Читать книгу Gemmas Gedanken - Lin Rina - Страница 10

Erster Vogel

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Die Spitze meines Bleistiftes huschte über das Papier, ohne dass ich wirklich darauf achtete, was ich zeichnete. Ich wartete darauf, dass Vikas Wasserkocher endlich aufhörte, laute Geräusche zu machen, und ich sie wieder verstehen konnte.

Ihr krauser Lockenkopf tauchte im Bild auf, als sie sich mit Schwung vor ihr Tablet setzte.

»Okay, bin wieder am Start. Wo waren wir?«, fragte sie und ich konnte mich selbst nicht mehr erinnern. Doch zum Glück war das nicht so wichtig, wenn man mit Vika telefonierte.

»Oh Gem, dieser Tee, den Dani mir mitgebracht hat, riecht so verdammt gut. Den mach ich dir, wenn du hier bist. Ich kann es kaum erwarten, dass du endlich bei uns wohnst und ich nur nach nebenan spazieren muss«, rief sie ganz euphorisch und verschüttete dabei beinahe ihren Tee über die Bluetooth-Tastatur. Schnell stellte sie die bauchige Tasse ab und leckte sich einen Tropfen vom Handrücken.

Ich grinste und durchbrach den Kreis auf meiner Zeichnung mit einem Pfeil.

»Hast du schon fertig gepackt?«, erkundigte sich Vika und begann, mit dem neuesten Helix-Piercing zu spielen.

»Alles in Kisten. Morgen geht’s los!«, verkündete ich stolz und Vika führte einen kleinen Freudentanz mit den Händen auf.

»Das wird iiiiirre. Du hättest schon viel früher ausziehen sollen.«

Nachlässig zuckte ich mit den Schultern. »Es war einfach noch nicht die richtige Zeit«, erwiderte ich und wusste, dass es nur eine Floskel war. Ich hatte selbst keine Ahnung, warum ich nicht, wie alle anderen auch, nach dem Schulabschluss in die Wohnkomplexe in Mauersend gezogen war, so wie viele junge Erwachsene das taten. Die Wohnung war schon lange genehmigt und gekauft, und von meinen Freunden war ich die Einzige, die noch bei ihren Eltern lebte.

Aber für mich war das in Ordnung.

Vielleicht war es für meine Mama sogar ganz gut gewesen, dass ich noch nicht so früh ausgezogen war. Ihr ging es in letzter Zeit nicht so besonders.

Während Vika einen Schluck Tee nahm und sich erst mal die Zunge verbrannte, betrachtete ich die Skizze auf meinem Papier und fügte noch ein paar Punkte und Striche hinzu. Es war eine einfache Zeichnung und doch brachte sie mich dazu, etwas zu empfinden. Mein Herz schlug für einen Moment schneller, als ich einen letzten Pfeil einzeichnete und sie sich damit vollendet anfühlte. Seufzend schüttelte ich die seltsame Gemütsregung ab, weil sie nur die Erinnerung aus einem längst vergessenen Traum war.

Um nicht noch länger in dem Moment festzuhängen, packte ich den Notizblock und hielt ihn für Vika vor die Kamera meines Handys, das an meiner leeren Müslischüssel lehnte.

Meine Freundin beugte sich interessiert näher an ihren Bildschirm. »Uuuh, das gefällt mir. Was Bestimmtes?«

»Ne, einfach so entstanden.«

»Wäre ein tolles Tattoo für den Unterarm«, kommentierte sie mit diesem Glitzern in den Augen, das so typisch für sie war und immer eine sehr verrückte Aktion nach sich zog.

Ich lachte auf. »Schade, dass bei dir da kein Platz mehr ist«, sagte ich bewusst ironisch, denn Vikas Unterarme waren bereits voll tätowiert. Das meiste davon waren dunkle Ornamente, feine farbige Blüten und einzelne weiße Zeichen, die auf ihrer moccafarbenen Haut wunderbar zur Geltung kamen.

»Jaja, bla, bla«, erwiderte sie und wedelte meinen Kommentar mit den Händen fort. »Darf ich es denn haben?«, fragte sie erwartungsvoll, und obwohl ich normalerweise nichts dagegen hatte, wenn Vika meine Kritzeleien auf ihrem Körper verewigte, hielt mich diesmal ein Drücken im Brustkorb zurück.

»Ne du, diesmal nicht. Ich habe irgendwie das Gefühl … es gehört nur mir«, versuchte ich zu erklären, was ich fühlte, und Vika nickte bedächtig.

»Natürlich, das versteh ich voll«, sagte sie und ich war irritiert. Ich verstand es ja selbst nicht mal. Doch in Vikas Kopf ging es immer ein bisschen anders zu, sodass ich mich über derartiges Verständnis für die wirren Gefühle des Lebens nicht wundern sollte.

Meine Mama kam in die Küche geschlurft und wandelte wie ein Zombie zum Kaffeevollautomaten. Die einzigen zwei Dinge, die meine Mutter in der ersten Stunde nach dem Aufstehen fertigbrachte, waren, ihre Pantoffeln verkehrt herum anzuziehen und den Knopf auf der Kaffeemaschine zu drücken. Manchmal vergaß sie sogar eine Tasse drunterzustellen.

»Guten Morgen«, begrüßte ich sie.

»Morgen, Ida. Die Sonne lacht und dieser Tag wird großartig«, flötete Vika aus meinem Handy und Mama hatte nicht mal ein müdes Lächeln für uns.

»Noch zu früh«, informierte ich meine Freundin, die schulterzuckend noch einen Schluck Tee nahm. Diesmal vorsichtiger.

Auch ich griff nach meinem Kaffee und hielt die Tasse in den Händen, während ich immer noch die Zeichnung betrachtete, die gerade so nebenher entstanden war.

Was zog mich an einem Kreis und ein paar stilisierten Pfeilen nur so an?

»Und was steht heute an?«, lenkte Vika mich von meinen Gedanken ab. »Kommst du rüber? Machen wir uns einen schönen Tag im botanischen Garten?«

»Leider nicht. Ich muss zur Gedankenauslese«, seufzte ich und Vika verzog genervt das Gesicht.

»Jetzt schon? Haben die dir eine zusätzliche Untersuchung reingedrückt?« Sie hielt gar nichts von Gedankenauslese. Auch wenn sie sich gezwungen fühlte, jedes Jahr zur empfohlenen Kontrolle zu gehen, fand sie es befremdlich zu wissen, dass andere die Möglichkeit hatten, sich all ihre Gedanken anzusehen.

Ich wollte dem Ganzen eher neutral gegenüberstehen. Wie oft kam es schon vor, dass sich tatsächlich jemand ansah, was man gedacht hatte? Nur wenn irgendwelche traumatischen Erinnerungen einen quälten oder sich Vorboten einer psychischen Krankheit ankündigten. Und selbst dann wurde auch nur die betroffene Stelle ausgewertet und nicht das ganze Jahr.

Mein Verstand war da ganz entspannt.

»Ja, aber nur eine Routinesache. Ich bin nur zum kleinen Scan da«, versuchte ich Vika zu beruhigen und sie schüttelte den Kopf über meine Gelassenheit.

»Viel Spaß dabei, dich vom System unterdrücken zu lassen«, schnaubte sie mit einem belehrenden Unterton, den ich nur zu gut an ihr kannte. Vika war eben eine Querdenkerin mit Hang zur Weltverbesserung.

»Alles klar, Vik. Ärzte sind alle Monster, Zahnfüllungen sind voller Gift und Impfungen der flüssige Teufel«, leierte ich die Standard-Verschwörungstheorien runter und Vika streckte mir ihre gepiercte Zunge raus.

»Darum geht’s doch gar nicht«, verteidigte sie sich. »Das ist Gedankenkontrolle, Gemma. So was sollte niemand einsehen dürfen. Die Gedanken sind frei!«, predigte sie mir und ich hörte nur halb zu.

»Ja, Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen sind dann aber auch frei«, konterte ich und Vika verdrehte die Augen.

Sie wollte gerade etwas erwidern, als sie durch die Türklingel unterbrochen wurde. Ich brauchte einen Moment, um zu bemerken, dass es unsere Tür gewesen war und nicht ihre.

Mama nuschelte etwas, was ich als »Gehst du bitte?« deutete und schnappte mir mein Handy.

»Ich leg auf, Vik. Ich melde mich, wenn ich auf dem Weg zum Center bin. Muss noch duschen«, sagte ich schnell, während ich mich vom Stuhl erhob, und Vika winkte eben noch, bevor sie auflegte.

Ich trottete aus der Küche auf den Flur und checkte eben meine Nachrichten auf dem Handy. Drei Textmessages von Joris und eine Sprachmemo von Jessy, die sie mit einem sehr verstörenden GIF von einem wackelnden Typen mit Insektenkopf ergänzt hatte. Ich hing noch in Gedanken an dem GIF fest, während ich mir das Handy in die Hosentasche schob und die Haustür öffnete.

Davor stand ein Postbeamter in dunkelblauer Uniform.

»Gemma Henson?«, fragte der Mann und hielt mir ein kleines Päckchen entgegen.

»Jap«, bestätigte ich salopp und nahm es ihm ab. Hatte ich was bestellt? Neugierig betrachtete ich den Karton, fand aber keinen Anhaltspunkt auf den Inhalt. Nur der Standardaufkleber des Paketdienstes und eine säuberliche Handschrift, die meine Adresse eingetragen hatte. Kein Absender. Seltsam.

»Wenn wir es nicht tun, Gemma, wird es niemand tun«, sagte der Postbeamte plötzlich zu mir und ich hob irritiert den Blick.

»Wie bitte?«, fragte ich nach, weil es mir zu abwegig vorkam, dass er so etwas zu mir gesagt hatte.

»Einmal hier unterschreiben«, meinte er und klang dabei so, als würde er es für mich noch einmal wiederholen. Hatte ich mich gerade wirklich so krass verhört?

Ich musterte den Mann kurz. Dunkle Augen, hohe Wangenknochen, kurze braune Haare, die unter seiner zur Uniform passenden Kappe hervorlugten. Erwartungsvoll hielt er mir den Stift hin.

Zögerlich nahm ich ihn entgegen, setzte schnell eine krakelige Unterschrift auf das Gerät und fragte mich, wie mein Kopf sich so einen Blödsinn zusammenspinnen konnte.

»Danke«, sagte ich und der junge Mann tippte sich mit dem Finger zum Abschied an seine Kappe.

»Viel Spaß mit dem Päckchen«, wünschte er mir und schlenderte den Weg zurück zu dem Truck, der am Straßenrand parkte.

Ich sah dem Postbeamten hinterher, bis er eingestiegen war und den Motor startete. Dann zog ich mich ins Haus zurück und schloss die Tür, ehe noch jemand dachte, ich wäre jetzt völlig durchgeknallt.

»War es die Post?«, hörte ich Papa von oben und schüttelte die seltsame Beklemmung ab, die mir schon wieder auf die Brust drückte.

Es war nicht das erste Mal, dass mir so was passiert war. Doch noch nie hatte ich mir einen ganzen Satz eingebildet. Dass mal ein Wort sich verschob oder ich für einen Moment das Gefühl hatte, Leute zu kennen, denen ich nie zuvor begegnet war, kam vor. Aber das gerade war krasser gewesen.

Da war es eigentlich nicht verwunderlich, mich einmal mehr zur Untersuchung zu schicken, denn ganz offensichtlich stimmte was nicht mit mir.

»Ja!«, rief ich meinem Vater zu und schwere Schritte knarrten im ersten Stock.

»Ist es für mich?«, wollte Papa wissen, als er am oberen Ende der Treppe auftauchte und zu mir runter in den Flur polterte.

»Ne. Für mich«, erwiderte ich und er machte ein enttäuschtes Gesicht. »Hast du was erwartet?«

»Ich habe Ersatzteile für den Mixer bestellt.«

Ich hielt ihm das Päckchen hin, damit er mit eigenen Augen sehen konnte, dass es nicht für ihn war.

»Warum schmeißt du das alte Ding nicht einfach weg und ihr kauft euch einen neuen?«, seufzte ich und klemmte mir den Karton unter den Arm.

Papa zog die Nase kraus. »Du hast deine Hobbys. Ich habe meine«, gab er zurück und ich musste grinsen. Denn wir waren uns in diesem Punkt in Wirklichkeit gar nicht so unähnlich. Wir bastelten beide gern an Elektrogeräten herum. Er zum Spaß und ich würde es zum Beruf machen.

Aufregung überfiel mich jedes Mal, wenn ich daran dachte, dass ich bald meinen ersten Arbeitstag hätte. Meine zweijährige Ausbildung war beendet und ich fieberte meinem neuen Job bei Biolog Medical entgegen wie meinem eigenen Geburtstag.

»Ich geh duschen«, teilte ich meiner Mama mit, als ich den Kopf noch mal in die Küche streckte, auch wenn es nur die halbe Wahrheit war. Ich erwartete noch keine Antwort von ihr, dafür sah die Kaffeetasse in ihren Händen noch zu voll aus.

Das Päckchen nahm ich mit nach oben und steckte es in meine Handtasche, die schon fertig gepackt im Flur vor meiner Zimmertür stand.

Zumindest war es mal mein Zimmer gewesen. Jetzt war kaum noch etwas davon übrig. All meine Sachen waren in Kartons verstaut, meine Möbel abgebaut und zusammengeschnürt. Nur das alte Gästesofa stand noch darin und würde mir in meiner letzten Nacht im Haus meiner Eltern als Bett dienen.

In der neuen Wohnung hatte ich eine neue Couch.

Ich warf kurz einen Blick zur Treppe, ob mich meine Eltern auch wirklich nicht sahen, zog ein Cuttermesser aus meiner Handtasche und schlich mich heimlich in mein altes Zimmer.

Gezielt lief ich in die hintere Ecke und drückte meine Ferse in das Ende der einen lockeren Bodendiele, sodass sie nach oben aufklappte.

Schon seit langer Zeit hielt ich dieses Ritual ab, etwa einmal im Monat und vor allem jedes Mal, bevor ich zur Gedankenauslese musste.

Denn selbst wenn mein Verstand dem Gesundheitssystem vertraute, meine Gefühle taten es in manchen Momenten nicht.

Egal wie oft ich mir die Fakten vor Augen führte, mir bewusst machte, wie sicher die AIC-Technologie war, etwas in mir hatte Angst. Eine kleine unterschwellige Angst zu vergessen.

Keinem, den ich kannte, waren so schlimme Dinge passiert, dass sie durch Rasterung leichter gemacht werden mussten.

So was wurde zum Beispiel bei Opfern von Gewaltverbrechen gemacht. Eine schlimme Erinnerung wurde wie ein Foto in kleine Streifen geschnitten und jeder zweite entfernt. So konnte man die Erinnerung zwar noch betrachten, empfand sie jedoch als weniger intensiv, damit sich so traumatische Ereignisse leichter verarbeiten ließen.

Es kam äußerst selten vor und meistens vermisste man die gelöschten Schnipsel auch nicht.

Ich, als ausgebildete Technikerin für die AIC-Geräte, wusste ganz genau, wie die Algorithmen der Gedankenauslese funktionierten, und fürchtete mich trotzdem davor, zu vergessen, was mir wichtig war.

Denn eine Rastertechnologie gab einem auch die Möglichkeit, ganze Gedanken und Erinnerungen zu löschen, selbst wenn das so was von illegal war und somit bei einer normalen Untersuchung so ziemlich das Letzte, was passieren konnte.

Aber diese Furcht war in meinem Herzen, egal wie sehr ich dem System vertraute.

Ich griff in den Hohlraum unter der Diele und zog ein schmales Buch hervor, in dem schon der Stift an der richtigen Seite klemmte.

Schnell versuchte ich mich zu sammeln, das seltsame Erlebnis mit dem Postbeamten zu verdrängen und mich an die wichtigsten Gedanken und Momente der letzten paar Wochen zu erinnern. Alles, was passiert war, seit ich das letzte Mal in dieses Buch geschrieben hatte.

Ich schlug die Seite auf und setzte meine eiligen Notizen.

Stichpunktartig schrieb ich von der Abschlussprüfung meiner Ausbildung zur medizinischen Technikerin. Meinen Notendurchschnitt und die Belobigung, die ich für besondere Begabung und überdurchschnittlichen Einsatz verliehen bekommen hatte, erwähnte ich auch, weil ich so unfassbar stolz darauf war. Dazu hatte es sogar einen Artikel in der Zeitung gegeben.

Die Gesundheitsmesse startete morgen und ich hatte mich in drei Tagen für den Stand unseres Ausbildungszweigs eingetragen. Darauf freute ich mich auch schon.

Dann wurde ich wieder ernster. Mamas seltsame Aussetzer waren häufiger geworden und sie wirkte ängstlicher als noch vor drei Wochen. Ich zeichnete einen neuen Punkt in die Tabelle, die ich dafür angelegt hatte, und seufzte lautlos. Ich machte mir Sorgen um sie. Doch bei ihrer letzten Gedankenauslese war anscheinend nichts auffällig gewesen.

Ich zwang mich, nicht zu lange darüber nachzudenken und mich auf den letzten Punkt zu konzentrieren. Die Zeit, in der ich die Gedankenauslese austricksen konnte, war begrenzt.

Es folgte eine Liste von Menschen, die mir in der letzten Zeit am wichtigsten waren. Mama, Papa, Vika, Tante Laura und manchmal auch Joris, schrieb ich auf, und auch wenn mir natürlich noch mehr Leute einfielen, hielt ich mich kurz.

Ich klemmte den Stift zwischen die Seiten, klappte das Buch zu und schob es in die letzte offene Umzugskiste, die ich anschließend verschloss.

Das Cuttermesser half mir beim Abtrennen des Klebebands und wie zufällig schnitt ich mir damit einmal fest in die Fingerkuppe meines rechten Mittelfingers.

Ich wusste schon vorher, wie es sich anfühlte und war doch aufs Neue überrascht von dem Schmerz. Lautstark fluchend hielt ich mir den blutenden Finger und lief aus meinem Zimmer rüber ins Bad, um bloß nichts auf den Boden tropfen zu lassen.

Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe als physischen Schmerz, um die Erinnerungen der letzten Minuten zu überdecken, würde ich sie auf jeden Fall ergreifen. Doch die einzigen Methoden, die es sonst noch gab, waren Alkohol- oder harter Drogenkonsum. Und beides war hochgradig illegal.

Da blieb ich besser bei meinem guten alten Cuttermesser und einem kleinen Schmerztrauma.

Während ich die Wunde mit Heilsalbe und wasserfestem Sprühpflaster verarztete, lenkte ich meine Gedanken zum bevorstehenden Umzug, um nicht weiter an mein Buch der wichtigen Erinnerungen zu denken. Welchen Zweck hätte es gehabt, mir in den Finger zu schneiden, um meine Erinnerungen an das Buch und meine Aufzeichnungen zu überdecken, wenn ich weiter darüber nachdachte?

Mein Blick fiel auf den Wecker, der auf der Ablage über dem Waschbecken stand, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Jetzt wurde wirklich alles andere nebensächlich. Verdammt, es war zehn vor neun! Meine Bahn fuhr schon in einer Viertelstunde.

Ich ließ meinen Finger in Ruhe, riss mir die Klamotten vom Leib und duschte mich im Schnelldurchlauf mit dem Shampoo meiner Mutter, das mir trotz vorheriger Maßnahmen in der Wunde brannte.

Genau acht Minuten später rannte ich in braunem Top, einer schwarzen, durchsichtigen Strumpfhose und Jeansshorts die Treppe wieder nach unten. Natürlich hatte ich mir in der Eile eine Laufmasche eingerissen, aber keine Zeit, um mir was Neues anzuziehen. Beinahe rutschte ich auf den glatten Holzstufen aus und fing mich im letzten Moment, bevor ich die Treppe nach unten segelte. Das wär’s ja noch gewesen.

Obwohl ich für das Outfit eigentlich meine Ballerinas vorgesehen hatte, stieg ich in die Boots. Wenn ich zur Bahn rennen musste, wollte ich dabei auf keinen Fall meine Schuhe verlieren.

»Gemma, hast du deine Ausweise eingepackt?«, erinnerte Papa mich, der mich von der Küche aus durch den Flur rennen sah. Hektisch blickte ich mich nach meiner Handtasche um und erinnerte mich daran, dass ich sie vorhin vor meiner Zimmertür hatte stehen lassen.

Ich ärgerte mich darüber, sie nicht gleich mit nach unten gebracht zu haben, und rannte die Stufen wieder nach oben. Eigentlich hielt ich mich für eine organisierte Person, doch heute Morgen schien es nicht so glatt zu laufen wie sonst.

»Ich bin dann weg!«, rief ich meinen Eltern zu, bevor ich durch die Tür nach draußen schlüpfte und schnellen Schrittes die Straße entlang zur Bahnstation eilte.

Das Viertel, in dem wir wohnten, war ruhig und ein Vorgarten grenzte an den nächsten. Bei der alten Elaine Schmitz von nebenan bewegten sich verräterisch die Gardinen, da sie sicher wieder mit Argusaugen die Straße beobachtete. Yuri und seine kleine Schwester Zumi spielten auf der anderen Straßenseite mit einem Ball und winkten mir zu, als sie mich vorbeilaufen sahen.

Es war ein wehmütiges Gefühl, zu wissen, dass es bald sehr viel seltener vorkommen würde, diese altbekannten Wege zu gehen.

Noch ein Grund mehr, warum ich nicht wie üblich bei Antritt meiner Ausbildung ausgezogen war. Redete ich mir zumindest ein. Denn es fühlte sich nicht wie eine befriedigende Antwort an. Keines meiner bisher erdachten Argumente tat das.

Es war ein Rätsel ohne Antwort und es brachte nichts, darüber nachzudenken. Also ließ ich es sein und konzentrierte mich aufs Hier und Jetzt.

Ganz knapp erreichte ich die Haltestelle und sprang noch eben durch die Türen der Magnetschwebebahn, die sich bereits piepsend schlossen.

Schwer atmend ließ ich mich auf eine Bank fallen und der Waggon setzte sich geschmeidig in Bewegung.

Zu dieser vormittäglichen Uhrzeit war fast niemand unterwegs. Mir gegenüber saß eine ältere Dame mit einem winzigen Hund in ihrer Tasche, der einen albernen pinkfarbenen Hut trug und mich bösartig anknurrte. Ein Mann mit Aktentasche in der Hand stand nahe dem Ausgang, lehnte sich an eine der Stangen und las mit angestrengtem Gesichtsausdruck etwas auf seinem Tablet.

Meine Fahrt ins medizinische Viertel würde nicht länger als fünfzehn Minuten dauern. Vor meinem inneren Auge breitete sich die Karte des Schienennetzes aus, wenn ich über die Strecke nachdachte, die die Bahn nehmen würde.

Aber nicht nur für Zugstrecken hatte ich ein Faible, das galt für so ziemlich jede Art von Plan oder Karte. Stadtpläne, Schaltpläne, Grundrisse von Häusern. Die feinen Linien, die zusammenführten und ein komplexes Labyrinth bildeten, zeigten für mich eine Art Schönheit, mit der ich mich gern beschäftigte. Es war faszinierend.

Ich öffnete meine Tasche auf der Suche nach meinem Handy, um Vika eine Sprachnachricht aufzunehmen. Wenn es für Handtaschen doch nur auch eine Karte gäbe, um sich darin zurechtzufinden.

Seufzend fiel mein Blick auf das kleine Päckchen, das zwischen einer halb leeren Taschentuchpackung und einem Schal hervorlugte. Das hatte ich schon fast wieder vergessen.

Eine Mischung aus Misstrauen und Neugierde überkam mich, als ich es herauszog und noch einmal in den Händen drehte.

Hatte der Absender nur vergessen, seinen Namen aufzuschreiben, oder war es seine Absicht gewesen, mich in Unwissenheit zu lassen?

Ich zuckte mit den Schultern, um die Gedanken abzutun, und riss mit einer behänden Bewegung das Klebeband vom Deckel. Es änderte nichts, darüber zu grübeln. Vielleicht offenbarte ja der Inhalt mehr.

Gespannt wühlte ich mich durch das braune Papier, das als Füllmaterial diente, und fand im ersten Moment nichts. Irritiert zog ich einen Papierstreifen nach dem anderen aus dem Karton, auf der Suche nach dem Inhalt des Päckchens. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass mir jemand Füllmaterial zukommen ließ.

Doch da blitzte zwischen den Schnipseln etwas Glänzendes auf und ich griff es mit spitzen Fingern. Es war ein Origamivogel. Das Papier, aus dem er gefaltet worden war, schimmerte auf der einen Seite silbern und hatte auf der anderen bunte Muster, die an den Flügeln und am Schwanz sichtbar wurden.

Eine mir unbekannte Person hatte mir einen Papiervogel geschickt. In einem Päckchen. Was hatte das zu bedeuten?

Dreimal wühlte ich mich durch das Füllmaterial und fand keine Nachricht, bevor ich auf die Idee kam, den Vogel zu entfalten. Doch auch hier stand kein Wort und es gab keinen Anhaltspunkt, der mir weiterhalf.

Glücklicherweise war es nicht schwer, den Vogel wieder zusammenzubasteln. Nachdenklich drehte ich das Ding hin und her und versuchte mir einfallen zu lassen, wer mir so was schicken würde.

Ich durchsuche meine Tasche wieder nach meinem Handy, bis ich bemerkte, dass es in meiner Hosentasche steckte.

»Vika. Ich habe gerade ein Päckchen bekommen. Und da ist ein Origamivogel drin. Nur ein Origamivogel! Keine Ahnung, wer mir so was schickt. Hast du eine Idee?«, machte ich eine Sprachmemo an meine beste Freundin und fotografierte den Vogel für sie.

Vielleicht konnte sie ja mehr damit anfangen. Ich war jedenfalls ratlos.

Gemmas Gedanken

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