Читать книгу Gemmas Gedanken - Lin Rina - Страница 25
Dritter Vogel
Оглавление»Dass du überhaupt noch laufen kannst, grenzt an ein Wunder«, behauptete Oliver und ich war vollkommen überfordert von all den Informationen, die auf mein Gehirn einströmten.
»Das ist jetzt nicht wahr. Das kann einfach nicht wahr sein«, flüsterte ich und hätte es gern rausgeschrien, das CT-Bild beschimpft und alles als bösen Traum abgetan.
Aber das hier war die Wirklichkeit und vor mir konnte ich meine Knochen sehen, die einmal gebrochen gewesen waren.
Mein Atem ging immer schneller, Panik schwappte in meinem Kopf umher, machte mich wirr und schwummrig. Der Geruch von Blut hing mir in der Nase, obwohl ich kein Blut sehen konnte. Um nicht umzukippen, ließ ich mich langsam zu Boden sinken und zog die Beine an.
Mir war schlecht, alles drehte sich und ich senkte den Kopf zwischen die Knie.
Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was das alles bedeutete. Doch die Gedanken drängten sich mir auf, ohne dass ich sie abstellen konnte.
Denn alles lief auf eine Erkenntnis heraus, die mir mehr Angst machte als die Möglichkeit, verrückt zu werden. Sie änderte mein Weltbild und zerrüttete meinen Glauben an das System.
»Gemma. Was ist eigentlich los?« Oliver ging vor mir in die Hocke, ich spürte seine Hand an meinem Knie.
»Mir ist übel.« Der Blutgeruch ließ langsam wieder nach und ich blinzelte die Tränen fort, die sich in meinen brennenden Augen gesammelt hatten.
»Was hast du als Letztes gegessen?«, fragte Oliver mich in fachmännischem Ton und ich brachte meine Gedanken mit Zwang dazu, mich zu erinnern. Zu Mittag hatte ich einen Wrap gehabt, den ich allerdings nicht angerührt hatte. Und davor?
»Ich habe heute noch gar nichts gegessen«, murmelte ich und horchte in mich hinein, spürte aber auch kein Hungergefühl. Nur die Kälte, die zurückkam und sich in meinem Bauch einnistete.
»Na, dann werde ich dich wohl zum Essen ausführen müssen«, behauptete Oliver und erhob sich mit einem erschöpften Ächzen aus der Hocke. »Nachdem wir dir eine Schiene verpasst haben.«
Die Wundsalbe war kalt und die Schiene unangenehm. Aber da musste ich jetzt durch. Benjamin wünschte mir noch gute Besserung, nachdem er sich mit einem Handschlag von Oliver verabschiedet hatte.
Der Weg zu den Aufzügen war nicht sehr weit und auch die Cafeteria war schnell erreicht. Oliver bestand darauf, mir eine Portion Kartoffelpüree mit Spinat und Grünkernbratlingen zu kaufen, und ich ließ ihn, weil ich keine Kraft hatte, ihm das auszureden.
Mein Kopf war mit der Tatsache beschäftigt, dass ein Unfall in meinem Leben existierte, an den ich mich nicht wirklich erinnerte. Demnach hatte ich ihn wohl vergessen.
Es war nichts Ungewöhnliches fürs Gehirn, auch mal etwas zu vergessen, vor allem, wenn es so was Krasses wie ein Zusammenstoß mit einem Lastwagen war.
Doch selbst wenn ich mich nicht daran erinnerte, würden es doch andere tun, oder nicht? Aber niemand hatte mich je darauf angesprochen oder ihn erwähnt.
Die Kälte wurde noch stärker, als mir meine Mutter einfiel. Am Tag meines Umzugs. Sie hatte einen Anfall gehabt und geschrien, ich wäre von einem Lastwagen überfahren worden. Sie hatte es gewusst. Zumindest in diesem einen Moment.
Wo waren unsere Erinnerungen hin? War es möglich, dass man sie gelöscht hatte? Denn eine natürliche Massenamnesie war wohl eher unwahrscheinlich.
Aber ich hatte auch noch nie von einem Fall gehört, dass Gedanken und Erinnerungen tatsächlich komplett gelöscht wurden. Gerastert, ja. Millisekunden zu löschen merkte kein Mensch. Aber einen ganzen Unfall zu entfernen?
Umständlich zog ich den Kapuzenpullover enger um meinen Oberkörper, was mit der Schiene an der Hand nicht so einfach war.
Oliver und ich setzten uns an einen Tisch nahe der Fensterfront, wo die Sonne warm auf mich schien, und ich stocherte in meinem Essen herum, ohne es wahrzunehmen.
»Ich geh mir ein Stück Kuchen holen. Willst du auch?«, fragte Oliver mich und ich nickte automatisch, auch wenn ich nicht mehr wusste, was er mich gefragt hatte.
»Und einen Kaffee wohl besser auch«, fügte er murmelnd hinzu und ging.
Im Kopf spulte ich all die seltsamen Ereignisse der letzten Zeit durch. Das Buch in meiner Wohnung. Was, wenn es tatsächlich von mir stammte? Wenn alles wahr war, was darin stand? Dann wäre nicht nur der Unfall, sondern gleich ein halbes Jahr gelöscht worden.
Laut der Aufzeichnungen war ich nämlich am Anfang meiner Ausbildung ausgezogen. Wenn ich das vergessen hatte und es aus irgendeinem Grund rückgängig gemacht worden war, erklärte das, warum ich nie einen richtigen Anlass gehabt hatte, noch zu Hause zu sein. Denn ich war bereits ausgezogen.
Also müsste man Vikas Erinnerungen auch gelöscht haben. Und Papas und Mamas auch. Vor allem Mamas.
Meine Gedanken rasten immer schneller, versuchten immer mehr Verknüpfungen zu finden. Meine irrationale Angst zu vergessen beispielsweise, die somit gar nicht mehr so irrational schien.
Und Ezra. Ach du meine Güte! Wenn mir tatsächlich Erinnerungen fehlten, dann waren wir keine Verrückten, sondern hatten uns wirklich gekannt. Und es beide vergessen.
Hätte ich die Brüche auf dem CT-Bild nicht mit eigenen Augen gesehen, ich würde diese Theorie niemals für wahr halten. Schließlich hätte ich ja merken müssen, dass mir ein halbes Jahr fehlte, oder etwa nicht?
Wie gut, dass ich einen Mediziner an meiner Seite hatte, dem ich vertraute.
»Oliver?«, sprach ich ihn an, als er zurück an den Tisch kam, und er sah mich überrascht an, so als hätte er nicht damit gerechnet, dass ich heute noch etwas sagen würde.
»Willst du mir erzählen, was los ist, Gemma? Das war ein richtiger Zusammenbruch gerade. Zwischendurch hattest du Anzeichen von einem leichten Schock«, kam er mir zuvor und ich ließ die Gabel sinken.
»Ist grad ein bisschen kompliziert«, gab ich schwammig von mir, weil ich eigentlich nicht direkt über mich reden wollte. In meinem Kopf war alles verwirrend genug, ich musste erst einmal alles ordnen, nach mehr Antworten suchen, bevor ich damit rausrücken konnte. Außerdem wusste ich ja auch nicht, mit wem ich überhaupt darüber reden konnte. In was würde ich die Person mit reinziehen? Denn so richtig legal konnte es nicht sein.
»Wegen deiner Mutter?«, wollte er wissen und ließ mich nicht aus den Augen, was wohl daran lag, dass es eine sehr untypische Situation für uns war.
Fahrig rieb ich mir mit der Linken übers Gesicht und strich mir verknotete Haarsträhnen nach hinten.
»Unter anderem«, sagte ich und machte eine winzige Kunstpause, ehe ich mit meiner ersten Frage rausrückte. »Stell dir mal vor, du wachst morgens auf und hast das letzte halbe Jahr vergessen. Würde dir das auffallen?«
Oliver schnaubte überrascht. »Okay, krasser Themawechsel, Honey. Aber wie immer du es wünschst.«
Wahrscheinlich hielt er es für eine Ablenkung, die mich auf andere Gedanken bringen würde, und ich klärte ihn auch nicht auf. Nachdenklich kratzte er sich an der Stirn. »Also ja, definitiv würde ich das merken.«
»Würde man da nicht den letzten Tag, an den man sich erinnert, nur als gestern empfinden und es würde einfach so weitergehen?«, gab ich meine Gedanken dazu ab und Oliver schüttelte den Kopf, während er ein Stück vom Kuchen auf die Gabel spießte.
Es war ein ziemlich großes Stück mit Schokolade und Mandelsplittern. Ich kommentierte das lediglich durch ein Zucken mit den Augenbrauen. Da hatte wohl jemand auch die Cafeteria-Frauen bezirzt.
»Nein. Mal davon abgesehen, dass die Jahreszeit nicht stimmen würde, wäre der letzte Tag trotzdem nicht gestern. Das Gehirn erinnert sich an einen Tag vor so einer Zeitspanne doch nicht besser, nur weil der Rest fehlt. Es wäre immer noch lange her und das würde man merken.«
Das leuchtete mir ein, brachte mich jedoch nicht von meiner neuen Erkenntnis ab. Denn dass ich vergessen hatte, war bisher das einzig Logische, was mir dazu einfiel.
Also wie konnte es sein, dass ich keine Unterbrechung in meinem Gedächtnis hatte?
»Und wenn man das mit einem AIC-Gerät gemacht hätte? Was würde dann passieren? Wäre da ein schwarzes Loch in der Erinnerung oder könnte das Gehirn die Lücken auch mit irgendwas füllen?«, wollte ich wissen und mischte Kartoffelpüree und Spinat zu einem bunten Brei zusammen, ehe ich mir eine Gabel voll in den Mund schob. Zum Glück war ich Linkshänderin, sonst wäre ich mit meiner Schiene ganz schön aufgeschmissen gewesen.
»Ein halbes Jahr rastern? Das wäre heftig.«
»Nicht rastern. Komplett löschen«, widersprach ich. Wäre es gerastert worden, könnte ich mich ja schließlich noch an alles erinnern. Daran, dass ich schon einmal ausgezogen war, Bücher versteckt hatte und ein Mann namens Ezra mir so wichtig geworden war, dass ich ihn auf meine Liste der wichtigsten Personen schrieb.
Oliver gab einen spöttischen Laut von sich. »Das wäre der Overkill. Das ist nicht umsonst verboten. Das würde krasse geistige Schäden hervorrufen. Schatten und so weiter«, nuschelte er mit vollem Mund und tippte sich mit dem Finger an die Stirn.
»Schatten«, wiederholte ich das Wort, das mich an etwas erinnerte. Wir hatten in der Ausbildung einmal darüber gesprochen. Schattenerscheinungen hatten wir nur am Rande durchgenommen, da es für uns als Techniker nicht weiter wichtig war. Irgendetwas mit dem Unterbewusstsein. Jedoch war mein Kopf zu wirr, um es richtig wiederzugeben.
»Das Gedankenauslesegerät greift ja nur aufs Kurz- und Langzeitgedächtnis zu. Dort wird auch gerastert. Oder würde gelöscht werden, wenn man so was machen würde. Aber das weißt du ja selbst«, winkte Oliver ab.
»Ist viel zu lange her. Erzähl’s mir ruhig noch mal«, bat ich ihn. Ich musste jetzt einfach alle Fakten gesammelt von jemandem zu hören bekommen, ohne mir selbst den Kopf zerbrechen zu müssen. Ich war schließlich Technikerin und kein Gehirnforscher.
»Na gut. Aber nur, wenn du auch isst.« Unauffällig schob er mir die Tasse hin, die er mitgebracht hatte, und mir stieg der Geruch von starkem Kaffee in die Nase.
Dieser Mann wusste genau, wann ich Koffein nötig hatte. Ich nahm die Tasse zwischen die klammen Finger und trank einen kräftigen Schluck. Er war noch einen klein wenig zu heiß, aber ich genoss das Gefühl, wie er mir von innen den Bauch wärmte.
»Also gut. Das Gehirn besteht aus mehr als nur dem Gedächtnis«, fuhr Oliver mit seinen Erklärungen fort und ich biss brav von einem Bratling ab. »Die Amygdala ist für das Bewerten von Eindrücken zuständig und wird ausgelesen, aber beim Rastern nicht beschnitten. Und das Unterbewusstsein ist sowieso ein Buch mit sieben Siegeln. Das macht man nicht auf und da entfernt man auch nichts, wenn man keine Psychokiller produzieren will.«
Mit seinem langen Arm griff Oliver einmal über den Tisch und klaute sich die Kaffeetasse zurück, um selbst einen Schluck zu trinken.
Einen Moment wollte ich es ihm verbieten und meinen Kaffee verteidigen wie eine Löwin seine Jungen. Aber schließlich hatte er ihn bezahlt und ich wollte mich nicht noch stärker als Kaffeejunkie outen. Ich stand heute auch so schon verrückt genug da.
»Wenn man also wirklich was löschen würde, wäre das im Unterbewusstsein ja trotzdem noch vorhanden. Wir können nicht aktiv drauf zugreifen, aber es muss ja trotzdem verarbeitet werden. Gedankenfetzen würden immer wieder hochkommen, wenn die durch Situationen, Orte oder Personen angesprochen werden. Sogar Gerüche und Geräusche reichen da aus. Aber ohne Erinnerungen an das dazugehörige Ereignis sind sie nur verrückte Erscheinungen.«
Das machte mich hellhörig. Denn verrückte Erscheinungen hatte ich ja in Hülle und Fülle. »Und was würde da zum Beispiel passieren?«, frage ich viel zu neugierig und schielte in die Kaffeetasse, um zu sehen, wie viel noch da war.
»Du, das wurde nie getestet. Da gibt es keine Studien zu. Nur Simulationen.«
»Und theoretisch?«, blieb ich dran und blickte noch offensichtlicher auf die Tasse.
Oliver verstand erfreulicherweise und schob sie mir wieder rüber, ohne dass ich ihn anbetteln musste.
»Hm … Was könnte passieren?«, sinnierte er und schob sich wieder etwas Kuchen in den Mund. »Träume wären ein krasses Phänomen, kann ich mir vorstellen. Innere Unruhen, weil der Kopf ja merkt, dass was fehlt. Flashbacks, wenn man durch irgendwas getriggert wird. Realitätsverlust. Sich wiederholende Gedankengänge, die keinen Sinn ergeben. Schlussendlich würde es wie Wahnsinn aussehen, denke ich.«
Ich biss mir auf die Unterlippe und wünschte mir, es würde nicht alles so verdammt gut zusammenpassen. Denn jede dieser Schattenerscheinungen traf auf meine Mutter und sogar auf mich zu.
Doch wie konnte das passiert sein? Schließlich gingen wir regelmäßig zu unseren Kontrollen. Jemandem müsste es doch aufgefallen sein. Selbst eine Verschwörung, wenn es denn eine solche gab, hätte ihre Grenzen.
»Aber das würde man dann doch bei der Gedankenauslese sehen, oder?«, warf ich ein.
Oliver stützte sein Kinn in die Hand. »Das ist eine interessante Frage, die ich dir nicht beantworten kann. Da die ganze Sache aus dem Unterbewusstsein kommt und daher nur so halb wahrgenommen wird, könnte es gut sein, dass es nicht drauf wäre.«
»Also hätte man total wirre Anfälle, die sich keiner erklären kann.«
Es passte alles so unglaublich gut. Bis auf die Tatsache, dass ich keine Gedächtnislücke besaß. Damit konnte Oliver mir wohl eher nicht helfen.
Aber ich hatte ein Buch in meiner Wohnung, das mir dabei nützlich sein würde. Wenn ich länger als fünf Minuten darin lesen könnte. Ach, es war doch zum Haareraufen.
Oliver nickte, doch seine Bewegungen wurden langsamer und schlussendlich wanderte sein Blick von seinem Kuchen zurück zu mir.
»Wir reden von deiner Mutter«, stellte er fest und ich hatte gehofft, dass er diesen Schluss nicht ziehen würde.
»Ja«, bestätigte ich, weil es sinnlos war, es zu leugnen. Fahrig rührte ich wieder in der Pampe auf meinem Teller herum, die langsam unansehnlich wurde.
»Aber Gemma. Niemand löscht Erinnerungen! So was passiert einfach nicht.« Olivers Blick wurde eindringlicher.
Am liebsten hätte ich ihm um die Ohren gehauen, dass er das gar nicht wissen konnte und dass ich mit der gleichen Gewissheit noch vor einer halben Stunde behauptet hätte, mir nie zuvor etwas gebrochen zu haben.
Doch ich sagte es nicht, schluckte meine unwilligen Gefühle runter und nickte nur unterwürfig. »Vielleicht hast du recht. Ich bin gerade nur echt durch den Wind«, tat ich so, als wäre es nur eine verrückte Theorie gewesen. Dabei war ich mir ziemlich sicher, dass es so war. Jemand löschte Erinnerungen! Bei mir, bei meiner Mama. Wahrscheinlich bei allen Leuten, mit denen ich in diesem verlorenen halben Jahr zu tun gehabt hatte. Einschließlich Oliver. Denn wie ich ihn kennengelernt hatte, wollte mir beim besten Willen nicht einfallen. Wir hatten uns einfach gekannt, uns in der Mensa zusammengesetzt, oft mit Jessy und Olivers Medizinkumpel Ben und Ludwig.
»Sag mal, Oliver. Beim ersten Mal, als wir uns gesehen haben, was hast du da über mich gedacht?«, stellte ich meine scheinbar zusammenhangslose Frage und Oliver lachte auf. In seinem Mundwinkel erschien ein freches Grinsen, und er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, um mich aus schmalen Augen von oben herab zu betrachten.
»Und sag was Nettes, ich brauche Aufmunterung«, fügte ich scheinheilig hinzu und zog eine Schnute.
»Ganz ehrlich? Ich dachte, dass du eine verdammt spontane Schauspielerin bist«, sagte er und ich fühlte mich ertappt. »Du hast mir damals echt den Arsch gerettet. Das Mädel war schon nach einer Nacht so weit, sich meinen Namen auf den Arsch zu tätowieren. Das war ein echter Fehlgriff. Ich dachte an Spaß und sie hatte schon die ›feste Beziehung‹-Angel ausgeworfen. Hui«, machte er und kam in richtige Erzählerlaune. Sollte er nur, so konnte ich nebenher seinen Kaffee austrinken.
»Ich kann mich nicht mal erinnern, wie sie hieß, aber sie stand plötzlich hinter mir und ich habe mich einfach neben das nächste Mädchen gesetzt, das ich in der halb leeren Mensa finden konnte. Zufall, dass es du warst.
Okay, halb Zufall. Vor dir saß noch eine mit operierter Nase. Die wollte ich auf keinen Fall einspannen.«
Er hatte die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt, aber ich konnte mir auch so schon vorstellen, wie sie ausging. Ich kannte ihn und ich kannte mich. Und es war nicht das letzte Mal gewesen, dass er mich als Alibifreundin benutzt hatte, um alte Liebschaften loszuwerden.
Aber ich hatte nicht gewusst, dass wir uns so kennengelernt hatten. Das musste wirklich ein cooler Moment gewesen sein. Aber erinnern konnte ich mich kein bisschen daran.
»Ich hätte keine bessere Wahl treffen können«, sagte er und ich fühlte mich geschmeichelt. »Du warst so genial als Fake-Freundin, selbst ich hätte dir geglaubt. Und ich wusste sofort, dass ich dich unbedingt behalten muss.«
Ich lächelte und das war ein gutes Gefühl, weil es mich kurz vergessen ließ, dass gerade alles kopfüber stand.
Widerwillig aß ich noch ein paar Happen Pampe von meinem Teller und Oliver verputzte das restliche Kuchenstück, da klingelte ein Handy.
Sofort drehte ich mich nach meiner Handtasche um, die ich jedoch im Krankenzimmer meiner Mutter gelassen hatte, und sah dann, wie mein Gegenüber sein Telefon aus der Hosentasche zog.
»Doktor Grand«, meldete er sich, sodass ich gleich wusste, dass es sich um etwas Geschäftliches handelte. Oliver nickte ein paarmal und fragte dann einige Dinge, die aus lauter Fachbegriffen bestanden.
»Gemma. Ich müsste los«, kündigte er mir an, als er aufgelegt hatte. »Aber wenn du mich hier brauchst, dann …«
»Nein, Quatsch. Geh nur. Ich komm hier allein klar. Mein Vater ist sicher auch bald hier«, unterbrach ich ihn sofort. Auf keinen Fall wollte ich ihn hier festhalten. Außerdem hatte ich meinen schlimmsten Tiefpunkt schon hinter mir. Hoffte ich zumindest.
»Ist gut, melde dich, wenn du was brauchst«, bot er mir an und erhob sich von seinem Stuhl. Sein Blick fiel auf die leere Tasse. »Oder mehr Kaffee nötig ist.«
Ich lächelte verschmitzt. »Vielleicht dann unter ausgelasseneren Umständen, hm?«, machte ich ein Witzchen, damit er auch wirklich wusste, dass es mir schon besser ging, und er stützte die Hände auf die Tischplatte, um sich zu mir vorzubeugen.
»Ausgelassen? Wir können den Kaffee auch streichen und tanzen gehen.« Der Schalk sprang in seinen Augen und ich spürte die Herausforderung über meine Haut prickeln.
»Tanzen? Mit der Hand?«, fragte ich divenhaft, als wäre es völlig abwegig, dass ich mich mit einer Schiene irgendwo blicken ließe.
»Ach Babe, eine Schönheit wie dich kann nichts entstellen.«
Lauter als gewollt lachte ich auf, weil dieser Spruch so unglaublich typisch für Oliver war.
»Wie könnte ich da noch Nein sagen?« Übertrieben wedelte ich mir mit der gesunden Hand Luft zu und er schien sichtlich zufrieden mit meiner Stimmungsaufheiterung zu sein.
»Ich ruf dich an.« Er zwinkerte mir verschmitzt zu, schob das Smartphone in seine Hosentasche und setzte seine Schritte in Richtung Ausgang.
Ich schüttelte den Kopf über ihn. »Du hast doch meine Nummer gar nicht«, rief ich ihm hinterher, doch er winkte nur lachend ab.
»Das wäre sonst ja viel zu einfach!« Und dann war er aus der Tür raus.
Es dauerte keine dreißig Sekunden, bis mein kurzzeitiges Hochgefühl wieder in sich zusammensackte und ich zurück auf den Boden der Tatsachen plumpste.
Ich konnte einfach nicht fassen, dass ich gerade quasi im Alleingang herausgefunden hatte, was meiner Mutter fehlte. Und was mir in letzter Zeit das Leben ganz schön merkwürdig gemacht hatte.
Es war angsteinflößend, darüber nachzudenken, dass man mir tatsächlich Erinnerungen gelöscht hatte. Aber andererseits hätte es auch etwas Beruhigendes, falls es wirklich so war, weil ich zumindest die erste Unsicherheit als geklärt betrachtete. Doch ob nun Verschwörung oder Missverständnis, ich spürte, dass ich in die richtige Richtung strebte, und wenn ich mich anstrengte, fand ich vielleicht auch den Grund für das alles.
Denn bisher wusste ich lediglich, dass mir etwas gelöscht wurde, jedoch nicht wieso. War es tatsächlich wegen des Unfalls? Wenn der für mich so schlimm gewesen wäre, hätten sie ihn doch gerastert und nicht gelöscht. Und warum er dann auch gleich bei allen anderen entfernt worden war, ergab noch weniger Sinn. Das stank ja geradezu nach Verschwörung.
Doch wer konnte dahinterstecken?
Logischerweise gingen meine ersten Gedanken zu Biolog Medical, den Entwicklern. Aber sie waren schließlich nicht die einzigen Benutzer.
Die Behörden hatten auch Auslesegeräte für Verhöre und das Aufnehmen von Zeugenaussagen. Dann gab es da noch einige lizensierte Privatpraxen. Und den illegalen Handel durfte man ja auch nicht vergessen.
Biolog Medical behauptete öffentlich, dass die Mafia solche Geräte unmöglich besitzen konnte. Aber wenn wir mal ehrlich waren, wussten wir alle, dass Kriminelle vor Diebstahl nicht zurückschrecken würden. In Filmen hatte das organisierte Verbrechen so was immer.
Unwillig, noch einen Bissen zu essen, jetzt, da Oliver mich nicht mehr beobachtete, schob ich das Tablett weit von mir weg. Ich verschränkte die Arme auf der Tischplatte und bettete meinen Kopf darauf.
Dieser Tag war anders verlaufen als erwartet und die Müdigkeit kroch mir in die Glieder, jetzt, wo alle Aufregung abflachte und das Adrenalin mich ohne genügend Koffein im Blut zurückließ. Vielleicht waren es auch die Schmerzhemmer in der Salbe, die mich runterzogen.
Ich gähnte herzhaft in meine Armbeuge und beschloss, nur eben die Augen zu schließen, um anschließend zu meiner Mutter ins Zimmer zurückzukehren.
Die Sonne schien mir aufs Gesicht, wärmte meine Haut und streichelte mir übers Haar. Sanft drückte sie mir einen Kuss auf die Schläfe und zupfte an Joris’ Pullover.
Scheppernd fiel irgendwo Besteck zu Boden und riss mich aus dem Halbschlaf. Ich war eingenickt. Mist.
Desorientiert und noch ein bisschen wackelig auf den Beinen stand ich von meinem Stuhl auf. Ich konnte schließlich nicht ewig in der Cafeteria herumhängen. Nicht dass Papa sich auch noch Sorgen um mich machte.
Ich versuchte mir die Hände gegen die Wangen zu klatschen, um mich selbst zu wecken. Doch mit der Schiene an der Hand war das nicht so einfach.
Langsam machte ich mich auf den Weg nach oben und gähnte noch einmal, während ich auf den Fahrstuhl wartete. Meine Hände fanden ihren Weg von ganz allein in die Taschen des Pullovers und es brauchte nur einen kleinen Moment, bis ich bemerkte, dass etwas nicht mehr so war wie vorhin. Meine Fingerspitzen ertasteten Papier und ich zog es verwundert aus der Tasche heraus.
Schockiert starrte ich auf den hellgrünen Origamivogel in meiner Hand und konnte mir nicht erklären, wo er hergekommen war.
Wann hatte man ihn mir zugesteckt? Als ich eingenickt war? Vorher schon?
Umständlich entfaltete ich das Papier, um es von beiden Seiten zu betrachten. Die eine war leer. Auf der anderen stand in krakeliger Handschrift ein einzelnes Wort geschrieben: Hoffnung.