Читать книгу Gemmas Gedanken - Lin Rina - Страница 14

Umzug

Оглавление

Ich hatte die Nacht vor Aufregung kaum bis gar nicht geschlafen. Ein bisschen lag es auch an der unbequemen Couch und daran, dass mein Zimmer sich nicht mehr wie mein Zimmer anfühlte.

Doch heute war der große Tag, einer von vielen großen Tagen der nächsten Zeit, und ich war die Erste, die am Morgen in der Küche stand und Kaffee für alle kochte, bevor ich loszog, um Brötchen beim Bäcker die Straße runter zu kaufen.

Ich war so voller Tatendrang, dass ich schier platzte. Nicht mal einen Kaffee brauchte ich, um in Schwung zu kommen, und das war in der letzten Zeit wirklich eine Seltenheit.

Joris stand Punkt neun Uhr vor der Tür und verschlang erst einmal die Hälfte aller Brötchen, zusammen mit einem ganzen Glas Marmelade.

Für uns war das okay. Mama war bei ihrer ersten Tasse Kaffee und noch ein Geist, Papa ließ sich von mir ein Brötchen belegen, das er mitnahm, als er losging, den Transporter abzuholen, und ich war viel zu hibbelig, um zu essen.

Danach ging es so richtig los. Kisten wurden geschleppt, Schrankteile nach unten transportiert und als es daranging, meine alte Vollholzkommode nach unten zu bekommen, holte Papa sich Hilfe von unserem Nachbarn Herr Leonell und seinem Sohn Sharoon. Obwohl der Junge erst fünfzehn war, hatte er Muskeln wie ein Minotaurus, sodass Joris ihm nur mit riesigen Augen hinterherstarren konnte, als er ihm die Bücherkiste aus den Händen nahm und davontrug, als wären nur Kissen darin.

Zum Glück war Vika noch nicht hier, sonst hätte sich der arme Kerl in Grund und Boden geschämt. Ich klopfte Joris aufmunternd auf die Schulter und ließ ihn mir später einen Koffer voller Schuhe abnehmen, während ich so tat, als wäre er mir viel zu schwer, um sein Ego zu pushen. Und Joris war auch so einfach gestrickt, dass es wirklich funktionierte.

Gegen halb zwölf war der Transporter rappelvoll und die letzten paar Kisten wanderten mit uns zusammen in Mamas Auto. Die Fahrt war ungemütlich und abenteuerlich und schlug Joris mehr auf den Magen, als er zugeben wollte.

Als Mama das Auto vor dem Gebäudekomplex parkte, in dem ich in Zukunft wohnen würde, war ich so von Gefühlen überwältigt, dass ich erst einmal nur dastehen und am Gebäude hochblicken konnte.

Es war ein L-förmiges Hochhaus mit etlichen holzverkleideten Balkonen, die größtenteils bewohnt aussahen. Überall ragten Grünpflanzen über die Geländer, Blumenkästen waren gefüllt mit Blüten und Kräutern und die eine oder andere Lichterkette ließ alles wie einen hellen fröhlichen Ort erscheinen.

Ich war nicht zum ersten Mal hier, da ich ja ständig bei Vika rumhing. Doch heute war es anders. Heute würde es auch mein neues Zuhause werden.

»Huhu!«, rief eine Stimme von oben und ich suchte mit den Augen die Häuserfront ab.

Im vierten Stockwerk lehnte Vika am Geländer eines Balkons, der im Gegensatz zu den anderen nackt wirkte. Nur die helle Holzverkleidung, die schmiedeeisernen Streben und die leeren Blumenkästen waren vorhanden.

Mein Balkon.

Meinen Schlüssel hatte ich Vika gestern vorbeigebracht, damit sie schon mal lüftete, da Papa letztes Wochenende alles einheitlich gestrichen hatte und die Zimmer immer noch nach Farbe rochen.

»Wir haben eine Überraschung für dich, Schatz!«, brüllte sie über den ganzen Platz hinweg und es störte sie kein Stück, dass sich alle Leute in der Umgebung nach ihr umdrehten.

Ich schnappte mir die Kiste mit meinen Sukkulenten, die während der Fahrt auf meinem Schoß gestanden hatte, und lief einmal um das Auto herum.

»Hausabschnitt B, vierter Stock, Zimmer dreizehn«, sagte ich zu Joris, der ans Auto gestützt dastand und erst mal nichts anderes tun konnte, als die Übelkeit wegzuatmen. Ich strich ihm aufmunternd über den Rücken und er hob nur die Hand, dass er verstanden hatte.

Mama blieb im Auto. Sie wollte ohnehin auf Papa warten. Vorhin hatte sie sich von meiner Freude und Aufregung anstecken lassen, doch ich wusste, dass sie mich eigentlich nur widerwillig gehen ließ. So musste das ja auch irgendwie sein. Die Kinder wurden flügge und die Eltern zeigten ihre Liebe dadurch, darüber traurig zu sein.

Ich beugte mich durchs Autofenster und drückte meiner Mutter einen Kuss auf die Wange. »Ich geh schon mal hoch.«

»Ist gut. Ich habe solange ein Auge auf den Seekranken«, machte sie ihre Witzchen und lächelte.

Ich grinste zurück. »Vielleicht hätte er nicht das ganze Glas Marmelade essen sollen.«

Joris stöhnte gequält auf und wir mussten uns das Lachen verkneifen.

»Bis gleich«, sagte ich und lief die wenigen Meter bis zur dunklen Glastür. Ich läutete bei meiner eigenen Klingel, an der in Vikas geschwungener Schrift mein Nachname stand. Schon allein darüber freute ich mich wie irre.

Vika drückte oben den Summer, ließ mich rein und ich konnte es kaum erwarten, dass der Lift mich in den vierten Stock hochbrachte. Ein Gefühl von Freiheit durchströmte mich und ließ mich glauben, alles erreichen zu können.

Vika hatte die ganze Zeit recht gehabt: Ich hätte schon längst ausziehen sollen.

Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich und Vika fiel mir quietschend um den Hals. Beinahe wäre mir der Karton mit den Sukkulenten aus den Händen gefallen. Doch das störte mich heute nicht und ich stimmte in den hohen Freudenschrei mit ein wie ein durchgeknalltes Teeniemädchen.

Vielleicht lag auch die Pubertät noch nicht so weit hinter uns, wie wir uns manchmal gern einbildeten.

»Wir haben was gemacht und ich hoffe sooo sehr, es gefällt dir«, brabbelte Vika in mein Haar und ich löste mich langsam von ihr.

»Solange ihr nicht die Stühle an die Decke genagelt habt«, lachte ich und wir gingen den Flur entlang.

Meine Wohnungstür stand sperrangelweit offen und der Türrahmen war mit bunt bemalten Zeitungspapier-Pompons geschmückt.

»Wer ist eigentlich wir?«, wollte ich wissen und in dem Moment lugte ein schmales Gesicht verstohlen aus der Tür.

Es war Dani. Ich erkannte sie sofort an dem blonden Bubikopf, noch bevor ich sie ganz vor mir hatte.

Dani gehörte die Wohnung direkt neben meiner, und Vika und sie hatten sich vor Kurzem im Lift kennengelernt. Anscheinend war es Freundschaft auf den ersten Blick, denn seit dem Zeitpunkt erzählte sie mir ständig von ihr.

»Dani und ich. Wir saßen die halbe Nacht dran«, erzählte Vika mir und schob mich durch die Tür in meine neue Wohnung.

Sie war spiegelverkehrt zu der von Vika, die auf der anderen Seite des Flures wohnte.

Mein Vater hatte die Wände in einem sanften Cremeton gestrichen, der zu den mattbraunen Schränken der Kochnische passte, die noch ganz kahl und leer aussah. Ich stellte den Sukkulentenkarton auf dem Tresen ab.

Vika führte mich durch den nach hinten gezogenen Wohnbereich ins Schlafzimmer und sprang dann plötzlich wie eine Konfettikanone vor mich. »Überraschung!«, rief sie und Dani hinter mir kicherte nervös.

Erstaunt riss ich die Augen auf und betrat langsam das Zimmer. Die lange Wand, an der wir vorhatten, mein Bett zu stellen, war dunkel. Auberginelila, an manchen Stellen noch leicht feucht, mit einem großen Symbol in der Mitte, bei dem sie die Farbe ausgespart hatten und darunter das Creme zu sehen war.

Ein Pfeil, der einen Kreis beschrieb und durch zwei parallele Pfeile durchbrochen wurde. Es war das Symbol, das ich gestern auf den Notizblock in der Küche gekritzelt hatte.

Ich musste es nur sehen und bekam gleich ein warmes Gefühl im Bauch, als gehörte es auf eine Weise zu mir, die ich noch ergründen musste.

»Und? Gefällt es dir?«, wollte Vika vorsichtig wissen und nahm meine Hand. Ihre Armreifen streiften mein Handgelenk und klimperten dabei. »Ich weiß, die Farbe ist krass dunkel und du hast eigentlich was von Hellbraun geschrieben. Aber sie passt so gut zu dir. Und im Schlafzimmer ist das ja vielleicht eh gut, es etwas dunkler zu haben.«

Ich schenkte Vika ein Lächeln, das mir aus dem Herzen aufstieg, weil ich ernsthaft überwältigt war. »Es ist perfekt, Vika. Danke«, sagte ich zu ihr und sie atmete erleichtert auf.

»Oh, zum Glück. Es war echt so eine Spontanidee von mir, als du mir gestern früh wegen der Farbe geschrieben hast. Aber die eigentliche Arbeit hat auch Dani gemacht. Die ist da viel begabter als ich.«

Ich drehte mich zu Dani um, die mit hochgezogenen Schultern im leeren Wohnzimmer stand, die Hände in den Hosentaschen ihrer beigen Chinohose, das hellgelbe Strickjäckchen bis oben hin zugeknöpft.

»Danke, Dani. Ihr habt das echt irre gut gemacht«, bedankte ich mich auch bei ihr und ihr Lächeln ging fast bis zu den Ohren, während ihre Wangen rosig glühten.

»Willkommen im eigenen Zuhause«, sagte sie schüchtern und ich wusste gleich, dass ich sie auch mögen würde.

Vika legte stolz einen Arm um sie. Der Größenunterschied zwischen den beiden war schon fast skurril, da meine beste Freundin etwa um die eins achtzig groß war und Dani vielleicht Schuhgröße sechsunddreißig haben konnte.

»Oh, wow. Deine Wohnung sieht echt genauso aus wie meine«, hörte ich Joris von der Eingangstür aus und er stellte ächzend einen Karton aus dem Auto auf dem Holzboden ab.

»Hey, Vika. Was geht?«, grüßte er sie und seine lockere Art war so aufgesetzt, dass ich mit den Augen rollte.

»Schön, dich zu sehen«, sagte Vika. »Er wohnt drüben in Abschnitt D«, erklärte sie für Dani und ich kam auf Joris zu, um zu sehen, was ich auf den Karton geschrieben hatte.

Keine Minute später tauchte auch Papa auf und brachte die ersten Teile für den Kleiderschrank mit, den er später mit Vika zusammen im Schlafzimmer aufstellte.

Joris schleppte mit mir Kisten, bis mir der Rücken wehtat und ich mich darauf verlegte, die Küche einzuräumen.

Dani blieb und half, wo sie konnte, hängte die Vorhänge auf, assistierte Vika dabei, einen eingerahmten Schaltplan über der Couch zu platzieren, sortierte die Schubladen wieder in die Kommoden und schob meine Pflanzenkübel auf dem Balkon umher. Ich hatte die leise Vermutung, dass sie sich sehr darum bemühte, sich mit mir anzufreunden. Was mir entgegenkam. Vikas Freunde waren meistens auch meine Freunde. Das war gar nicht anders möglich bei einer Energiebombe wie ihr, die immer mit ganzem Herzen dabei war.

Es war fast schon halb drei, als mir aufging, dass Mama fehlte. Sie war überhaupt nicht hochgekommen und ich machte mir sofort Sorgen um sie.

»Paps?«, sprach ich ihn an, während er gerade dabei war, meinen Lattenrost im Bett festzumachen. »Ist Mama wieder heimgefahren?«

Papa ließ seufzend den Akkubohrer sinken. »Ja.« Der Ausdruck in seinem Gesicht wurde sorgenvoll. Ich hatte also recht gehabt. Irgendwas war mit Mama nicht in Ordnung.

»Sie hatte draußen einen kleinen Zusammenbruch. Sie hat geweint, wirres Zeug behauptet und sich geweigert, das Gebäude zu betreten.«

»Und da hast du sie allein nach Hause fahren lassen?«, fragte ich schockiert und Papa schüttelte energisch den Kopf.

»Auf keinen Fall. Ich habe Tante Laura angerufen. Die hat sie abgeholt und heimgebracht«, erklärte er und ich setzte mich neben ihn auf den Boden.

Wir waren allein im Schlafzimmer, während die anderen im Wohnzimmer beschäftigt waren, wo die Stimmen gerade lauter wurden. Ich erkannte Lunas Lachen und Jessys kritische Töne.

»Gemma! Essen ist da!«, rief Vika laut genug, dass es das ganze Stockwerk gehört haben musste.

»Wir kommen gleich. Fangt schon mal an.« Ich wandte mich wieder an Papa, dessen Gesicht sich in Sorgenfalten legte.

Wir machten uns beide viele Gedanken um Mama. Es hatte bei ihr nur mit kleinen Sachen angefangen. Sie hatte mal vor Schreck ein Glas fallen lassen, obwohl nichts da war, was sie erschreckt haben konnte. Sie redete von Leuten, die wir nicht kannten, nur um später zu behaupten, nie davon gesprochen zu haben. Und es wurde schlimmer.

Bisher hatte uns kein Arzt helfen können. Selbst durch Gedankenauslese hatte man nicht feststellen können, um was für ein Problem es sich handelte. Laut des Scans war mit ihr alles in Ordnung.

»Was hat sie gesagt?«, erkundigte ich mich und Papa sah mich fragend an. »Mama. Was hat sie für wirres Zeug behauptet?«

Er verzog das Gesicht. »Ach Gem, das ist doch nicht wichtig.«

»Mir schon«, beharrte ich drauf und sah ihn auffordernd an.

Er gab sich geschlagen. »Sie hat gesagt, dass sie es nicht verkraften würde, wenn du an den Folgen eines Unfalls sterben solltest, der ihrer Meinung nach gerade stattgefunden hat. Ein Laster hätte dich überfahren. Sie hat mich angefleht, ich solle den Ärzten sagen, sie müssen dich unbedingt retten.«

Schockiert starrte ich Papa an und ein kalter Stein aus Angst lag mir auf der Brust. »Wie kommt sie auf so was?«

Obwohl ich die Frage doch eher rhetorisch gemeint hatte, zuckte Papa mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Aber ich fahre morgen noch mal mit ihr zum Spezialisten.«

»Mach das«, sagte ich. »Und ruf mich dann bitte an.«

»Auf jeden Fall.« Papa legte den Akkuschrauber beiseite und erhob sich ächzend vom Boden. »Und jetzt lass uns was essen. Ich bin am Verhungern«, schlug er einen fröhlichen Ton an und ich hörte ganz genau, dass er schauspielerte, um mich wieder auf bessere Gedanken zu bringen.

Luna und Jessy hatten selbst gemachtes Sushi mitgebracht. Gurke-Karotte, eingelegter Rettich und mein absoluter Liebling: Avocado. Obwohl ich gerade noch gedacht hatte, meine Stimmung wäre im Keller, brachten mich das Essen und die Blödeleien von Vika und Luna wieder auf Spur. Und als ich mich fühlte, als würde von all dem Sushi mein Bauch bald platzen, konnte ich auch schon wieder Witze reißen und mir mein kinnlanges Haar spaßhaft mit Stäbchen eindrehen.

Jessy und Dani schienen sich sogar von früher zu kennen und quatschten über alte Zeiten. Joris und Papa diskutierten ernsthaft darüber, ob es etwas Sinnvolles an sich hatte, Bücher nach Farben ins Regal zu sortieren, anstatt nach Thema. Und ich genoss es, einen neuen Lebensabschnitt von Freunden umgeben zu beginnen.

Gemmas Gedanken

Подняться наверх