ich mir vermutlich tatsächlich hier die ganze Nacht um die Ohren geschlagen.“

„Besuche lieber deine Mutter und schaue nach, ob da alles in Ordnung ist. Und vergiss die Kekse nicht! Gute Nacht. Ich leg jetzt auf.“

Aus dem Lautsprecher der Telefonanlage hörte er nur noch ein atmosphärisches Rauschen, dann legte auch er den Hörer auf und sagte leise zu sich selbst: „Gute Nacht, Lin. Gute Nacht. Die wünsche ich dir auch.“

Die Straßen draußen wurden ruhiger und schimmerten im Laternenlicht, weil es ganz sanft angefangen hatte zu regnen. Als er wenig später von der schwachbeleuchteten Nebenstraße aus hinauf zum Wohnungsfenster seiner Mutter sah, jagten noch immer die Ereignisse des Tages durch sein Hirn. Es fiel ihm verdammt schwer, sich davon freizumachen. Robert hielt nur die kleine Aluminiumdose in seiner Hand, als er das Hausflurlicht anschaltete und die Treppe hinaufstieg.


Tödlicher Nordwestwind

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