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6. Kapitel

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Im Sturmschritt durchquert Sophie den Garten. Der olle Apfel-Birnbaum hat Löcher im Stamm und sieht aus, als grinse er hämisch. Was fällt dem ein! Sophie gibt ihm einen Tritt. Plopp, fällt eine Birne direkt vom Stamm und kollert ihr vor die Füße. Ganz gelb ist die – ein Hölderlin-Gedicht fällt ihr ein.

»Mit wilden Rosen hänget und voll mit gelben Birnen das Land in den See, ihr holden Schwäne und trunken von Küssen ...«

Oh nein, ist das lächerlich! Lyrik sollte man nur zu Hause heimlich still und leise zitieren oder in Leonharts Uni-Seminaren, der kriegt jede falsche Romantik klein. Fast sehnt sie sich nach seinem ernsten, schweigsamen Gesicht. Was? Wäre ja noch schöner. Ohne diesen Kerl hätte sie sich nie auf diesen Blödsinn hier eingelassen. Was fällt dem ein, sie so im Stich und sich selbst zu überlassen! Jetzt muss sie sich an ihrem Geburtstag von ihm trennen, um einen anderen zu heiraten. In einer Woche also. Selbst schuld!

Wer ist schuld?, will die innere Sophie wissen.

Sie bückt sich nach der Birne, sieht lecker aus, wäre schade drum.

»Spielst du Aschenbrödel auf der Suche nach den drei Zaubernüssen oder den Besuch der alten Hexe bei Schneewittchen? Dafür brauchtest du allerdings einen vergifteten Apfel, oder?«, fragt eine heitere Stimme vom Zaun her.

Sophie wirbelt herum. »DU?«

Sie fragt das tatsächlich in Großbuchstaben. So erstaunt ist sie. DU ist nämlich kein anderer als Leonhart. Ihr Mann. Ausgerechnet. Und dabei sieht er so aus, als sei er hier richtig zu Hause. Die labbrige Wolljacke hat er an, die Sophie in den letzten Wochen mehrfach in die Mülltonne entsorgt hatte, um sie dann doch wieder und wieder auf ihrer heiligen cremeweißen Lesecouch zu finden. Ekelhaft wie der ganze Mann eben.

Wenn sie die Jacke nur sieht, steigt ihr deren Geruch in die Nase. Ein Hauch von Tabac Original – Leonhart ist so etwas von einfallslos in seinem Geschmack! Dass sie das mal gemocht haben soll. Und sogar freiwillig mit ins Bett genommen haben soll, zum Kuscheln. Also, die Jacke. Ihr Herz krampft sich ein wenig zusammen. Im letzten Jahr, als Leonhart in Amerika war.

Ihr Mann lehnt sich von außen gegen den wackligen Gartenzaun. Dabei grinst er richtig frech und sagt – natürlich – nichts weiter.

Reden ist mal wieder ihre Aufgabe. Kennt man ja. »Was machst du hier?«

»Wie wäre es zunächst einmal mit einer anständigen Begrüßung so unter Eheleuten? Etwa einem ›Guten Tag, Leonhart, schön dich endlich wieder zu sehen‹? Oder wenigstens einem einfachen ›Hallo, Geliebter, schönes Wetter heute, wollen wir nackt baden gehen und den Mond vom Himmel holen?‹ Vielleicht mit einem Anflug von Lächeln untermalt?«

Sophie stutzt. Hat der Quasselwasser getrunken, Drogen genommen, einen Ziegelstein auf den Kopf bekommen? Da hilft nur unerbittliche Strenge.

»Keine Ausweichmanöver, Leonhart. Ich will wissen, wie du hierher kommst!«

»Gewöhnlich mit der Linie 32 über Wingen-Zentrum, Wingen-Kupferberg, Wingen-Rosenholz, fährt alle 35 Minuten, sonn- und feiertags jede Stunde oder, um genau zu sein, alle 55 Minuten. Dort hinten befindet sich die Bushaltestelle.«

Leonhart deutet mit dem rechten Daumen hinter sich. Der Daumen, nein, die ganze Hand und der dazugehörige Arm sind braun gebrannt. Er muss viel in der Sonne gelegen haben ... wie unverschämt!

Dieser Faulpelz, dieser Filou! Macht einfach Ferien. Was sagt man dazu. Statt – wie in Sophies genüsslichen Rachefantasien – in einem heruntergekommenen Stadthotel zu sitzen, um im abgedunkelten Zimmer, möglichst hinter nikotingelben Gardinen und eingeklemmt zwischen Waschbecken und einem Bett mit Schmuddeldecke, zu hadern und zu trauern und seine Fehler zu bereuen! Sophie verschlägt der Ärger die Sprache.

Leonhart redet weiter wie ein Wasserfall: »Der Bus fährt übrigens auch an der Universität vorbei. So hat man mir gesagt, ich war allerdings lange nicht mehr da. Manchmal nehme ich natürlich das Auto in die Stadt mit. Noch schöner war es natürlich, als du mich immer mitgenommen hast. Du hast mich entschieden zu sehr verwöhnt ...«

So geht das nicht. Leonhart lässt ihr überhaupt keinen Raum für Widerworte und verwirrt sie mit Busfahrplänen. Schluss damit, sonst platzt man ja. »Ich habe niemanden verwöhnt! Noch nie in meinem ganzen Leben. Ich würde nicht im Traum daran denken, irgendwen zu verwöhnen, dich nicht, mich nicht ... überhaupt ...«

Wie bitte? Der Mann bringt einen völlig durcheinander mit seinem plötzlichen Redeanfall.

Leonhart grinst noch lauter. »Interessante Bemerkung, Sophie. Sehr interessant. Es scheint, dass du dich und deine Welt in den letzten Tagen aus einem ganz neuen Blickwinkel betrachtet hast. Ich kenne wirklich niemanden, der einen besser verwöhnen kann als du! Und das mit einer Effizienz, die einem die Sprache verschlägt. Ehrlich.«

Treuherziger Augenaufschlag.

Und sie hat Leonhart keine schmutzigen Tricks zugetraut! Das hier ist ja wohl der Gipfel. Kommt einfach längs – ob er sie heimlich verfolgt hat? – und schmiert ihr aus dem Nichts klebrigen Honig ums Maul. Oder meint er es ganz anders? Misstrauisch kneift sie die Augen zusammen. Man kennt sich einfach nicht aus mit einem Leonhart, der das Blaue vom Himmel herunterschwätzt.

Energisch tritt sie auf den Zaun zu, fängt Leonharts Blick ein, hält ihn fest.

»Leonhart, damit ist ab sofort Schluss! Hörst du? Unser bisheriges Leben ist vorbei!«

»Schön! Ich will nämlich nicht mehr verwöhnt werden. Ich will ab sofort nur noch dich verwöhnen. Nach Strich und Faden. Du hast es nötig.«

Das ist unerträglich. Erst Zaras Mitleid und nun Leonharts Spott. »Ich habe von deinem Sarkasmus die Nase voll. Du bist hier nicht der Einzige, der einen scharfen Verstand hat, Herr Professor.«

Leonhart beginnt zu wippen. Die Spitzen zweier Zaunbretter fest umklammert, wippt er vor und zurück, vor und zurück, mit dem ganzen Oberkörper und immer gegen den Holzzaun gelehnt, der ächzt und quietscht. Und dazu summt Leonhart sich was.

»Living for you is easy living, tatatam, it’s easy to do, when you’re in love, and I’m so in love, there’s nothing in life but you, tatatatam ...«

Das stammt von Sophies Bryan-Ferry-CD, Lovesongs der Vierzigerjahre, von damals, als es noch Männer gab, die Sinn für Romantik hatten – oder zumindest so taten. Ausgerechnet. Sophies Lieblingssong, dabei hat Leonhart sonst nur die Augen verdreht und seinen Brahms aufgelegt oder Freejazz oder etwas anderes sehr Ernstes.

Leonhart singt mit kräftiger Stimme, nur nicht nach Noten. Leonhart hat nie gesungen. Der Noten wegen, die sind ihm gewöhnlich im Weg. Klingt grauslich. Klarer Fall von Trennungsschaden, völlig irre der Gute. Das hat sie nicht gewollt. Sie streckt die Hand über den Zaun und legt sie ganz sachte auf seinen rechten Arm. Wie nackt sich der anfühlt und sehnig und sonnenwarm. Leonhart wirft sich auf die Knie, breitet die Arme aus. Schmettert die nächste Strophe: »For you maybe I’m a fool, but it’s fun.«

Sophie wird ganz heiß. »Leonhart, komm zu dir. Was sollen denn die Leute von uns denken?«

Die Leute sind ein alter Herr in beigem Sommerblouson und Helmut-Schmidt-Kappe, der mit strenger Miene den Bürgersteig entlangtrottet. Eben passiert er Leonharts Rücken. Kopfschüttelnd blickt er auf den Knienden herab. Sophie schämt sich für ihren Mann.

Der Alte öffnet den Mund: »Pack. Unzivilisiertes Pack. Verbrecherbande. Wildwestmanieren. Ha! Sollte man alle an die Wand stellen und erschießen.« Was Besseres fällt Böckelkamp auf die Schnelle nicht ein. Er will ja nur wissen, was der Herr Professor sich gegen seinen Rat hat einfallen lassen, um Sophie davon zu überzeugen, dass er wild und spontan sein kann.

»So eine Frechheit«, poltert er weiter und überlegt fieberhaft, worüber er sich denn so aufregen könnte. »Unglaubliches Verhalten.«

Das hat ihr Leonhart nicht verdient, Sophie wirft sich ins Zeug.

»Erlauben Sie mal! Sie sprechen mit meinem Mann.«

Oho, ganz empört die Gute und verteidigt ihren Leonhart plötzlich wie eine Löwenmutter. Mission erfüllt, er sollte sich zurückziehen. Böckelkamp setzt zum Schlussmonolog an: »Ach, ist doch war! Ein Euro vierzig fürs Bier und sich ›Zum fröhlichen Wilddieb‹ nennen. Fröhlich. Für Einsvierzig kann man nicht fröhlich werden, da sind doch höchstens drei Gläser drin. Die harn se doch nicht alle. Früher waren’s noch zwei Mark und zwanzig. Hab nachgerechnet. Da geh ich nicht mehr hin, das sag ich denen. Bande! Sollte man alle an die Wand stellen! Eine Schießpistole habe ich! Schönen Tach auch, Herr Professor.«

Leonhart erhebt sich und nickt halb verärgert, halb amüsiert zum Alten herüber: »Schönen Tach. Wenn Sie Schützenhilfe brauchen, komm ich das nächste Mal mit. Den Wilddieb bringen wir locker zur Strecke. Ich nehm auch unsere Wasserpistole mit, Ihren Revolver lassen wir lieber zu Hause.«

»Nein, lassen Sie mal Herr Professor. Mit, äh, Vernunft kommt man denen nicht bei. Das is nichts für Sie. Schönen Tag noch. Hübsche Frau, die da! Ist das die, die Sie verlassen hat? Sehr dumm.«

Er wartet nicht auf eine Erwiderung, sondern dreht sich um, sehr eilig, als gälte es, einen Bus zu bekommen. »Verbrecher, alles Verbrecher. Sollte man an die Wand stellen.« Weg ist er.

Leonhart wippt schon wieder mit dem hüfthohen Bretterzaun. Ganz weit zurück, ganz weit nach vorne, so nah an ihr Gesicht heran, dass sie die Fältchen um seine blauen Augen zählen kann, und wieder ganz weit zurück, den Zaun nimmt er mit auf die Reise. Der Zaun quietscht, aber wenigstens schweigt Leonhart.

»Leonhart, was zum Teufel machst du hier?«

»Wippen.«

»Höchstens dich zum Narren! Musst du nicht deine Antrittsvorlesung verfassen? Wo wohnst du überhaupt? Woher kennst du diesen seltsamen Alten? Und hör endlich auf, mit dem Zaun zu wackeln.«

»Wie wäre es, wenn du ein bisschen mitwackelst? Ist irre lustig.« Er packt sie beim rechten Arm und zieht sie zu sich hin und nach hinten. Sophie wehrt sich, lehnt sich in Gegenrichtung, Leonhart nimmt Schwung und lässt sich nach vorne fallen, reißt Sophie ganz eng an sich.

Der Zaun verliert zuerst die Lust am Spiel und knickt langsam, aber stetig unter Sophies Beinen weg. Im Fallen krallt sie sich in Leonharts anderen Arm, beide landen übereinander auf dem Bürgersteig. Morsche Bretter drücken sich flach gegen Sophies Magen. Leonharts Kopf ist auf dem Pflaster aufgeschlagen. Widerlich dieses dumpfe Geräusch. Sein Grinsen ist wie weggewischt.

Das muss doch wehtun, denkt Sophie. Leonhart sagt nichts, starrt nur in den Himmel und hält sie sehr fest. Im Birnbaum zetert eine Amsel. Hässlich, hässlich, hässlich. Leonhart starrt nur.

Sophie spürt Panik in sich hochkriechen.

Madame Zaras Stimme schleicht sich in ihr Ohr und murmelt was von Unfällen und einem Leben in Trümmern. Bitte nicht so!

»Sag doch was. Leonhart! LEONHART!«

Sie will sich hochrappeln. Er hält sie fest. Tut er das wirklich? Oder gibt es so etwas wie eine plötzlich einsetzende Totenstarre? Irgendeinen mortalen Klammergriff oder so?

»LEONHART!«

Mein englischer Liebhaber

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