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1. Kapitel

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Sophie und Bea befinden sich auf Abwegen. Sie sind nicht auf dem Weg zur Arbeit in die Marketing-Agentur »Good sellers«, sondern unternehmen einen Ausflug, von dem beide nicht mehr wissen, wer ihn geplant hat. Der Vorschlag kam wahrscheinlich von Bea, dem verrückten Huhn, aber den Termin hat Sophie bestimmt und dafür gesorgt, dass Bea sie pünktlich abholt.

Sophie ist Beas Chefin und mag weder Unpünktlichkeit noch Unvorhergesehenes. In letzter Zeit haben sich leider eine Menge unvorhergesehener Dinge zugetragen. Dieser Ausflug gehört dazu, und als sie zum zweiten Mal verkehrt von der Autobahn abfahren, um in einem öden Gewerbegebiet voller Getreidecontainer, Getränkegroßhändler und Baumarkt-Zulieferer zu landen, steigert das Sophies Stimmung nicht.

»Worauf habe ich mich hier nur eingelassen«, denkt sie. »Ich bin nicht so eine Frau, wirklich nicht. Sie ist so eine Frau, aber nicht ich.« Sophie wirft ihrer Sekretärin – nein, Pardon, Assistentin – und Freundin Bea einen missmutigen Blick zu.

Eben rührt Bea in den Gängen ihres lungenkranken Renaults herum, drosselt das Tempo, lenkt nach links, entziffert angestrengt ein Straßenschild, zuckt die Schultern, fährt geradeaus, bremst, gibt Gas, bremst wieder, vergisst zu kuppeln. Das Auto bekommt Schluckauf. Bea steuert auf der falschen Fahrbahnseite die nächste Möglichkeit zum Linksabbiegen an. Huch, wieder falsch! Aber da, da ist der Weg, sie reißt das Lenkrad nach rechts. Der Wagen hüpft und röchelt in der plötzlichen Kurve, hoppelt über eine Bordsteinkante, jault auf. Sophie tut es ihm nach.

»Ooops, Pardon«, murmelt Bea, »die Kante habe ich glatt übersehen«.

»Muss einer von den grauen Zwergen gewesen sein, die dir immer die Bürgersteige unter die Reifen schieben. Mein Gott, du würdest dich sogar im Legoland verfahren.«

Bea wundert sich. »Der Bürgersteig war doch das letzte Mal noch nicht da, oder?«

Sophie schweigt vielsagend. Wie soll sie das wissen? Das letzte Mal war sie ganz woanders. Sicher zu Hause in ihrem gut durchorganisierten Leben. Oben auf dem Professorenhügel. Überhaupt ist sie noch nie in diesem Stadtteil gewesen, obwohl Wingen am Ott keine Weltstadt von labyrinthischem Ausmaß ist.

Wingen hat gerade mal 15000 Einwohner. Die leben großzügig verteilt am Flüsschen Ott und zwischen künstlich aufgeschütteten Hügeln. Wingen ist ein ehemaliges Bergarbeiterstädtchen. Braunkohletagebau. Auf dem höchsten Hügel von Wingen lebten und thronten im 19. Jahrhundert die Zechenbesitzer in eher putzigen als protzigen Villen mit Türmchen und Zinnen und Erkern und Zuckerbäckergesims.

Im ehemaligen Pförtnerhaus solch einer Villa wohnt jetzt Sophie, und der Hügel heißt Professorenhügel, weil fast der gesamte Lehrkörper aus der nahen Universitätsstadt dort lebt. Der Professorenhügel ist vornehm, jedenfalls kurz davor. Genau wie ihr Mann nach vielen schlecht bezahlten Forscherjahren kurz davor ist, einen Lehrstuhl für Sprachphilosophie zu bekommen. C4, lebenslänglich, ein »spectabile« mit »summa cum laude« und Pensionsanspruch.

Es war Sophies Idee gewesen, schon vorher auf den Hügel zu ziehen und Kontakte zu knüpfen in akademischer Höhenluft. Und jetzt? Jetzt ist sie auf dem Weg nach unten und kennt sich nicht mehr aus. Vom Professorenhügel verirrt man sich selten in das abseits gelegene Viertel am Fluss.

Es handelt sich um eine Zechenarbeitersiedlung, bucklige Häuschen, grau in grau, drängen sich aneinander wie alte Weiblein, die etwas miteinander zu betuscheln haben. Bergarbeiter gibt es hier keine mehr. Inzwischen, so weiß Sophie, wohnt ziemlich gemischtes Publikum in den unverputzten Häusern. Studenten, Tagträumer, Eigenbrötler, Tauge- und Habenichtse, werdende oder gescheiterte Künstler. Jedenfalls Leute, die sich nicht an durchlöcherten Dächern, pfeifenden Wasserleitungen, klappernden Fenstern und dem ständig drohenden Abbruch stören.

Sophie erschrickt und schüttelt leise den Kopf. Was sie sich so zusammendenkt! Sie kennt die Leute doch überhaupt nicht, und früher hätte sie so eine zusammengewürfelte Gesellschaft sehr lustig gefunden. Schließlich war sie selber einmal bekennendes Mitglied der Tagträumer-Gemeinde, aber das ist lange her. Ihre schlechte Laune muss am Ausflugsziel liegen. Und an den Geschehnissen der letzten Woche.

Eine Scheidung droht man nicht alle Tage an. Schon gar nicht kurz vor dem eigenen Geburtstag und nur darum, weil der Ehemann einen dazu mit einer Vorlesung über Grammatik überraschen will. Nur darum? Na ja ...

Soll sie wirklich das Handtuch werfen? Nach sechzehn ziemlich unfallfreien Ehejahren und just in dem Moment, in dem die Karriere des Ehemannes üppige Früchte trägt und man sich selber ausruhen soll vom anstrengenden Leben als berufstätige Mutter und vielleicht wieder studieren und sich um sich selber und die Lebensfreude kümmern kann?

Bloß dumm, wenn man dabei bemerkt, dass man gar nicht weiß, wer man selber so ist. Nach sechzehn Ehejahren voller Bügelwäsche, Bürosorgen, Steuererklärungen, gehetzten Frühstücken, Schulzeugnissen, Ehezwisten, Organisationsakrobatik und mit der vagen Chance vor sich, plötzlich einen Karrieresprung zu machen.

Ins Ausland, ohne Mann und (fast) ohne Kind nach ..., sie schluckt. Sie kann nicht einmal an den Namen des Landes denken, ohne die Kontrolle über ihre Gefühle zu verlieren. Wie lächerlich. Es handelt sich doch nur um ... um einen Job, rettet sie sich.

Wirklich? Ruhe, verdammt, sie hat diese ständigen Hintergedanken so satt!

»Ist nicht mehr weit«, kräht Bea, »den Baum da vorne erkenne ich wieder. Der alte Apfelbaum, ganz klar.«

»An den Ästen hängen Birnen, du Traumsuse«, verbessert Sophie.

Ihre Stimme ist spröde wie ein altes Laubblatt, stellt sie fest, glättet ihre Miene und schaut der Ablenkung halber aus dem offenen Fenster. Draußen herrscht noch nicht welker Herbst, sondern strahlender September. Letzte Sommersonnenstrahlen aalen sich in der Landschaft. Langsam schieben sich Häuschen am Autofenster vorbei, so als würden sie von einem Kulissenschieber ins Bild gerückt, besser geruckelt. Bea bremst sich noch immer durch die Landschaft.

Einige der Vorgärtchen nehmen sich hübsch aus im Herbstsonnenglanz. Das mit der Stockrosen-Parade etwa oder das mit den Hortensien, die einen kapitulierenden Holzzaun nach hinten knicken lassen. Durchs offene Autofenster strömt letztes Hummelbrummen und herber Hagebuttengeruch. Sophie atmet ihn voller Genuss ein. Es liegt ein Gefühl von Zeitlosigkeit in der Luft.

Nach forever young fühlt sich das an. Sophie schiebt sich in ihrem Sitz hoch. Es fühlt sich an wie damals in England, schießt, nein, prickelt es ihr durch den Kopf.

England – sie wollte doch nicht mehr daran denken. Jedenfalls nicht so. Die lyrische Tonart liegt ihr nicht. Übertriebene Sehnsüchte standen in den letzten Jahren ganz unten auf ihrer Liste. Aber, verdammt, sie muss darüber nachdenken. Nicht über die Sehnsüchte, sondern über England, und zwar ganz nüchtern. Vielleicht hat sie dann die Chance, dass man ihr die touristische Marketing-Analyse über britische Herrenhäuser auf dem deutschen Reisemarkt anvertraut. Sie hat für die Geschäftsleitung schon ein Exposee verfasst, in dem sie Reiseziele vorgestellt hat.

Der Job wäre mit England-Aufenthalten verbunden. Was missfällt ihr daran plötzlich? Das Land der sturen Linksfahrer, Tunnelgegner und Eurofeinde war mal ihre zweite Heimat. Sie kennt sich aus mit Great Britain. Vor fünf Jahren hatte sie richtig gelegen, als sie den deutschen Dependancen des britischen Kaufhauskonzerns »Marks & Spencer« kaum Überlebenschancen prophezeit hatte. Und so dafür gesorgt hatte, dass die Kaufhausleute sich eine andere Agentur für die Marktanalyse suchten, um ihre Chancen abtesten zu lassen.

Natürlich hat die Briten-Offensive trotzdem nicht funktioniert, schon wegen BSE, Zutaten wie Nierentalg im Pudding und dem starken Pfund, das selbst Toastbrot hier zu Lande lächerlich teuer machte. Inzwischen hat sich der Konzern wieder auf die Insel zurückgezogen. Mit Riesenverlusten.

Sophie hat also im Nachhinein Recht behalten, und darum hat die Leitung ihrer Agentur sie mit dem Exposee über britische Herrenhäuser beauftragt.

Bei »Good sellers« werden in den nächsten Tagen eine britische Delegation und Vertreter der Hamburger Geschäftsleitung erwartet. Zufrieden lehnt Sophie sich im Sitz zurück. Arbeit erfrischt. Wieder mischt sich Hummelgebrumm und Sommergefühl in ihre Gedanken.

Sei ehrlich. Dich lockt nicht nur die Arbeit nach England.

Sophie schluckt. Sie ist zuletzt vor achtzehn Jahren auf der Insel gewesen und war damals mit ganz anderen Dingen als Marketing befasst. Ihrem Studium der englischen Literatur etwa und – so fügt sie in Gedanken hastig hinzu – mit zwei, drei anderen Dingen, die niemanden mehr interessieren.

Nicht einmal dich selber?

Sophie bemerkt, dass sich in ihren Achselhöhlen taufeiner Schweiß sammelt. Sie ist normalerweise keine Frau, die schwitzt. Muss an der hereinströmenden Hitze liegen, dass ihr so heiß ist. Sie fingert nach der Fensterkurbel, will die Scheibe hochdrehen. Zu spät, tückische Erinnerungen haben sich – versteckt im Hagebuttenduft – zu ihr vorgearbeitet und wecken Gefühle, die man besser nicht hat.

Jener Sommer in England ... Sie hält den Atem an, aber den Gedanken kann sie nicht zurückhalten: Jener Sommer in England war so sorglos und mit einem Hauch von Ewigkeit behaftet. Unter anderem, nein, vor allem der Liebe wegen. Der Liebe zu – sie holt panisch Atem – Fitzwilliam of Ashburton. Sophie kreuzt schützend die Arme vor dem Oberkörper, als befürchte sie einen Fausthieb in die Magengrube. Er bleibt aus.

Interessant, es haut sie nicht einfach um. Sie kann an ihn denken, ohne wie ein Vampir beim ersten Strahl der Morgensonne zu verglühen und zu Staub zu zerfallen. Fitzwilliam, der Mann mit den melancholischen Augen, dem immer spöttischen Lächeln und der Adlernase, dieser verrückte Draufgänger, der für sie mal einen Elefant entführt hat – und dann selbst wie einer auf ihrem Herzen herumgetrampelt ist.

Sie ruft sich zur Ordnung und kurbelt das Fenster nach oben. Schluss mit Hummeln, Hagebutten und Elefanten-Kidnappern: Ich befinde mich nicht im Mittelpunkt eines Märchens, ich fahre nur durch Wingen am Ott. Um Sophies Mundwinkel zuckt es sarkastisch.

Zu einer Wahrsagerin! Die soll prophezeien, ob sie sich scheiden lassen und den England-Job annehmen soll oder nicht. Dabei ist sie doch wirklich keine Frau, die an so etwas glaubt. Normalerweise. Bea, ihre Freundin und Fahrerin, war gestern bei ihrem monatlichen Kneipenabend anderer Ansicht: »Madame Zara ist eine Fachkraft. Und dein Aszendent ist Fisch, Sophie. Fische neigen zum Okkulten, glaub mir. Steht auf jedem Sternzeichen-Zuckerwürfel«, hatte sie gesagt und den Trip vorgeschlagen. In einer sehr schwachen Minute und nach drei Zombie-Cocktails hatte Sophie zugesagt und wundert sich beim Seitenblick auf Bea erneut.

Heute hat sie sich einen Schal aus grüner Seide um den Kopf geschlungen. Darunter lugen Kunsthaarzöpfchen hervor, an den Ohren trägt sie riesige, silberne Kreolen, und an ihren Armen klimpern indische Glitzerreifen.

Sie muss in der Girlie-Abteilung von H&M eingekauft haben. Da, wo sich Sophies Tochter Jennifer eindeckt. Aber die ist fast sechzehn und hat jedes Recht der Welt auf einen experimentellen Geschmack. Bea ist mehr als doppelt so alt, siebenunddreißig Jahre, nur ein Jahr jünger als Sophie. Und somit unpassend gekleidet. Aber typisch! Wahrscheinlich soll ihre Hippie-meets-Zigeuner-Maskerade zum Anlass des Ausflugs passen.

Bea hält beim Apfel-Birnbaum-Garten an, würgt den Wagen ab, zieht die Handbremse.

»Wir sind da! Du kannst deine Sonnenbrille abnehmen, hier erkennt dich garantiert niemand mehr, Frau Professor.«

»Das kann man nie wissen«, protestiert Sophie schwach, »und nenn mich nicht Frau Professor. Leonhart ist der Professor, ich hab nicht mal mein Examen in englischer Literatur gemacht.«

Bea rollt mit den Augen: »Nicht wieder diese Nummer! Als ob du die verhuschte Hausfrau wärest, die der Brutpflege wegen ihre Karriere geopfert hat! Blödsinn. Dein Leben ist so perfekt, dass mir schlecht davon wird.«

Sophie zieht die Sonnenbrille ab und streicht ihr Haar glatt. Sie trägt einen kinnlangen Bob, der sehr teuer und sorgfältig geschnitten ist, damit er nicht wie stundenlang frisiert wirkt. Schönheit darf nie angestrengt aussehen, schon gar nicht am Arbeitsplatz. Kritisch mustert sie ihre Fältchen rund um die Augen. Vielleicht sollte sie mal an einer Botox-Party teilnehmen?

Erst ein Sekt gegen den Bammel und dann eine Spritze muskellähmendes Nervengift gegen die Falten. Madonna macht so etwas, und Madonna ist sogar mit vierundvierzig noch eine begnadete Trendsetterin – deshalb lebt die inzwischen auch in Engl ...

Genug Geld hätte Sophie für ein bisschen Botulin, wenn sie den Job in ... nun ja, bekäme. Bis dahin müssen Gesichtsgymnastik und stumme Selbstsuggestion reichen.

»Ich bin entspannt, meine Stirn ist entspannt, mein Magen ist entspannt, ich liege allein an einem Strand, ich hin entspannt, hinter mir erheben sich die sanften Hügel von Devon. England, oh glückliches Eiland, du köstlicher Edelstein, gefasst in silbernem Meer ... halt!« Tief durchatmen und nur nicht daran denken. Devon. Verflucht noch mal, halt! Sie schiebt die Sonnenbrille zurück auf die Nase.

Als sie sich Bea wieder zuwendet, ist Sophies Gesicht so glatt wie ihr Haar und abweisend wie die stählerne Fassade eines Versicherungskonzerns. Ihre Stimme hat weiterhin Runzeln: »Ich trage diese Sonnenbrille nur, weil ich nicht will, dass jemand aus dem Büro uns bei diesem Ausflug erwischt. Eine nüchterne Marktforscherin und ihre durchgeknallte Assistentin auf derartigen Abwegen.«

»Jemand vom Büro? Pfff. Unser neuer Trendscout vielleicht? Dieser feuchte Pups im Brioni-Anzug – lachhaft.«

»Dieser feuchte Pups hat im Gegensatz zu mir ein Diplom in Betriebswirtschaft, ist mit dem Geschäftsführer verwandt und spitz auf den Englandauftrag. Ich kann mir keine Fehler leisten. Der Pups ist nämlich auch eine Petze, und du kannst nicht mal die Körbchengröße deines BHs geheim halten.«

Bea stöhnt, während sie den Rückspiegel herunterklappt, um ihr Make-up zu kontrollieren. »He, Sophie, machst du jetzt voll auf Karrierezicke? Komm auf den Teppich, du organisierst nur einen wechselnden Haufen Studenten und Hausfrauen, die in Fußgängerzonen oder am Telefon Leute dumm von der Seite anquatschen, um sie über Fruchtbonbons, Kloreiniger oder Soßenbinder auszuquetschen.«

Sophie ist entrüstet, etwas mehr macht sie schon, ent schieden mehr. Sie wertet die Ergebnisse aus und formuliert Marketing-Empfehlungen, die den Trends entsprechen. »Also wirklich, Bea!«

»Ist doch wahr. Ich dachte, du nimmst mit der Brille Rücksicht auf deinen Holden. Wenn seine künftigen, ehrwürdigen Kollegen dich hier sähen, wäre das echt peinlich. Wahrsagerei und Wissenschaft vertragen sich bei weitem schlechter als Marktforschung und Magie. Das ist doch dasselbe.«

Sophies Mund wird zum Strich. Wenn Bea die Arbeit endlich ein wenig ernster nehmen würde. Frauen wie sie sorgen dafür, dass man weibliche Führungskräfte nicht für voll nimmt. Nicht mal der feuchte Pups im Brioni-Anzug. Beas provokatives Schlampentum am Arbeitsplatz ist nicht eben hilfreich im Kampf um berufliche Anerkennung oder diesen Auftrag aus England. Ach, England! Stopp, Sentimentalitäten haben dabei nichts zu suchen.

»Im Gegensatz zu dir, Bea, betreibe ich Marktforschung nach strengen Regeln der Analyse. Sei froh, dass ich deine zusammengestoppelten Surveys, deine halbherzigen Telefonscreenings und deine zweistündigen Shoppingausflüge ...«

Bea rollt mit den Augen. Unerträglich dieses Denglish von wegen surveys und screenings.

»Ich kaufe nicht einfach ein, ich betreibe Marktbeobachtung nach Methoden der persönlichen Feldforschung«, platzt sie los. Sophie lacht kurz auf.

»Sei froh, dass ich dir das durchgehen lasse, Bea. Und noch etwas: Leonhart ist nicht mehr mein Holder, sondern ein emotional benachteiligter Torfkopf.«

Bea stößt einen kleinen Pfiff aus. »Ist das jetzt ganz sicher?«

»Ziemlich. Seit er ausgezogen ist, hat er sich nicht gemeldet. Womit er die Tradition unserer gesprächsfreien Ehe fortsetzt, der Herr Sprachphilosoph.«

Bea runzelt die Stirn. »Ich hab immer gedacht, ihr verständigt euch nach irgend so einem Kommunikationsmodell. Motto: ›Ich habe den Eindruck, dass du ein Trottel sein könntest, aber das ist natürlich nur meine subjektive Wahrnehmung, du Idiot‹.«

Sophie schnaubt verächtlich. »Du liest zu viele Ratgeber vom Grabbeltisch. Und die Zeiten, in denen ich es auf die verständnisvolle Tour versucht habe, sind endgültig vorbei.«

»Was genau hast du denn zuletzt so zu ihm gesagt?«

»Dass ich es satt habe, über die Hälfte des Geldes anzuschleppen, nebenher noch Kind, Haushalt und Beziehung zu managen, während er im Ausland Forschungsaufträge annimmt.«

»Aus Liebe zu dir, Frau Professor in spe!«

»Liebe – als ob er davon Ahnung hätte. Weißt du, was er geantwortet hat, als ich ihn auf eine einzigartige, milde Sommernacht hinwies? ›Physikalisch gesehen, Sophie, herrscht nur auf der Hälfte der Erde Nacht, die der Sonne abgewandt ist, Tag aber auf der ihr zugewandten Seite, woraus folgt, dass Tag und Nacht im Grunde gleichzeitig sind.‹«

»Wow«, macht Bea, »der Mann ist süß! Was der alles weiß!« Sie reißt bewundernd die Augen auf. Dummes Ding.

»Wissen kann auch verblöden, Bea. Das war mein letzter Versuch, romantisch zu werden. Kann man doch nicht mit einem Mann, der Sex als ›gegenseitigen Austausch von Körperflüssigkeiten‹ beschreibt.«

»Im Bett?«

»Nein, in einem Vortrag über ›Die Grammatik der Liebe‹, aber trotzdem! Dann schon lieber allein sein in Great Britain. Das heißt, fast allein, unsere Jennifer ist ja inzwischen auf dieser Schule in ... du weißt schon.« Sie schluckt. »Devon«. Na also, geht doch! »Soll Leonhart zusehen, wie er hier ohne Frau und Tochter klarkommt.«

Bea schüttelt den Kopf wie ein Wackeldackel auf der Auto-Hutablage. »Hast du Jennifer etwa mit Absicht vorgeschickt?«

Sophie beißt sich kurz auf die Lippen. »Nein, also na ja. Da kam eine Einladung meiner ehemaligen Gastmutter, Mrs. Molloway. Und Jennifer wollte immer schon mal weg von zu Hause und deshalb ...« Sie bricht den Satz ab. Hat sie Jennifer wirklich nur deshalb nach England gelassen? Die Einladung richtete sich nämlich auch an sie. Aber das geht wirklich niemanden was an.

Bea ist noch immer unzufrieden. »Dein Überdruss kommt ziemlich plötzlich, findest du nicht? Eine Ehe wie eure setzt man doch nicht einfach so aufs Spiel, also ehrlich. Das hat einer wie Leonhart nicht verdient. Kann er doch nichts dafür, dass du wieder den Mond anheulen und Geigen schluchzen hören willst.«

»Das will ich doch gar nicht!«

»Klang aber eben so.«

Man hört es ihr also schon an. Nur das nicht. Nachdenklich fährt sie fort, mehr im Gespräch mit sich selbst als mit Bea. »Ich war doch zuletzt nur ein Nebengeräusch in Leonharts Forscherleben. Deshalb habe ich ihn – zum Nachdenken – vor die Tür gesetzt.«

Bea legt Lippenstift auf, Mokkabraun mit Glittereffekt. Eine Produktprobe von »Prairie«, die sie bei einer Umfrage abgeschnappt hat. Klar, dafür liebt Bea ihren Job. Man bekommt Testmuster gratis. Sie lässt ihre Zunge über ihren frisch geschminkten Amorbogen gleiten, murmelt gleichzeitig zwischen halb geöffneten Lippen: »Ist es nicht eher so, dass Leonhart dein Nebengeräusch war? Du hast ihn oder eure Liebe bis dato nie groß erwähnt, immer nur über Jennifer oder den Job und neue Produktanalysen geredet oder über meine abwegigen Amouren gelästert.«

Als ob Bea sich je für ihre ereignisfreie Ehe interessiert hätte. »Ohne mich wäre unser ganzer Familienladen viel eher zusammengebrochen.«

Wäre das nicht besser gewesen? Nein, am Anfang hat der Laden ja viel Spaß gemacht. Es war die reine Erlösung nach ihrer englischen Tragödie. Und Jennifer war alle Kämpfe wert, alle Bemühungen, auch wenn sie in letzter Zeit nicht gerade Mamis kleiner Sonnenschein war, sondern ganz einfach fünfzehneinhalb und unerträglich launisch. Egal, hier geht es um etwas anderes.

»Leonhart fällt nicht mal jetzt ein, sich bei mir zu melden. Er ist spurlos verschwunden.«

Bea presst die frisch bemalten Lippen aufeinander, zupft am Seidenschal herum. Sie beherzigt das abgegriffene Frauenmagazin-Motto, dass man allzeit bereit sein muss, dem Mann des Lebens zu begegnen, und sei’s der Jogging-hosen-Träger beim Bäcker. Heute rechnet sie allerdings mit einer ganz anderen Begegnung. Der Mann, um den es sich handelt, wäre jede Anstrengung wert, wenn er nicht, ja, wenn er nicht ... vergeben wäre. Und wie vergeben. Bea seufzt sehr leise. Sie hat hier eine Mission zu erfüllen.

»Ach, Sophie, der Rauswurf ist erst eine Woche her. Gib deinem Mann Zeit, die braucht er momentan, um seine Antrittsvorlesung zu schreiben. Wie war noch das Thema?«

Sophie schnaubt verächtlich.

»Die Grammatik der Liebe im Zeitalter des Internet.« Die letzten Monate ist er fast in seinen Computer hineingekrochen. Wenn man drin wohnen könnte, hätte er es gemacht. Blöde Vorlesung. Er hat glatt behauptet, er wolle mich damit zu meinem Geburtstag überraschen. Mit Grammatik. Was sagt man dazu!«

Die Überraschung kannst du dir an den Hut stecken. Mir langt’s, ich habe genug von dir und unserer Ehe. Du bist so romantisch wie eine Rolle Toilettenpapier. Das hast du gesagt. Schwester Selbstvorwurf erinnert sich mal wieder so genau, dass Sophie flau davon wird. Leonhart hat sehr verletzt ausgeschaut.

Bea zuckt müde die Achseln. »Eine Grammatikvorlesung ist immerhin eine originellere Idee als rote Rosen. Mir hat noch keiner was geschrieben, außer »Denk an meine Rasierklingen« oder so. Mensch, ihr braucht euch doch.«

Sophie reckt kämpferisch das Kinn.

»So und wofür? Geld kann ich selber verdienen – demnächst sogar im Ausland –, unsere Tochter wird flügge, und ich weiß nicht einmal, wo Leonhart ist!«

Bea lächelt schelmisch, Sophie wird sich noch wundern. Weil sie, Bea, nämlich durchaus Geheimnisse für sich behalten kann, überraschende Geheimnisse – über Leonhart.

»Geschieht dir recht. Man wird schließlich nicht jeden Tag von seiner Ehefrau vor die Tür gesetzt. Und das ein paar Wochen, nachdem Leonhart von einem Amerika-Aufenthalt zurück ist. Ein halbes Jahr räumliche Trennung, und eine perfekte Ehe ist hinüber! Oder hat er drüben mit einer anderen rumgeschnackelt?«

»Leonhart? Quatsch. So kurzsichtig kann keine Frau sein.«

Bea zögert einen Moment, bevor sie antwortet. Elende Sophie, wie kurzsichtig sie selber ist. »Ich finde dein Verhalten reichlich tüdülü. Für jemanden, der sich so gern an strenge Regeln der Analyse hält. Thema Ende.«

Typisch Bea. Was bitte schön bedeutet tüdülü? Es handelt sich um eine ernsthafte Angelegenheit, so eine mögliche Scheidung. Bea beschäftigt sich jetzt mit der Fahrertür, rüttelt daran, zieht am Verriegelungsknopf, flucht.

»Mist, klemmt schon wieder. Die Schlösser! Wir sitzen fest, deine Tür tut es schon gar nicht.«

Mein englischer Liebhaber

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