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3. Kapitel

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Bea kramt noch immer nach einem Werkzeug zum Türöffnen, das kann dauern. Sophie lehnt sich in ihrem Sitz zurück. In ihrer Ehe hat sie auch festgesessen. Und außerdem wird sie in knapp einer Woche neununddreißig. Sozusagen beinahe vierzig. Was viel bedrohlicher ist, als genau vierzig zu werden. Mit neununddreißig hat man noch ein Jahr Galgenfrist, um das Ruder herumzuwerfen. Das kann doch nicht alles gewesen sein, hat sich Sophie gesagt, vor allem, wenn ein Job in England winkt.

Und eine Einladung von Mrs. Molloway nach Ashburton, nicht wahr?

Sophie sieht sich im spiegelnden Glas des Beifahrerfensters abwehrend den Kopf schütteln. Neben ihr stippt Beas Popo in die Luft. Die Gute kruschelt hinter dem Sitz herum, kämpft sich durch Berge von McDonalds-Tüten, Zeitungen, leere Getränkedosen und – typisch! – Reste von Kinder-Überraschungseiern. Beneidenswerte Bea. Sie ist noch genauso wie vor sechzehn Jahren: chaotisch, spontan, entweder unglücklich verliebt oder auf der Jagd nach einer neuen Affäre. Die Hoffnung hat Bea noch nie aufgegeben.

Wahrscheinlich wird sie zum Kotzen sein, so eine Scheidung, wenn der andere Gegenpartei heißt und ständig schmutziger Tricks verdächtigt werden muss. Leonhart und schmutzige Tricks? Er hat nicht einmal den Anstand, in einer Krise gemein oder ausfallend oder leidenschaftlich zu werden.

Wenigstens einen Teller hätte er in all den Jahren mal an die Wand schmeißen oder sich betrinken und nackt auf dem Dach herumtanzen können. Irgendwas Verrücktes, das hinterher zu einer süßen Versöhnung geführt hätte. Alleine streiten macht keinen Spaß. Sie seufzt. Wenn man bedenkt, dass ein anderer für sie mal Elefanten entführt, Schlägereien in Matrosen-Pubs angezettelt und sein Familienerbe samt Titel aufs Spiel gesetzt hat. Nun ja, fast aufs Spiel gesetzt hat. Am Ende waren dem Lord Geld und Tradition wichtiger als die Liebe. Sophie schluckt.

Das kommt davon, wenn man Zeit für sich hat. Hinterrücks überfallen einen verzehrende, vergessene Sehnsüchte, so als hätte man eine zerkratzte Vinylplatte aufgelegt. Etwa die, zu der man seinen ersten Klammerblues getanzt hat, in Ashburton-on-Sea. »I am sailing« war das. Nur nicht daran denken, nur nicht daran denken.

Zu spät. »Can you hear me, can you hear me, thro’ the dark night, far away, I am dying, forever trying, to be with you ...«, röhrt, krächzt und schmachtet Rod Stewart in ihrem Kopf. Kann denn keiner den Kerl abschalten oder totschlagen?

Bea kann. Sie taucht mit rotem Gesicht, Triumphgeheul und einem Baseballschläger aus den Tiefen hinter dem Fahrersitz wieder auf. Sophie muss lachen, das fällt ihr immer noch leichter als weinen. »Was hast du denn damit vor?«

»Mein Auto aufbrechen, sonst sitzen wir übermorgen noch hier. Hab das Ding mal zur Selbstverteidigung angeschafft, aber erstens passt es in keine Handtasche, und zweitens bin gewöhnlich ich es, die die Kerle belästigen muss. Ganz schön schwer, heutzutage noch Männer zu finden, vor denen unsere Mütter uns gewarnt haben. So was von lustlos diese Bande! Und ständig müde.«

Ist das die Frau, die vorhin Leonhart, den König der Schnarchäpfel, bemitleidet hat? Bea schwingt ihre Keule.

»Nun ja, jetzt wird das Ding trotzdem noch einen Zweck erfüllen. Am besten, ich schlage das Fenster ein und mache einen versuchten Diebstahl und damit einen Versicherungsschaden draus. Du bist meine Zeugin.«

Sophie schüttelt den Kopf. »Du bist der dümmste Autoknacker, den ich kenne. Den eigenen Wagen von innen zertrümmern.« Bea drischt mit dem harten Ende des Schlägers auf das Türschloss ein.

»Besser als die eigene Ehe. Du hast ja keine Ahnung, was auf dem freien Markt der Liebe los ist«, presst sie zwischen den Schlägen hervor. »Ich finde nach wie vor, dass du komplett gaga bist.«

Bestimmt. Sonst wäre ich nicht hier. Mit dir.

Bea verdreht die Augen. »Diese Wahrsagerin ist sensationell. Was Zara mir über meine vergangenen Beziehungen erzählt hat! Jeder Kerl ein Griff ins Klo. Völlig verkehrt für mich. Da muss man erst mal drauf kommen.«

Die Erinnerung an die falschen Kerle gibt Bea neue Kraft. Jetzt malträtiert sie die gesamte Tür mit den Füßen.

Misstrauisch zieht Sophie die Augenbrauen zusammen. »Das mit den falschen Kerlen hätte ich dir auch erzählen können. Besser gesagt, ich habe es dir erzählt, bei jedem Einzelnen von ihnen.« Und zwar gratis statt für hundert Euro die Stunde. Bei einem Cocktail in der üblichen Kneipe und nach Büroschluss.

So herum funktioniert diese Freundschaft normalerweise. Die abgeklärte Sophie ordnet einmal im Monat Beas Gefühlschaos, gibt Ratschläge, weiß, wo es langgeht, und Bea hört nicht zu und macht weiterhin, was sie will, vor allem in Sachen Liebe.

Bea holt zum Tritt aus. Die Tür scheint bereit zu kapitulieren, gibt einen kleinen Spalt frei. »So hat die Tür noch nie geklemmt.«

Sophie wirft einen entnervten Blick zum Autodach. Da krabbelt eine kleine Spinne über den grauen Polyesterfilz. Eine Glücksspinne. Haha.

Bea entdeckt sie auch. »Uuuh, kann ich die haben? Du weißt schon, wer sie auf den Finger nimmt und wegpustet, darf sich was wünschen, aber nicht sagen, was!« Nee, das würde sie nie, niemals sagen. Sie legt sich – Gesicht nach oben – auf Sophies Schoß, krabbelt mit dem rechten Zeigefinger der Spinne hinterher.

Sophie seufzt. Bea glaubt tatsächlich, dass das Leben dazu da ist, einen glücklich zu machen. Unverbesserliche Bea. Sie sollte langsam dem Realitätsprinzip eine Chance einräumen. So wie ich, denkt Sophie. Dann könnte Bea ... Ja, was? Sich auch irgendwann scheiden lassen, weil das Leben so verdammt ereignislos geworden ist? Vielleicht ist Beas Geheimnis einfach, dass sie ans Glück glaubt.

Ihre Freundin hat die Spinne erwischt. Das Tierchen umrundet in rekordverdächtigem Trippelschritt deren Finger. »Mach dein Fenster auf und hilf mir hoch, bevor sie weg ist«, verlangt Bea. »Ich muss pusten. Schnell.«

Sophie kurbelt die Scheibe herunter und schiebt die Freundin nach oben. Bea scheint unter einer spontanen, völligen Körpererstarrung zu leiden. Bea schreit auf: »Sie spinnt einen Faden und seilt sich ab. Ich seh sie nicht mehr.« Sophie erwischt die kleine Spinne, bevor die auf ihrem Unterarm landen kann, zupft den fast unsichtbaren Faden weg und bläst das Tierchen aus dem Fenster.

Bea fährt hoch wie ein Sprungteufel und funkelt Sophie an: »Das war meine! Du Egoistin! Was hast du dir gewünscht? Unverschämt, wo du alles schon hast. Wunderbaren Mann, gelungenes Baby, Angeberhaus auf dem Hügel, Chefposten ...«

»Komm auf den Teppich, Bea. Ich glaube nicht an Magie und Märchen. Mein Baby ist erwachsen und in England, ich lebe in Trennung und kann die nächste Kreditrate kaum aufbringen, weil mein angeblicher Chefposten, den du noch nie ernst genommen hast, höchst mittelmäßig bezahlt wird. Ein Vertreter der Gattung Insekten dürfte wohl kaum deine oder meine Chancen auf eine befriedigende Partnerschaft und ein dauerhaftes Happy End erhöhen.«

Na, endlich klingt sie wieder vernünftig – fast wie Leonhart, nicht wahr? Er hat auch seine guten Seiten, verteidigt sich Sophie in stummem Trotz.

Bea wird wütend. Wieso ist Sophie nur so blind für ihr Glück? Hat sie überhaupt eine Vorstellung davon, wie es ist, ganz alleine durchs Leben zu tingeln und jeden Tag so zu tun, als sei alles eine lustige Kirmes? Nur damit niemand einen für eine frustrierte Spinatwachtel hält. Nur damit man vielleicht doch noch etwas abbekommt vom Kuchen Lebensfreude. Einen Kuchen, den Sophie seit Jahren angeekelt auf ihrem Teller hin und her schiebt, weil sie auf Lebensdiät ist.

Bea zieht das rechte Bein an, stößt die Fahrertür mit einem gewaltigen Tritt auf und schlängelt sich hinaus auf die Straße: »Einen Leonhart setzt man nicht auf die Straße wie ein durchgesessenes Sofa. Du gibst dem Glück nicht mal eine Chance, wenn es dich geradewegs in den Hintern tritt.«

Bea als Anwältin der Vernunft und Ratgeberin – pah! Und überhaupt, was hat sie nur plötzlich mit Leonhart? Sophie klettert auf den Fahrersitz herüber und steigt so hoheitsvoll wie möglich aus dem Auto. »Ich bin Marktforscherin. Ich halte nicht viel von übertriebenen Glückserwartungen, das führt nur zu Produktenttäuschungen.«

»Wir reden hier von Liebe, Sophie. Nicht von Lebensmitteln oder Haushaltswaren. Und jetzt komm, Zara wartet.«

Sophie klopft sich den Rock sauber und doziert: »Die Erfindung von klumpfreiem Soßenbinder oder Weichspüler mit Bügelhilfe hat mehr zur Beglückung vieler Frauen beigetragen als irgendwelche romantischen Fantasien über das Liebesglück. Die Markteinführung des Soßenbinders ›Quickfix‹ verdankt sieh unter anderem unseren Verbraucherbefragungen und ...«

Bea gibt ihr von hinten einen sanften Schubs. »Vorwärts, du Feministin der Fertigsuppen. Vergiss nicht, dass ich dich noch aus der Zeit kenne, als wir die Verbraucher-Fragebögen selber ausgefüllt und für die vorübergehende Markteinführung von Schokolade mit Speckaroma gesorgt haben. Inzwischen bist du so was von staatstragend geworden. Wie hat Leonhart das nur all die Jahre ausgehalten? Halst du im Bett etwa auch solche Vorträge, kein Wunder, dass dann nichts mehr läuft, oder ...«

Sie unterbricht sich. Sophie und Leonhart zwischen zerwühlten Laken, mit schweißglänzenden Körpern, das will sie sich lieber nicht vorstellen. »Obwohl, Sex ist ja nicht so wichtig.«

Sagt ausgerechnet Bea. Scheinheiliges Luder, denkt Sophie und wendet sich rasch ab, schreitet auf das Gartentor zu, vor dem sie geparkt haben. Sie stößt es auf und wendet den Kopf zu Bea.

»Sex hatten wir regelmäßig.«

Nebenan wird ein Vorhang von unsichtbarer Hand zur Seite geschoben und ein Fenster geöffnet, fehlt nur, dass es sich irgendeine Witwe Bolte mit dem Kissen auf dem Fensterbrett bequem macht.

Sophie schluckt. Soll etwa die ganze Straße an ihrem erotischen Leben teilhaben? Na ja, erotisch? Es handelte sich um ehelichen Sex. Angenehm, aber nicht sensationell. Leonhart kannte sozusagen ihre Bedienungsanleitung, und danach ist er verfahren, einmal streicheln, zweimal küssen hier, dann da, die Hand zwischen die Oberschenkel gleiten lassen, an diese weiche Stelle kurz über ... mein Gott, ist das plötzlich eine Hitze in der Sonne.

Besser man verzieht sich in den Schatten unter der Haustür.

Wo war sie stehen geblieben? Ach ja, einmal streicheln, dann, ach was, und so weiter und so weiter. Leonhart ist ein effektiver Liebhaber, nur keiner, mit dem sie vor ihrer notorisch liebestollen Freundin angeben könnte.

Die liebestolle Freundin ist ihr mit offenem Mund und erstauntem Blick gefolgt. Herrje, scheint geschockt die Gute, nur weil Sophie zum ersten Mal von ihrem aktiven Liebesleben erzählt hat, statt – wie üblich – Bea die Bettgeschichten zu überlassen.

Sie streckt die Hand nach dem Klingelknopf zu ihrer Rechten aus, hält in der Bewegung inne und dreht sich zu Bea um. »Glaub mir, ich vermisse Leonhart nicht. Ich sehne mich nach ganz was anderem.«

»Und das wäre?«

»Ein völlig neues Leben.«

Oder das ganz alte? Das mit deinem englischen Liebhaber vielleicht? Der dir mal eine Hochzeitsnacht in einem Schloss versprochen hat – und ...

Bea hat einen anderen Vorschlag: »Wie wäre es mit einem neuen Leonhart? Ich meine, wenn er sich ändern würde? Er könnte doch zum Beispiel weniger lesen.«

»Leonhart und sich ändern? Eher lernen Schweine fliegen! Nee, der ändert sich nicht! Der bleibt so überschaubar wie das kleine Einmaleins und unfähig zu jeder Leidenschaft.«

Bea denkt nach. Das sieht man daran, dass sie auf ihren frisch geschminkten Lippen herumkaut.

»Sophie, ich wäre vorsichtiger. Was zum Beispiel, wenn eine andere Frau deinen Leonhart gar nicht so überschaubar und langweilig fände, sondern aufregend und begehrenswert?«

Der letzte Satz hat sie richtig Kraft gekostet. Meine Güte, ist sie edel, hilfreich und gut. Sie meint das nämlich gar nicht spaßig, es ist ihr bierernst.

»Wenn eine andere ihn begehrenswert findet, dann kann sie ihn gleich mitnehmen und sich an meiner Stelle mit ihm zu Tode langweilen.« Im Nachbarhaus wird geräuschvoll das Fenster geschlossen. Da sieht man’s: Sogar für die Nachbarn ist das Thema Leonhart zu langweilig.

Sophie drückt auf die Schelle. Auf dem selbst gebackenen Klingelschild aus bemaltem Salzteig – wie geschmacklos – steht »Böckelkamp«.

Zara Böckelkamp also. Klingt nicht gerade vielversprechend. Zumindest nicht wie Magie. Aber daran glaubt Sophie seit jenem Sommer in Great Britain sowieso nicht mehr.

Ach, wirklich nicht? Und warum bist du dann hier? Klappe! Rod Stewart schaltet sich zu: »I am sailing. I AM SAILING.«

Sophie klingelt Sturm.

Mein englischer Liebhaber

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