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7. Kapitel

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Echt steil, der alte Kasten da hinten. Ashburton Hall heißt er und sieht aus wie eine eckige Hochzeitstorte, weiß wie frisch geschlagene Sahne, die in der Sonne glänzt. Es ist eine mehrstöckige Torte mit Säulen, Girlanden und Zierrändern zwischen jeder Etage und einer Fahne auf dem flachen Dach. Das Dach hat eine Art Balkonbrüstung. Von da oben kann man bestimmt bis zum Meer sehen, obwohl das ein paar Kilometer weg ist.

Sich vorzustellen, dass das alles Mom hätte gehören können! Obwohl, dann wäre Mom irgendwie nicht ihre Mom geworden, oder sie, Jennifer, wäre eine ganz andere oder wie eine Schwester, die sie nie hatte, oder – Jennifer hält empört die Luft an – sie wäre überhaupt nicht auf der Welt!

Auch blöd, wenn man sich’s recht überlegt, selbst wenn das Leben, wie gerade jetzt, etwas langweilig ist. Mrs. Molloway hält Jennifer bei der Anfahrt über eine ewig lange Schlängelstrecke durch dichten Wald und hügelige Weiden einen Vortrag über das Haus, das immer wieder zwischen Büschen und Waldungen durchblitzt. Verschiedene Lords und Ladys haben an dem Kasten seit dem elften Jahrhundert gebaut, zwischendrin sind sie aber immer unvorsichtig mit ihren Kaminfeuern und Kerzen gewesen, und ständig ist das Haus abgebrannt.

Dann mussten sie es neu aufbauen, in anderem Stil und ohne Holz, dafür mit Steinen, und drinnen hängen lauter olle Schinken in Öl von berühmten Malern.

»Winston Churchill und Charles Dickens waren hier häufig zu Gast. In der Bibliothek stehen handsignierte Erstausgaben ihrer Werke und einige Manuskriptseiten aus Kiplings Dschungelbuch, außerdem ein Exemplar von Samuel Johnsons berühmten Wörterbuch der englischen Sprache. Es stammt aus dem 17. Jahrhundert und war das erste Lexikon der Welt. Interessant, nicht wahr?«

Mäßig interessant, findet Jennifer.

Wörterbücher haben sie zu Hause auch, Dutzende, sicher mehr als Lord Fitzwips, wie sie den Hausherrn insgeheim nennt. Außerdem sind Papas Wörterbücher alle ganz neu. Das Ding vom Lord muss doch völlig veraltet sein.

Mrs. Molloway fährt begeistert fort: »Bibliotheken aus aller Welt beneiden Lord Ashburton um diese Schätze, immer wieder fragen Wissenschaftler an, ob sie in den Archiven forschen dürfen. Außerdem ist das alles natürlich ein Vermögen wert, deswegen lässt der Lord auch keinen herein. Es wurden schon einige wertvolle Kunstschätze aus Ashburton gestohlen! Darunter ein Gainsborough. To think of it! Nur gut, dass der Lord versichert ist. Sehr hoch versichert.«

Merkwürdigerweise findet Mrs. Molloway das plötzlich komisch. Sie kichert. Was für eine vertatterte Quasselstrippe. Gibt es ein englisches Wort für: chatterbox. Sehr passend. Jennifer schweigt eisern.

»Lady Ashburton würde die Handschriften und Gemälde am liebsten einfach verkaufen, denn der Unterhalt des Hauses verschlingt Unsummen. Aber solche Schätze verkauft man natürlich nicht. Das wäre ein Verbrechen. Und ein so hässliches! Aber, well, Lady Ashburton is greedy

Greedy? Ach ja, gierig. Hm. Jennifer schaltet ab. Die gierige Lady interessiert sie nicht, aber wer hätte gedacht, dass Mrs. Molloway all die Dichter und deren Bücher kennt. Winston Churchill etwa, nie gehört, was der wohl geschrieben hat? Auch egal, jedenfalls scheint er schon lange tot zu sein, und das mögen die Briten bekanntlich besonders.

Sie nehmen eine letzte Kurve im Wald, hinaus auf eine Lichtung geht es. Vor ihnen breitet sich eine sanfte Wiesenlandschaft aus, die jemand mit der Nagelschere manikürt haben muss. Auf Hügelkuppen stehen kleine Tempel und Statuen, dazwischen erheben sich muntere Baumgruppen. Sie sehen aus, als tanzten sie Ringelreihen.

»Wir sind gleich da«, verkündet Mrs. Molloway, »gerade passieren wir nur das Lustschloss. Hübsch, aber winzig, ein einziger Raum. Die Lords of Ashburton verbrachten darin traditionell ihre Hochzeitsnächte. Lady Madeleine hat es abgelehnt, weil sie es zu bescheiden fand. Ein Jammer. Aber wer weiß, demnächst wird es vielleicht wieder gebraucht ... Nun, das große Haus ist da vorne.«

Das seh ich selbst, denkt Jennifer missmutig, sagt es aber nicht. Ihr Missmut gilt der kunterbunten Zelt- und Budenstadt, die auf dem kiesbestreuten Platz vor dem großen Tortenhaus aufgebaut ist. In der Mitte dreht sich das angekündigte Karussell – Kinderquatsch. Zwischen den Buden und Zelten wimmelt es vor Leuten. Mrs. Molloway kurbelt ihre Autofenster herunter. Blechblasmusik weht in Fetzen zu ihnen herüber.

»Oh, how traditional«, jubelt sie und singt mit: »Rule Britannia!«

Wie peinlich, findet Jennifer und möchte im Sitz versinken. Mrs. Molloway, die Erbarmungslose, lenkt sie mitten hinein in die Blasmusik. Nein, jetzt geht es nach links. Auf einen provisorischen Parkplatz, der mit Weidedraht auf einem Wiesenstück abgezäunt ist.

Mrs. Molloway begrüßt mit freundlichem Nicken einen breitschultrigen Oldie in abgewetztem blauen Blazer mit Wappen und karierter Tweedhose. Dazu trägt er grüne Gummistiefel! Diese Engländer. Er wedelt grimmig mit einer Ticketrolle aus Papier. Der Gute will zwei Pfund Parkgebühr. Und dann noch fünf Pfund Eintritt pro Nase für den albernen Budenzauber.

»So ein Gauner«, murmelt Jennifer.

»Falsch, das ist kein Gauner. Im Gegenteil«, zischt Mrs. Molloway und kramt in einem winzigen Geldbeutel nach Pfundnoten. »Das ist Lord Ashburton. Und er braucht jeden Penny, um das Haus in Schuss zu halten, ohne Gemälde oder andere Schätze zu verkaufen. Das Haus ist es wert, es ist das letzte seiner Art in dieser Gegend. Wenn der Lord es aufgeben müsste, würde damit eine ganze Welt verschwinden. Das kann man nicht zulassen.«

Lord Ashburton? Jennifer fingert am Türöffner herum, ist mit einem Satz draußen und beäugt übers Wagendach den adligen Parkplatz-Halunken. Nee, der wird auch bei näherem Hinsehen nicht viel schöner. Allein die Nase. Ziemlich prominente Nase für so ein schmales Gesicht, vielleicht ist er mit Prinz Charlie verwandt, fehlen nur die abstehenden Ohren. Jetzt wendet der Lord ihr das Gesicht voll zu.

Okay, die Augen haben was. Augen so dunkel wie Brombeeren, die richtig funkeln können und riesengroß sind, wenn er sie aufreißt. So wie jetzt. Der Mund sieht allerdings ein bisschen dämlich aus, weil er den gleich mit aufklappt.

Scheint so, als müsse der Gute nicht nur nach Wechselgeld, sondern auch nach Worten kramen. Dabei hat er doch so wertvolle Wörterbücher, sollte er mal drin nachschlagen.

Trotzig schweigt Jennifer zurück, obwohl ihr unter dem unergründlichen Brombeerblick ein wenig mulmig wird. Brombeeren haben gemeine Stacheln – der Fitzwips-Typ da auch?

Mrs. Molloway, die sich aus dem Wagen herausschält, kommt ihnen zu Hilfe.

»May I introduce you to Jennifer, my dear?«

Aha, die alte Dame will sie dem Lord vorstellen, so viel versteht Jennifer. Und den nächsten Satz versteht sie auch, obwohl Mrs. Molloway dafür die Stimme senkt.

»Jennifer is Sophie’s daughter. Very disturbing, isn’t it? Of course, there is a great likeness. The same features, these fine green eyes, you must remember them ...«

Wie bitte, sie soll ihrer Mutter ähnlich sehen? Jennifer ist empört und würde gern protestieren.

Der Lord verzieht wie unter Schmerzen den Mund und grummelt nur. »I don’t want to remember.«

Er will sich nicht erinnern? An wen? Mom? Der Lord lässt sie einfach stehen. Sogar Mrs. Molloways Wechselgeld nimmt er mit, hastet über den Parkplatz zu einem anderen Auto. Seinem Auto, wie es scheint. Er reißt die Tür des Range Rovers auf, springt – erstaunlich behände – hinein und startet. Rasenstücke fliegen hoch, weil er beim Abfahren so viel Gas gibt.

»The poor meadow«, bemitleidet Mrs. Molloway die Wiese. Typisch!

»Was hat seine Lordschaft Merkwürden denn für’n Problem?«, will Jennifer wissen. Sie ist um Mrs. Molloways Wagen herumgelaufen und starrt dem verschwindenden Rover hinterher.

Mrs. Molloway wendet sich ihr mit einem sehr wissenden Lächeln zu. Alte Katze.

»Ich nehme an, er findet die Ähnlichkeit zwischen dir und deiner Mutter etwas, ähem, irritierend, oder soll ich sagen, aufregend?« Sie kichert albern. »Ich wusste es. Oh, what fun!«

Von wegen Spaß! »Pffff. Meine Mutter sieht um Jahre älter aus als ich.«

»You silly girl!«, erwidert Mrs. Molloway kopfschüttelnd und zerrt Jennifer über den provisorischen Parkplatz in Richtung Budenstadt. »Your mother was not that much older, when he fell in love with her.«

Moment, was heißt hier Mutter und nicht viel älter? Mom war einundzwanzig, glatte sechs Jahre älter als Jennifer, als sie in Liebe mit ihm gefallen ist. Alberner Ausdruck.

Das mit der Liebe ist doch echt übertrieben. Jennifer würde sich den Kerl jedenfalls genauer anschauen, mit dem sie in Liebe fällt. Zunächst schaut sie sich in der Budenstadt um. Wie schrecklich. Nur Greise und Zwerge, die meisten können nur an Krückstöcken laufen oder haben Pampers aus der Hose hängen, während sie an Eierlaufwettbewerben und ähnlichem Schwachsinn teilnehmen.

Die Blechkapelle bläst ihnen dazu den Marsch. »Land of hope and glory«. Lauter Doppelgängerinnen von Mrs. Molloway versichern sich gegenseitig, dass »lovely weather« herrscht, dabei liegt deutlich der Geruch von Herbst in der Luft, und sogar die Bäume frösteln.

Eine kühle Brise wölbt das Teezelt, in das Mrs. Molloway entschwindet, nicht ohne Jennifer vorher viel Spaß zu wünschen und ihr zwei Pfund in die Hand zu drücken.

»Hier, my dear, dafür kannst du am marrow-and-cu-cumber-shooting hinter dem Haus teilnehmen. Ich nehme lieber die prämierten Apfeltorten in Augenschein. Im letzten Jahr hat die Pfarrersfrau den ersten Preis bekommen. Ein Skandal, wo doch jeder weiß, dass sie sie bei Tesco gekauft hatte, noch dazu aus der Tiefkühltruhe. Ich habe es schließlich selbst gesehen. Eine eiskalte Intrige, die Prämierung, nur um den Pfarrer bei Laune zu halten, der uns mit seinen Strafpredigten jeden Sonntag verdirbt. So ein mürrischer Knochen! Hat nichts als Sünden im Kopf. Noch dazu fremderleuts Sünden. Dabei kennt er die nicht mal.«

Jennifer will sie unterbrechen, um zu erfahren, was – um Himmels Willen – marrow- und cucumber-shooting zu bedeuten hat, aber Mrs. Molloway ist bereits eingetaucht in eine Schar aus teetassenklappernden Damen, die sich die Lästermäuler anfeuchten. Nur weg hier.

Unschlüssig schaut sie sich um. Hinter ihr dreht sich das Karussell zu den Klängen einer keuchenden Jahrmarktsorgel. Elefanten, Pferde, Kutschen und jede Menge kreischende Gören machen die Runde. Entsetz... Wow!

Neben einer Kutsche, den Ausmaßen nach eine Königskutsche, steht ein Kerl, der kein Kind mehr ist. Und kein Greis, sondern höchstens so alt wie sie, vielleicht sogar richtige Sechzehn? Wie ein König sieht er nicht gerade aus, sondern spannend, so mit den dunklen Rastalocken und der angemessen verschmuddelten Combathose und dem engen, ärmellosen Army-Shirt, aus dem zwei muskulöse braune Arme Vorschauen.

Möchte man glatt mal einen genaueren Blick drauf werfen, auch wenn es peinlich ist, mit fünfzehn Jahren noch für den Karussellwärter zu schwärmen.

Das macht man mit zehn, elf Jahren und wird rot beim Ticketkauf und nimmt noch ‘ne Runde »Spinning Space Cups«, obwohl einem bereits todschlecht davon ist, nur um so einem den Fahrtchip in die Hand zu drücken und zu hoffen, dass er einen anschaut, den harten Lebenskampf vergisst und wegschmilzt vor Begeisterung für so viel liebreizende Unschuld, die todesmutig in der wirbelnden Weltraumtasse Platz genommen hat.

Jennifer arbeitet sich näher an das Karussell heran. Kennt man den Kerl vielleicht aus dem Pub im Hafen? Nö, so einer wäre einem kaum entgangen. Jennifer wartet ungeduldig die nächste Runde ab.

Erst kommt der Elefant mit einer kleinen Brillenschlange drauf, dann zwei Esel mit rotgebrüllten Gören, dann die Kutsche und – nö, neben der Kutsche steht keiner mehr. Was fällt dem ein! Einfach die Arbeit im Stich zu lassen. Jennifer rennt zweimal um das Karussell herum. Nichts.

»Are you looking for someone?«, will eine besorgte ältere Dame wissen und schaut sie an, als handele es sich bei Jennifer um ein Kleinkind, das in der Damenoberbekleidungsabteilung eines Kaufhauses seiner Mutter abhanden gekommen ist.

»No, eh, yes, doch, also.« Schrecklich, mit völlig Fremden plötzlich Englisch sprechen zu müssen, noch dazu mit Briten. Die ertappen einen doch bei jedem Fehler.

»Where is the young men behind the elephant standing?«, fragt Jennifer. Wie dämlich das klingen muss: Wo ist der junge Mann, hinter dem Elefanten stehend. Aber was soll man machen, wenn einem das Wort für Kutsche nicht einfällt. Kutschen gehören in Märchen, und so was liest Jenny längst nicht mehr, schon gar nicht auf Englisch.

Die ältere Dame gehört zu der höflichen Sorte Briten und korrigiert Jennifers Sprachfehler nicht, sondern antwortet: »Oh, that young man. I guess, he is now into the marrow- and cucumber-shooting. So much fun for young people! It takes place behind the house.«

Schon wieder diese Sache mit der Marrow-und-Cucumber-Schießerei. Cucumber, da ist Jennifer sich sicher, ist irgendein Gemüse. Genau! Salatgurke, jetzt hat sie es. Aber was soll ein Wettbewerb im Gurkenschießen sein? Und will man jemanden kennen lernen, der daran teilnimmt?

Die Engländer haben eine Reihe ausgefallener Hobbys und servieren klebrige Limonadecocktails gern mit einer Scheibe Salatgurke, aber damit in der Gegend rumballern? Nee, da muss sie was missverstanden haben.

Zögernd verlässt sie die Budenstadt. Der Kies knirscht unter ihren Füßen. Langsam, fast ein wenig ehrfürchtig nähert sie sich der Freitreppe zum Haus. Oben steht eine gigantische Doppeltür zur Hälfte offen, darin hängt allerdings eine rote Kordel: »Not open to the public today«. Für die Öffentlichkeit heute nicht geöffnet. Dämlicher Lord, die Öffentlichkeit soll sich also mit vollkommen überteuerten Karussells begnügen. Pah.

Neben der Kordel sitzt auf einem nicht sehr herrschaftlichen Campingstuhl eine weitere alte Dame mit Strickzeug vom Typ Drache, die wahrscheinlich unwillkommene Eindringlinge verscheuchen soll.

Schade. Das Haus wäre schon interessant. Von innen.

Jennifer stapft unschlüssig die Treppe hinauf. Sie könnte dem Drachen einfach sagen, sie gehöre zur Familie sozusagen. Ahnen aus Deutschland. Könnte doch sein. Die ganze britische Königssippe hat schließlich auch Ur-Tanten und Schwipp-Onkel in Hannover.

Jennifer erreicht die letzte Stufe und fixiert den Strick-Drachen mit entschlossenem Blick. Umsonst. Der Drache schnarcht nämlich, und das Strickzeug ist nur Tarnung. Nicht eben Furcht einflößend. Kann man einfach dran vorbeischleichen und unter der Kordel durchtauchen. Geschafft.

Drinnen fröstelt es sie. Kein Wunder, eine so hohe Empfangshalle, gefliest in schwarz-weißem marmornen Würfelmuster, bleibt selbst im Sommer grabeskalt. Und erst recht, wenn der Herbstwind hineinbläst, was er jetzt tut.

Jennifer legt den Kopf in den Nacken. Die Halle hat die Höhe des gesamten Hauses. Zwei Stockwerke. An den Wänden zieht sich eine Treppengalerie entlang. Wow, die haben hier mindestens ..., nee, keine Ahnung, zu wie vielen Zimmern die Treppen führen. Ob sie mal nachzählt?

Vorsichtig schleicht sie sich zu einem der beiden Treppenaufgänge an der Stirnseite der Halle. Die Treppen werden von leeren Ritterrüstungen bewacht und sind mit noch mehr roten Kordelbändern abgesperrt. »Strictly private – No visitors«, steht auf Papptafeln, die von den Kordeln herabbaumeln.

Privat, na und? Sie ist ja zu einem Privatbesuch hier. Touristisch würde sie das Ganze wohl kaum interessieren. Schlösser, pah, das ist ja was für Omis oder ihre Mutter, aber wo der das Haus beinahe gehört hätte, muss man doch mal ...

Oben schlägt eine Tür zu. Jennifer macht einen Satz zur Seite. Fehler. Auf der Seite steht – besser stand – nämlich ein Tisch. So eine funktionsfreie Dekorationsnummer auf drei dürren Beinen mit viel zu schwerer Blumenvase voller Dahlien darauf. Mannshohes Ding. Beeindruckend, mit wie viel Krach so eine Vase zerscheppert, wenn sie ins Trudeln und zu Fall kommt. Jennifers Turnschuhe saugen sich voll Wasser.

»Who’s there?«, will eine hohle Stimme von oben wissen.

Jennifer will lieber nicht wissen, wem die Stimme gehört, und läuft los. An der Treppe vorbei, auf eine weitere Flügeltür zu, die nach hinten, tiefer ins Haus, führt. Könnte ja sein, dass vorne am Eingang der Drache erwacht ist.

Hastig drückt sie die Klinke herab, witscht durch die Tür und stolpert mit quietschenden Gummisohlen über poliertes Parkett. Aus den Augenwinkeln heraus erkennt sie dunkelrote Samttapeten, schwere braune Stühle und eine Menge Goldrahmen. Aus den Goldrahmen schauen finstere Gesellen auf sie herab. Alle haben Brombeeraugen. Mit Stacheln. So wie der Lord. Kriegt man die Krise von.

Sie schießt durch den Saal, gerät in den nächsten, der in Grün und noch mehr Gold gehalten ist und einen gigantischen ovalen Tisch beherbergt. Wahrscheinlich das Esszimmer. Die Tafel ist gedeckt. Mit so viel Porzellan, dass einem schwindelig davon wird und man Ohrsensausen bekommt.

Alles hier ist sicher noch viel privater, als die Treppen es waren. Das Herz ist ihr plötzlich in den Hals geraten und klopft da munter vor sich hin. Dann bleibt es zwei, drei Sekunden stehen. So ein Schock aber auch.

Beim Blick in einen trüben Spiegel erscheint Jennifer doch tatsächlich Mrs. Molloways Gesicht. Hinter einem Samtvorhang, sie hält eine Art Topf aus Porzellan in der Hand. Kann doch nicht. In Jennifers Rücken wird wieder die Stimme laut. Jennifer umrundet den Tisch in großem Bogen, stoppt vor einem weiteren Dekotisch mit Glaskaraffen ab und entdeckt mehrere Fenstertüren, die auf eine Terrasse hinausführen.

Dem Himmel sei Dank, denn hinter ihr arbeitet sich die hohle Stimme vor, die ein sehr weibliches, sehr wütendes Timbre angenommen hat. Irgendwie klirrend und schneidend scharf, als seien Vasenscherben hineingeraten. Jennifer hat lediglich zwei Pfund dabei, die dürften kaum reichen, um den Schaden gutzumachen, und mit einer Tube Uhu ist sicher nicht geholfen.

Sie reißt eine der Glastüren auf, springt auf eine gepflasterte Terrasse, rast bis zu einer Brüstung und will darübersetzen, als sie mit einem Blick nach unten erkennt, dass das keine brillante Idee ist.

Zwischen der Brüstung und dem Rasen liegen mehr als fünf Meter, das Haus hat Hanglage, ganz weit unten am Ende des Parks glitzert tatsächlich das Meer. Sie schaut nach rechts, kein Ausweg, dann nach links und entdeckt – das darf doch nicht wahr sein! – einen flammfarbenen Kürbis, der mit mehr als Ortsgeschwindigkeit direkt auf sie zurast. Jetzt weiß sie wieder, was marrow heißt, natürlich.

»Interessant. Die schießen wirklich mit Herbstgemüse«, ist der letzte Satz, der ihr durch den Kopf geht.

Mein englischer Liebhaber

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