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9. Kapitel
ОглавлениеGibt’s nicht. Man schlägt die Augen auf und liegt plötzlich in einem Himmelbett. Mit vier Pfosten, um die sich geschnitzte Drachen winden, einem goldroten Stoffhimmel darüber und mit brettsteifer Leinenwäsche darin.
Wow, voll steil irgendwie. Nee, nicht das Himmelbett, sondern die brombeerdunklen Augen, die sie von der Seite her unverwandt anschauen.
Sie schwimmen vor Melancholie. Reißt am Herzen, wenn man in so traurige Augen schaut. Traurig, aber nicht kurz vorm Heulen, was Jennifer ziemlich uncool fände. Nee, mehr so traurig, weil man das Schlimmste im Leben schon hinter sich hat oder das Leid der Welt auf seinen Schultern trägt und nichts daran ändern kann.
Ein Traurigsein, das in der Seele festsitzt wie Tintenflecke im Taschentuch. Geht nie mehr raus. Melancholie eben. Hatten sie schon mal im Englischunterricht. Hamlet und Co.
Der olle Shakespeare hatte da so eine Theorie, dass im Körper verschiedene Flüssigkeiten kreisen, vier Sorten, um genau zu sein, und die sind für die Grundstimmung im Leben verantwortlich.
Bei den Flüssigkeiten handelt es sich nicht um Alkoholika, sondern um Lebersaft oder Herzensblut oder Gallenflüssigkeit. Die zum Beispiel macht bitter oder zornig, und eine macht eben schwermütig, wenn zu viel davon in einem fließt – melancholisch eben. »The four humours of the body« heißt das Ganze. Und je nachdem, von welchem Humor man das meiste in den Adern hat, ist man drauf. Voll tragisch.
Der Typ neben ihrem Bett muss literweise Melancholie in sich gluckern haben. Es ist der Kerl vom Karussell, der mit den Rastalocken. Muss der eine traurige Geschichte haben!
Oder – wie aufregend – ist er traurig, weil sie hier liegt, mit einem Verband um den Schädel und einem Eispack darunter? Sieht sicher schwer nach Tragödie aus. Besonders für einen waschechten Melancholiker.
Der kann so einen erschreckenden Anblick bestimmt nicht ertragen und braucht ein Gegenmittel, dringend. Nur gut, dass man selber einen anderen Humor im Body hat. Ein Gemüt wie Sonnenschein, selbst wenn es am Himmel aus allen Eimern schüttet, hat ihr Vater immer behauptet.
Bis vor kurzem jedenfalls, bis angeblich ihre Pubertät dazwischenkam, zwischen Jenny und den Sonnenschein. Pah. Liegt nur an den Eltern, vor allem an Mom, die Jennifer neuerdings »stur wie einen Panzer und launisch wie einen Maulesel« findet. Unsinn.
Tief innen ist Jennifer weiterhin der reine Sonnenschein, strahlend jung und schön und herzensgut und schwer verletzt. Wie romantisch, das muss man ausnutzen. Jennifer knipst die Sonne an und lässt sie auf den Typ neben dem Bett herabstrahlen.
»Hello, I am Jennifer.«
Der Typ guckt nur. Dann fallen ihm die Rastalocken vor sein Gesicht wie ein Vorhang. Wahrscheinlich hat ihn die Sonne geblendet. Jennifer sucht nach einem Abglanz ihres Lächelns auf seinem düsteren, ein wenig olivfarbenen Gesicht. So wie ihn hat sie sich früher immer Robin Hood vorgestellt oder Shakespeares Romeo oder – he, was macht der Typ denn jetzt?
Er steht auf, hebt kurz die Hand, dann dreht er sich um und wiegt sich zur Tür. Nee, im Ernst, wiegen stimmt, er hat so einen weichen, rhythmischen Gang, als höre er Musik beim Gehen. Aber einfach so aufzustehen! Frechheit.
Mag er keine schönen, herzensguten jungen Mädchen, die lächeln? Jennifer stemmt sich in ihren Kissen nach oben und runzelt die Stirn.
»Hey!«, ruft sie dem Kerl hinterher. »Who are you?« Man will schließlich wissen, wer einen so schlecht behandelt.
Bevor der Rastajunge sich umdrehen kann, öffnet sich die Tür. Geschirr klappert, eine Stimme plappert. Jennifer lässt sich in die Kissen fallen und stöhnt.
Na prima, da ist sie wieder. Dann, wenn man sie nicht gebrauchen kann. Wie immer. Misses Chatterbox Molloway. Bei so viel guter Laune kann man selber nur melancholisch werden. Oder muffig wie der Rastamann.
»Hello, Nicholas«, chattert Mrs. Molloway, »how nice of you, to keep company with our little girl!«
Jennifer richtet sich wieder im Bett auf. Frechheit! Hat die alte Tante etwa gerade »little girl« gesagt? Kleines Mädchen? Was soll denn der arme Mensch jetzt von ihr denken? Dass sie eine unreife Göre ist, die nur noch blöde lächeln kann, weil sie einen Kürbis an den Kopf bekommen hat. Jennifer wird rot, sie merkt es genau. Fett peinlich, hoffentlich guckt er nicht hin. Nee, der ist schon zur Tür heraus.
Wahrscheinlich findet er sie megablöde. Ehrlich! Einen Kürbis an den Kopf zu bekommen muss selten bescheuert aussehen. Der zerplatzt sicher dabei und zerspritzt in der Gegend und saut einen ein. Schnell schaut sie an sich herab. Gott sei Dank, wenigstens sauber gemacht haben sie sie. Das Nachthemd mit dem Blümchenmuster ist allerdings öde, muss Mrs. Molloway ausgesucht haben.
Zurück zum Kürbis! Jennifer hat auf dem Schulhof seit Jahren »Völkerball« gemieden, weil man keine gute Figur abgibt und eine gorillareife Grimasse zieht, wenn einem ein Gymnastikball in den Bauch rast. Aber das ist nichts gegen einen Kürbis am Kopf. Sie muss wissen, ob dieser ... dieser Nicholas etwas davon gesehen hat.
»Here you are«, trumpft Mrs. Molloway auf und stellt ihr ein Tablett auf die Knie. »Cream tea and strawberry jam and very good news.«
Der Tee und die guten Nachrichten können warten.
»Wo bin ich hier, und wer ist dieser Nicholas?«
Mrs. Molloway nimmt eine Serviette mit gesticktem Wappen vom Tablett, schlägt sie auf und will sie Jennifer um den Hals binden.
»Ich brauch kein Lätzchen«, entfährt es ihrem Schützling. Mrs. Molloway schaut fragend. Ach so, man muss das Ganze ja in Englisch sagen. Aber was heißt – bitte schön – Lätzchen? Jennifer beschränkt sich auf ein: »No, thank you.« Dann will sie wissen, wer Nicholas ist.
Mrs. Molloway räuspert sich und schenkt Tee ein. Erst nachdem Jennifer drei Schluck getrunken und ein süßes Mürbebrötchen mit Sahne und Erdbeergelee gegessen hat, ist Mrs. Molloway bereit, über Nicholas zu sprechen.
Über den ehrenwerten – the honourable – Nicholas Arthur Fitzwilliam, einziger Sohn des elften Grafen von Ashburton. Wie das klingt! Nicht nach Rastalocken und Brombeeraugen, mehr nach Rosshaarperücke und Mottenkugeln. So riecht die Luft hier ein bisschen. Nicholas Arthur Fitzwilliam. Gibt coolere Namen, so viel ist klar.
Mrs. Molloway packt gerade wieder die Ahnentafel aus und berichtet von den Grafen sechs und acht, die ziemlich ruppige Kerle gewesen sein müssen und ihre Hunde, Pferde, Dienstboten und Ehefrauen verprügelten oder ihren Nachwuchs oder alle zusammen. Keine Ahnung, was das jetzt soll.
»They were really wild and rough, I am afraid.«
Wild und roh diese Grafen, so so. Düstere Geschichten, okay. Kann schon sein, dass man da als Nachfahre Nicholas ein bisschen trübsinnig wird. Geschlagene Hunde und Ehefrauen. Wäre ihr auch peinlich, wenn ihre Urgroßväter so was gemacht hätten, aber davon weiß sie nichts. Ihre Ur- und andere Großväter haben nur ein oder zwei Kriege veranstaltet, aber Hunde schlagen, also wirklich!
»But the marrow was an accident. Nicholas says, it just went off, and that he didn’t see you standing on the terrace. He hates shooting – normally. At least shooting at animals. Such a peaceful boy.«
Wie kommt die alte Dame von den wilden Ahnen auf Kürbisse und Tiere erschießen? Da muss man erst mal wieder die Übersetzermaschine anwerfen.
Nicholas hasst Schießen, sehr gut. Vor allem, wenn es um Tiere geht. Ehrt ihn. Und der Kürbis war nur ein Unfall, ist einfach so losgegangen, weil er Jennifer nicht hat auf der Terrasse stehen sehen. Moment mal!
Jennifer zieht die Knie ruckartig an. Mrs. Molloway rettet Tablett und Erdbeermarmelade im letzten Moment. »Nicholas hat auf mich geschossen? Äh. He shot at me! Mit einem Kürbis?«
Nicht absichtlich, versichert Mrs. Molloway. Überhaupt hasst er Waffen, sehr zum Missfallen seines Vaters, der ein so begeisterter Jäger ist wie alle seine Vorfahren. Außerdem braucht er Waffen, um das Haus zu verteidigen, in das in den letzten Jahren immer mal wieder eingebrochen worden ist. Was haben die beiden nicht schon für Streitigkeiten deshalb gehabt! Lord Fitzwilliam nennt seinen Sohn einen Schwächling, eine Memme. Dabei ist er nur friedliebend, sehr friedliebend, der Nicholas. Er ist auch sofort bei Jennifer gewesen, als sie – vom Kürbis niedergestreckt – rückwärts in den Palmenkübel gestürzt ist.
»In den Palmenkübel?«
Mrs. Molloway kichert geziert. »It must have looked very funny, my dear!« Sah also sehr funny aus, wie sie mit den Beinen in der Luft und einem Kürbis auf dem Kopf so im Blumenkübel lag. Aber – of course – es war nicht funny. Nicholas hat sich richtig erschrocken, weil Jennifer sich nicht rührte und so entstellt aussah, gar nicht mehr wie ein Mensch.
Jennifer wird wieder rot – eine lästige Eigenart, die sie von Mom geerbt hat. Kann sie sich gut vorstellen, dass sie schrecklich entstellt aussah. Mit einem Kürbiskopf. Kein Wunder, dass Nicholas sie nicht grüßt und seinen Namen verschweigt.
Und jetzt zu den guten Nachrichten, sagt Mrs. Molloway.
Kann es gar nicht geben. Nie mehr. Ihr Leben ist vorbei. Sie will sofort nach Hause. Sich in jemandes-Arme kuscheln und erzählt bekommen, dass alles gut wird und sie eine kleine Prinzessin ist und überhaupt völlig in Ordnung und Mamis liebes Mädchen und ...
»Du kannst in Ashburton Hall bleiben, solange du willst«, teilt ihre Krankenpflegerin ihr mit. »Oder wenigstens so lange, bis deine Mutter da ist.«
»MUTTER?!«
Mrs. Molloway nickt. »Der Lord wird sie gleich morgen anrufen. Ich konnte ihn endlich dazu überreden. Dank deines Unfalls. Ist das nicht reizend? Sie werden wieder zusammen sein. Nach all den Jahren. Der Lord ist ein sehr großherziger Mensch. Er muss es nur noch seiner Frau beibringen.«
Mrs. Molloway senkt ihre Stimme. »Die ist ein bisschen weniger großherzig. Vor allem, weil jemand ihre Lieblingsvase kaputtgemacht hat. »Wedgewood«, 18. Jahrhundert, ein unbezahlbares Stück. Lady Ashburton ist erzürnt und sehr hysterisch, sie weigert sich, die Versicherung einzuschalten. Sie ist untröstlich über den Verlust, wie sie sagt, aber einen Ersatz könne es nicht geben. Womit sie Recht hat. Es geht schließlich um ideelle Werte.«
»Ich dachte, sie ist greedy«, wirft Jennifer gelangweilt ein.
»Ja«, sagt Mrs. Molloway, »das ist sie auch. Sehr gierig sogar.« Die alte Dame runzelt die Stirn und lupft die linke Augenbraue. Wie eine Eule sieht sie aus. Eine sehr nachdenkliche Eule.
»Ehrlich gesagt, ist Lady Ashburtons Verhalten wirklich merkwürdig. Sie hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, um den Verlust zu verarbeiten, wie sie sagt, aber wahrscheinlich telefoniert sie nur mit ihrem Liebhaber! Als ob das jemanden interessiere.«
Jennifer interessiert der Lover, warum auch immer, durchaus: »Sie hat einen Liebhaber?«
Mrs. Molloway macht eine wegwerfende Handbewegung. »Of course. Das ist so üblich in den besseren Kreisen. Du weißt schon, Prince Charles und Camilla, das übliche Arrangement eben. Nun ja, der Lord jedenfalls besteht auf dem Anruf bei der Versicherung. Leider handelt es sich in diesem Fall aber um ihre Vase, da kann er nicht viel machen. Dabei brächte das schönes Geld. Nun ja, erst mal wird er die Polizei einschalten. Man hat seltsamerweise einige winzige Splitter der Vase auf der Terrasse gefunden. Und nun verdächtigt der Lord doch tatsächlich Nicholas.«
Jennifer sagt nichts, schämt sich nur.
»Aber ich weiß«, führt Mrs. Molloway nachdenklich fort, »dass Nicholas die Vase nicht als Zielscheibe dort hingestellt hatte. So etwas Unverantwortliches würde er nie tun, auch nicht, um seinen Vater zu verärgern. Niemals. Nur ein vollkommener Trottel würde so eine Kostbarkeit zerstören. Ein vollkommener Trottel!«
Jennifer hat mit einem Mal rasende Kopfschmerzen. Sagt sie. Mrs. Molloway lässt es ihr durchgehen. Sie ist mit eigenen Gedanken beschäftigt. »To break it – instead of stealing it! So silly.«
Jennifer versteht nur das Wort stehlen. Auch das noch. Die alte Tante wird doch nicht Miss Marple spielen wollen und ein paar Porzellanscherben zum Krimi aufblasen? Egal, noch schlimmer ist es, dass der Lord Mom benachrichtigen will. Mom wäre nun wirklich im Weg, jetzt, wo sie endlich selbstständig werden und Nicholas kennen lernen will.