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Zweiter Vogel

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Leise soulige Musik drang in mein Bewusstsein und ich dämmerte langsam aus dem Schlaf. Der Geruch von frischem Kaffee hing in der Luft und ich hörte Vika, die mit der Frau im Lied mitsang.

Ich schaffte es kaum, die Augen offen zu halten. Ich wälzte mich herum und versuchte nicht vom Sofa zu fallen, verlor dabei jedoch mein Kissen. Na toll.

Vika musste mein missmutiges Grummeln gehört haben, denn sie kam weiterhin singend zu mir herübergetanzt, schob einen Haufen Labyrinthe auf kleinen Zettelchen zur Seite und stellte mir eine heiße Tasse Kaffee auf den Couchtisch.

»Guten Morgen, Schatz«, begrüßte sie mich und ich verdeckte mein zerknautschtes Gesicht mit meinen Haaren, was mir bei der kurzen Länge gerade so gelang.

»Morgenmuffelig. Wow, das ist selten. Die Nacht muss ja richtig schlimm gewesen sein«, sagte sie fürsorglich und hob das Kissen vom Boden auf. »Trink dein Lebenselixier und spring unter die Dusche. Wir haben viel vor heute.« Sie tanzte zurück in die Küchennische, wo sie summend irgendwelche Sachen in meinen Vorratsschrank räumte und zwischendurch einen Schluck von ihrem Matcha Latte schlürfte.

Mühsam quälte ich mich in eine sitzende Position und schob mein Tablet zur Seite. Es war noch immer eingeschaltet, doch jemand hatte die Wiedergabe pausiert. Höchstwahrscheinlich Vika.

Mein Kopf tat weh und ein Stich fuhr mir in den Rücken, als ich mich zu dem Kaffee vorbeugte. Auf dem Sofa einzuschlafen entpuppte sich als schlechte Idee.

Doch letzte Nacht war ich zu sehr durch den Wind gewesen, um mich einfach schlafen zu legen.

Ich schob die Gedanken an das, was vorgefallen war, beiseite und konzentrierte mich auf den ersten Schluck Kaffee. Dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt.

Genauso wenig wie heute Nacht. Deshalb hatte ich über ein Dutzend Labyrinthe auf kleine Zettelchen gekritzelt, was nicht besonders gut geholfen hatte, da meine Gedanken sich schlecht fokussieren ließen. Also musste ich mir die erste Folge von Slow Thunder aus der Mediathek meines Tablets raussuchen und mich von dummen Dialogen und schlechten Special Effects berieseln lassen, bis meine Kaffeekanne leer getrunken und ich gegen Morgen in einen unruhigen Schlaf abgedriftet war.

Das musste erst wenige Stunden her sein. Ich rieb mir die brennenden Augen und führte die Tasse an die Lippen.

Oliver Grand hatte bei der Gedankenauslese schon sehr richtig festgestellt, dass ich viel zu viel Kaffee trank. Aber mit Koffein im Blut funktionierte ich besser.

»Wie bist du in die Wohnung gekommen?«, zwang ich meine schwere Zunge in Bewegung und Vika warf mir ein Lächeln zu.

»Ich habe mir deinen Schlüssel nachmachen lassen, als du den vorgestern bei mir gelassen hast«, erklärte sie und klang in keinster Weise schuldbewusst.

Kopfschüttelnd trank ich einen großen Schluck Kaffee, der genau die richtige Temperatur hatte. So heiß, dass man es kaum ertragen konnte, aber ohne sich zu verbrennen. Und er war stark. Vika war die Retterin meines Morgens. Auch wenn es sie gleichzeitig zur Einbrecherin machte.

»Ich dachte, für Notfälle wäre das ganz praktisch. An deinem Schlüsselbund ist auch einer von mir dran.«

Das war mir noch gar nicht aufgefallen.

»Und was für ein Notfall ist das heute?«, erkundigte ich mich und Vika stemmte kokett die eine Hand in die Taille.

»Das ist doch offensichtlich. Es ist ein Gemma-hat-bis-in-die-Puppen-Serien-gesuchtet-und-braucht-jetzt-ihre-beste-Freundin-für-gute-Laune-am-Morgen-Notfall«, sagte sie und trank im Takt der Musik wippend einen Schluck Matcha.

Wenn ich sie nicht so gut kennen würde, hätte ich mich jetzt gefragt, ob sie sich diesen Satz schon vorher ausgedacht hatte. Aber bei Vika kam so was immer spontan aus ihren irren Gehirnwindungen gesprungen.

»Alles klar«, murmelte ich und zog die Beine in den Schneidersitz.

»Was ist dir eigentlich an der Hand passiert?«, erkundigte sie sich und kam zu mir rüber aufs Sofa.

Ich drehte meine rechte Handfläche nach oben und starrte auf die rote Linie, die ich mit einer guten Portion Sprühpflaster fixiert hatte. In etwa zwei Tagen wäre alles wieder wie vorher und ich dankte im Stillen dem medizinischen Fortschritt.

»Hab mich geschnitten«, antwortete ich knapp und Vika verdrehte die Augen.

»Dir darf man echt keine scharfen Gegenstände in die Hand drücken.« Sie lachte und stupste mich mit der Schulter an.

Obwohl ich mit Vika über beinahe alles redete, hatte ich ihr von dieser Sache nie etwas erzählt. Meine geheimen Notizen verheimlichte ich sogar vor ihr.

Gedanken gingen auch gern im Strom der Eindrücke um einen herum unter, doch ein Gespräch prägte sich viel besser ins Gedächtnis ein. Das wollte ich gerade jetzt nicht riskieren. Nicht, solange ich nicht wusste, was gespielt wurde.

Ich schnaubte in mich hinein und umklammerte die Tasse fester. Langsam drehte ich wirklich durch. Das grenzte ja schon an Verfolgungswahn. Wer war ich schon, dass sich irgendjemand für meine Gedanken interessieren sollte. Oder die Bücher in meiner Wand.

Mein Schädel brummte. Was für eine Scheiße. Wahrscheinlich hatte ich mir das alles echt nur eingebildet und demnächst würde ich schreiend auf Parkplätzen stehen.

Vika musterte mich mit besorgtem Blick und ich hob fragend die Augenbrauen.

»Wie geht’s deiner Mama?«

»Sie hatte gestern einen Anfall«, gab ich zu und lehnte mich gegen sie. Ich war froh, dass wir nicht über mich redeten, und ließ Vika in dem Glauben, dass ich mich ausschließlich um meine Mama sorgte.

»Ich habe mir schon gedacht, dass was passiert ist. Sie war gar nicht beim Umzug dabei. Und dein Pa wirkte auch so bedrückt.«

Wir schwiegen und tranken unsere Heißgetränke. Es tat gut, Vika zu haben. Sie war das Beste, was mir im Leben passieren konnte.

»Willst du drüber reden?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Weißt du, was? Du trinkst jetzt deinen Kaffee aus, gehst erst mal duschen und dann schlendern wir gemütlich ins Rosenbecker-Center zum Shoppen«, schlug Vika vor.

»Dein Ernst? Wir haben gestern den ganzen Tag Kisten geschleppt, und da willst du heute stundenlang durchs Einkaufszentrum laufen?« Mein Rücken schmerzte schon beim Gedanken daran und ich hatte gerade wirklich keinen Nerv dafür, mir Klamotten anzusehen.

»Ach, komm schon. Das ist besser, als zu Hause zu sitzen und in seinen Gedanken zu versumpfen. Wir frühstücken bei Tobi’s, holen ein paar Dekosachen für deine Wohnung und anschließend müssen wir dringend Lebensmittel kaufen. Mit den zwei Packungen Nudeln wirst du nicht weit kommen.« Vika leerte ihre Tasse und erhob sich schwungvoll. »Also los, ab ins Bad mit dir!«, befahl sie und ich hatte keine andere Wahl, als ihrer Aufforderung Folge zu leisten. Um mich gegen ihren Tatendrang durchzusetzen, war ich einfach noch nicht wach genug.

Erschöpft schlurfte ich ins kleine Bad, schaltete das Licht ein, da es hier drin ja kein Fenster gab, und erschrak so sehr, dass ich beinahe rückwärts wieder aus der Tür gestolpert wäre.

Auf dem Boden lag ein Origamivogel.

Okay, jetzt war ich wach.

Langsam trat ich ein und bückte mich, um den Vogel mit zitternden Fingern aufzuheben. Er war aus foliertem Papier gefaltet und sah reichlich ramponiert aus. An einem Flügel konnte man noch den Rest eines Wortes erkennen. Höchstwahrscheinlich war er aus einem alten Flyer entstanden.

Mein Herz schlug mir schon wieder bis zum Hals und ich erinnerte mich selbst daran, woher er gekommen war. Heute Nacht war er aus dem blauen Buch gefallen.

Zwanghaft versuchte ich nicht darüber nachzudenken und vertagte meine Überlegungen auf später. Vorsichthalber drückte ich mir mit dem Daumen in die verletzte Handfläche, um einen leichten Schmerz zu verursachen, der meine Gedanken zwar nicht überdecken, aber wenigstens ein wenig verschleiern würde.

Mit spitzen Fingern legte ich den Vogel auf den Waschbeckenrand.

Vielleicht war es doch nicht so schlecht, ins Einkaufszentrum zu fahren. Dort war es laut und bunt. Genau die Überforderung der Sinne, die ich brauchte, um ungestört verbotenen Gedanken nachzuhängen. Denn selbst ein Computer war in so einer Situation schnell mal am Ende seiner Rechenleistung. Natürlich würde Biolog Medical das niemals öffentlich zugeben, doch das Gehirn war immer noch sehr viel komplexer als die Geräte, die sie besaßen. Und ich kannte mittlerweile alle Schwächen.

Ich duschte so heiß, wie ich es gerade noch aushielt, und wusch mir die letzten Reste Müdigkeit vom Körper, während ich mir überlegte, was ich anziehen wollte. Leider hatte ich noch nicht alle Kisten ausgepackt und daher fehlte mir etwa die Hälfte meiner Klamotten. Aber es würde sich schon etwas finden.

Mit einem Handtuchturban auf dem Kopf wühlte ich in meinem Schrank und der einen Kiste mit Klamotten, die ich schon geöffnet hatte. Wenigstens die Unterwäsche war in meinem Chaos bereits aufgetaucht.

Ich fand ein senfgelbes Shirt mit Schwalbenprint und weiter unten eine Jeanslatzhose, die ich schon seit Langem nicht mehr getragen hatte.

Neuer Lebensabschnitt, alte Klamotten, dachte ich bei mir und fand es irgendwie passend.

Als ich das Handtuch zurück ins Bad brachte und die Lüftung anstellte, fiel mein Blick wieder auf den Vogel.

Er war immer noch da. War das der Beweis dafür, dass ich mir das alles nicht einbildete? Aber wenn das alles nicht meiner irrsinnigen Vorstellung entsprang, was bedeutete das dann für mich?

Mit dem Vogel in der Hand kam ich ins Wohnzimmer und legte ihn in der Kochnische wie zufällig auf den Tisch neben Vikas leerer Teetasse ab. Ich wusste, dass es bescheuert war, mich so zu verhalten, aber ich wollte einfach, dass Vika ihn sah. Wenn sie ihn auch wahrnahm, dann war ich zumindest nicht so verrückt, wie ich annahm.

»Hast du noch ein Päckchen bekommen?«, fragte sie prompt, als sie sich zu mir umdrehte, und hob die Origamitaube vom Tisch auf.

»Nein. Aber ich dachte, man könnte die sicher schön aufhängen oder so«, lenkte ich sofort ab, um ihr eine richtige Antwort schuldig zu bleiben, und ihre Augen begannen zu strahlen.

»Ja, das ist eine tolle Idee. Lass uns gleich auch so einen Holzring kaufen, an dem wir die befestigen können«, rief sie begeistert und legte den Vogel zurück. »Aber wir brauchen definitiv schöneres Papier dafür«, fügte sie hinzu und räumte unsere Tassen in die Spüle.

Wir fuhren mit der Magnetschwebebahn ins Zentrum und liefen die grüne Allee der Einkaufsmeile hinunter zum Rosenbecker-Center.

Das Gebäude war ein Gebilde aus farbigem Glas und Wasserkunst und man hatte immer den Eindruck, einen Unterwasserpalast zu betreten. Deshalb war es auch Vikas Lieblingseinkaufszentrum. Und ich konnte nicht sagen, dass es mir hier nicht gefiel, obwohl für mich die Aufmachung nicht ganz so wichtig war wie für meine beste Freundin.

Tobi’s war brechend voll, daher holten wir uns nur eben einen Avocado-Tomaten-Bagel auf die Hand und schlenderten in die erste Etage, um uns in einigen Deko-Geschäften umzusehen.

Ich überließ Vika das Herausputzen meiner Wohnung. Sie hatte einen viel feineren Sinn für Farben als ich und auch einen Blick dafür, was sich gut miteinander kombinieren ließ.

Sie suchte neue Kissenbezüge für meine Couch aus, holte mir eine tolle messingfarbene Schale für mein Obst und überredete mich zu einem gemusterten Teppich für mein Schlafzimmer. Zum Glück konnte man sich solchen Kram nach Hause schicken lassen und musste ihn nicht den ganzen Tag mit sich herumschleppen. Mein Rücken dankte es mir.

Es dauerte nicht lange, bis bei mir die Luft raus war. Ich hatte einfach nicht genug geschlafen und Vika versprach mir, bei Coffee Praise vorbeizugehen, nachdem sie auf dem Klo war.

Sie leugnete es, aber ich wusste genau, dass es am plätschernden Wasser lag, dass sie hier im Center ständig aufs Klo musste.

Ich setzte mich an den Rand einer Kunstinstallation aus mehreren Wasserfällen, blauem Licht und Zuchtfarn und zog mein Handy aus der Hosentasche. Ich entsperrte es, ohne etwas zu brauchen, und schaltete es gleich wieder aus.

Um mich herum waren die Menschen laut, das Wasser rauschte, bunte Farben reizten meine Augen. Es war der perfekte Moment, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen.

Endlich. Denn ich hatte es bitter nötig, über einige Sachen nachzudenken.

Das ominöse Buch in meiner Wand zum Beispiel, das anscheinend mir gehörte und das ich doch nicht kannte. Das war das Wahnsinnigste, was mir jemals passiert war. Und mir war in der letzten Zeit so einiges passiert.

Da Vika den zweiten Origamivogel auch gesehen hatte, konnte ich davon ausgehen, dass ich mir das Ganze nicht nur einbildete.

Auch wenn das wohl die einfachste Lösung gewesen wäre, um zu erklären, woher das Buch gekommen war. So musste ich mir etwas anderes einfallen lassen. Und die beiden Lösungen, die mir einfielen, waren beide gleich abwegig.

Mein Blick wanderte durchs Einkaufszentrum, beobachtete die Menschen, während meine Gedanken rasten. Das Handy drehte ich dabei in den Händen.

Das Buch könnte eine Fälschung sein. Aber warum sollte jemand so etwas tun?

Oder ich hatte dieses halbe Jahr, das im Buch beschrieben war, tatsächlich vergessen. Doch das war zu beängstigend, als dass ich es für wahr halten wollte. Na ja, zusammen mit Zeitreise oder der Möglichkeit, dass ich einen bösen Zwilling besaß. Oder Parallelwelten.

Ich war einfach ratlos.

Mal angenommen, es war eine Fälschung, musste ich mich fragen, zu welchem Zweck. Jemand musste von meinen geheimen Büchern wissen, musste meine Schrift nachahmen, mich gut genug kennen, um die Menschen zu erwähnen, die ich mochte.

Ich hatte nicht viel Zeit gehabt, im Buch zu blättern, und hatte nur wenige Seiten kurz überflogen, aber es war mir doch sehr authentisch vorgekommen.

Was mich zur zweiten Variante brachte. Ich hatte es vergessen. Doch ich müsste mir nicht nur den Kopf gestoßen haben, denn laut der ersten Seiten des Buches war ich zum Anfang meiner Ausbildung ausgezogen. Das war ich meiner Erinnerung nach aber nicht. Ich hatte nie einen Versuch unternommen, auszuziehen, bis zum gestrigen Tag.

Natürlich musste ich in Erwägung ziehen, dass ich die Ereignisse nicht ganz natürlich vergessen hatte. Schließlich hatten wir die Technik, Gedanken und Erinnerungen zu rastern, wie unwahrscheinlich es auch war. Ein halbes Jahr zu rastern war noch viel irrsinniger. Und illegal.

Doch wenn ich es mal gedanklich durchspielte, kam ich auf noch viel skurrilere Ergebnisse. Man musste mir dieses halbe Jahr ja nicht nur löschen, man musste mich auch wieder zurück in mein Elternhaus bringen, die Erinnerungen meiner Eltern und Freunde rastern und jedem anderen, mit dem ich in der Zeit zu tun gehabt hatte.

Außerdem ging es nicht spurlos an einem vorbei, wenn man solche Zeiträume zerstückelte oder auslöschte. Ich konnte mir zumindest nicht vorstellen, dass das so leicht zu verdauen war.

Außerdem hätte mir doch auffallen müssen, wenn ich eines Tages aufgewacht wäre und das letzte halbe Jahr hätte mir gefehlt. Oder etwa nicht?

Das war definitiv nicht passiert.

Blieb also die Zeitreisetheorie und die Parallelwelten, die beide der Science-Fiction entsprangen und unmöglich real sein konnten.

Es gab also absolut keine Erklärung, die ich mir in Ansätzen vorstellen konnte. Es war schlichtweg unmöglich. Was mich wieder zum ersten Ansatz brachte: Ich hatte mir alles nur eingebildet.

Ich schüttelte den Kopf über mich selbst und stieß geräuschvoll die Luft aus. So kam ich nicht weiter und ich wusste, dass ich früher oder später das Notizbuch aus seinem Versteck holen musste, um es zu lesen. Vielleicht gab das Buch selbst mir Aufschluss darüber, was des Rätsels Lösung beinhaltete.

Jedoch würde sich das in nächster Zeit schwierig gestalten. Man durfte sich ja auch nicht endlos oft in den Finger schneiden, ohne vor dem System als selbstverletzend zu gelten. Ich konnte es sicher nicht gebrauchen, dass der Computer ausschlug und ein Arzt sich die Sequenzen meiner Fingerschnitte genauer ansah. Zwar würde er das Buch durch den Schmerz nicht entdecken, aber vielleicht Hinweise darauf.

Im besten Fall wäre da eine Überweisung zum Psychologen wegen Ritzens drin. Darauf hatte ich auch wenig Lust.

Was blieb mir also übrig, als nicht weiter darüber nachzudenken?

Vielleicht mehr über die Origamivögel herauszufinden, da sie ja offensichtlich etwas mit diesem Buch zu tun hatten.

Oder Ezra finden. Wer auch immer er war.

Ich hatte noch niemals einen Namen unterstrichen und schon gar nicht doppelt.

Vorausgesetzt, die Notizen hatte tatsächlich ich geschrieben.

»Na, Schatz, bereit für Kaffee?«, riss Vika mich aus meinen Gedanken und ich schreckte so zusammen, dass mir beinahe das Handy entglitten wäre.

»Immer«, seufzte ich und ließ mir von Vika eine Hand reichen, um mich auf die Füße zu ziehen.

Ich warf einen Blick auf die Uhrzeit auf dem Display, bevor ich mein Handy in der Innenklappe meiner Handtasche verschwinden ließ.

Vika hatte ganze fünfzehn Minuten auf dem Klo verbracht.

»Du warst ganz schön lange weg«, merkte ich an und Vika machte ein entschuldigendes Gesicht.

»Ja, sorry. Ich habe eine Freundin meiner Mama vorn getroffen und mich kurz verquatscht«, erzählte sie mir und ich zuckte mit den Schultern.

»Solange ich meinen Kaffee bekomme, ist mir alles andere egal«, witzelte ich und sah Vika an, dass sie mir gern gesagt hätte, wie ungesund all der Kaffee für mich war.

Das wusste ich ja eigentlich selbst. Doch seit einer ganzen Weile war ich ohne Koffein einfach zu nichts zu gebrauchen. Um genau zu sein, seit meine Schlafstörungen angefangen hatten.

Ich stempelte es gern als eine Phase ab, die irgendwann vorbeiging. Doch bisher war es nicht besser geworden. Eher schlimmer.

Wir stiegen die Stufen hinauf in die zweite Ebene des Einkaufszentrums und hielten zielstrebig auf Coffee Praise zu. Zumindest ich, Vika wurde etwa fünf Meter zu früh langsamer.

Ich blickte sie fragend an.

»Magst du vielleicht schon mal vorgehen?«, fragte sie und es brauchte nur einen Blick ins Schaufenster neben uns, um zu wissen, was Sache war. Ausverkauf bei Timon Music. Uralte Schallplatten zum halben Preis.

Vika war besessen von diesen Dingern und ich konnte es nicht nachvollziehen, wie man für so was so viel Geld hinblättern konnte. Das Plastik, aus dem sie vor langer Zeit gemacht worden waren, war nicht mal biologisch abbaubar.

Bei Vika schlug da einfach die Nostalgie durch und die war sogar stärker als der Drang, den Planeten zu retten. Und das sollte schon was heißen.

»Klar. Ich bin ja schon groß«, sprach ich sie frei und schubste sie durch die geöffnete Tür von Timon.

»Okay. Sobald ich hier fertig bin, komm ich zu dir«, behauptete sie und ich lachte auf, weil das eher unwahrscheinlich war. Ihre Finger würden beginnen, die Platten durchzublättern und sie würde völlig vergessen, wo sie war.

»Ich trink gemütlich meinen Kaffee und dann hol ich dich ab«, schlug ich vor und auf Vikas Lippen legte sich ein verlegenes Lächeln.

»Oder so«, sagte sie noch und war im Musikparadies verschwunden.

Natürlich hätten wir auch erst gemeinsam meinen Kaffee holen und dann in den Plattenladen abtauchen können. Doch eigentlich war ich ganz froh, dass Vika das allein machte und ich noch ein bisschen Zeit für mich und meine Gedanken hatte. So stand ich auch nicht der Herausforderung gegenüber, mir all die Band- und Künstlernamen der letzten Jahrzehnte merken zu müssen.

Ohne Eile schlenderte ich zu Coffee Praise, betrat das kleine Geschäft und atmete erst einmal ganz tief den Geruch nach frisch gemahlenen Kaffeebohnen ein. Das dunkle Ambiente wirkte beruhigend auf mich und gab mir immer wieder ein gutes Gefühl.

Hier ging es mir tatsächlich besser als sonst. Als wäre es meine Bestimmung, mich zu setzen und zu bleiben, und nicht durch die Welt zu rennen, um etwas nachzujagen, was ich nicht fassen konnte und was mich unruhig und schlaflos zurückließ.

Da machte es mir noch weniger aus, meinen Kaffee allein zu holen.

Ich stellte mich brav am Ende der Menschenschlange an, die darauf wartete, an der Reihe zu sein.

Eine Frau in einem petrolfarbenen Kostüm bestellte sich gerade einen Chai Latte mit Sojamilch und ohne Sahne. Ihre Stimme hatte etwas so Markantes, dass ich sie sogar am Ende der Schlange verstand, als sie dem Mitarbeiter ihre Bestellung und ihren Namen nannte, damit er alles auf dem Becher notieren konnte.

Mein Handy gab einen leisen Ton von sich und ich zog es aus der Tasche. Vika hatte mir ein GIF geschickt, in dem sie sich mit animierten Herzchen in den Augen eine Schallplatte an die Brust drückte. Dem Bild auf dem Schuber nach zu urteilen, handelte es sich dabei um klassische Musik.

Ich schickte ihr ein paar lachende Emoticons zurück und las dann noch eine Nachricht von meinem Papa, die gerade reingekommen war und in der er mir mitteilte, dass er für meine Mutter einen großen Gesundheitscheck beantragt hatte.

Gut so, der war auch wirklich mal nötig.

Ich rückte mit den Menschen in der Schlange weiter Richtung Kasse. Um nicht an meine Mutter zu denken, richtete ich meine Aufmerksamkeit etwas Banalem zu. Ich studierte die Preistafel und überlegte, welche der drei Kaffeesorten ich heute wählen sollte.

»Einen Earl Grey bitte. Schwarz und ohne Zucker«, sagte der Mann vor mir und ich sah auf. Er war groß, fast so riesig wie Oliver Grand. Das Erste, was ins Auge fiel, war sein rotblondes Haar und die scharf gezeichnete Nase.

Einen ganz kurzen Moment hatte ich ein Gefühl von Erkennen. Doch das ging mir öfter so und bedeutete gar nichts. Meist schob ich es auf Mineralstoffmangel wie bei einem Déjà-vu oder auch auf meine sich anbahnende Verrücktheit.

Ich versuchte mich davon nicht nervös machen zu lassen, schob mein Handy zurück in die Handtasche und wühlte nach meinem Portemonnaie. Mal sehen, wie viel Bargeld ich noch hatte.

»Auf welchen Namen?«, fragte der junge Kerl mit wilder dunkler Lockenmähne hinter dem Tresen.

»Ezra«, antwortete ihm der Rothaarige und es durchzuckte mich wie ein Blitz. Mein Blick schoss zu ihm zurück und mir fiel vor Schreck der Geldbeutel aus der Hand, sodass sich das ganze Kleingeld auf dem Boden verteilte.

»Oh Mist«, fluchte ich leise und bückte mich sofort, um ganz hektisch alles wieder einzusammeln. Schamesröte stieg mir ins Gesicht.

Der Mann vor mir beugte sich ebenfalls nach unten und half mir, die Münzen einzufangen, die davonkullerten; was die ganze Sache nicht weniger peinlich machte.

»Du musst nicht … ähm … danke«, stotterte ich, als er mir das Kleingeld in die Hand legte, das er aufgesammelt hatte.

»Kein Problem. Kann jedem mal passieren«, sagte er und seine Stimme hatte einen angenehm dunklen Ton.

»Ich bin sonst nicht so der tollpatschige Typ«, versuchte ich es irgendwie zu retten und hatte aber das Gefühl, es durch meine Rechtfertigungsversuche nur noch schlimmer zu machen.

Der Mann grinste und die Sommersprossen in seinem Gesicht schienen dabei zu tanzen.

»Vielleicht brauchst du ja einfach nur einen Kaffee?«, meinte er spaßhaft und ich musste über diesen Kommentar lächeln.

»Ja, sogar ganz dringend«, gab ich zurück und der Kerl hinter der Theke sah mich erwartungsvoll an, den Becher schon in der Hand.

»Einen Kaffee Arabica mit einem kleinen Schluck Hafermilch«, gab ich meine Bestellung auf. »Für Gemma«, fügte ich hinzu, bevor er mich danach fragen konnte.

Ich zahlte und stellte mich neben den Mann mit dem roten Haar, um darauf zu warten, dass meine Bestellung fertig wurde.

»Gemma, richtig?«, sprach er mich an und ich nickte hastig.

»Ja«, japste ich und spürte in meinem Bauch, wie aufgeregt ich immer noch war. Und das lag nicht mehr nur an meinem blöden Missgeschick mit dem Kleingeld. Es lag ganz eindeutig daran, dass der Mann neben mir einen Becher in Empfang nahm, auf dem der Name ›Ezra‹ geschrieben stand.

Es war der Name aus dem Buch, der Name, den ich zweimal unterstrichen hatte. Konnte es Zufall sein, dass ich nur einen Tag später einem Mann begegnete, der diesen Namen trug?

Und wenn nicht, was hatte das alles zu bedeuten?

»Bist du öfter hier?«, fragte er mich ganz plump und man sah ihm an, dass er sich selbst bescheuert dabei vorkam, mit so was Klischeehaftem ein Gespräch zu beginnen.

»Kaffee kaufen? Ja.« Was sollte ich auch anderes antworten? »Kennst du viele Leute, die heißen wie du?«, erkundigte ich mich und hoffte, nicht zu aufdringlich rüberzukommen. Doch anscheinend teilten wir diese Angst, sonst würden wir nicht beide so unsicher dastehen und versuchen, miteinander zu reden.

»Eigentlich nicht, nein. Wieso?«

»Ach, nur so.« Das Gespräch wurde immer seltsamer und endlich wurde mir von einer kleinen Mitarbeiterin mit rundem Gesicht mein Kaffee gereicht. Er war so heiß, dass ich mir beinahe die Finger daran verbrannte, und ich nahm mir schnell einen Becherkragen aus einem Spender an der Theke.

»Kennst du denn noch jemanden mit dem Namen?«, fragte Ezra und ich wusste im ersten Moment nicht, was ich darauf antworten sollte.

»Ich glaube nicht«, kam der Wahrheit am nächsten und ich sah zu ihm auf.

Mein Blick blieb an seinen Augen hängen und ich suchte in ihnen nach etwas Bekanntem, etwas, was mir zeigte, dass ich nicht verrückt war und dieser Name in diesem Buch tatsächlich etwas für mich bedeutete. Seine Iris waren graublau.

»Gemma, sind wir uns schon mal begegnet?«, wollte Ezra von mir wissen und im ersten Moment dachte ich, ich müsste mir diesen Satz eingebildet haben. Das Herz hämmerte mir in der Brust und ich schluckte schwer gegen meinen wie ausgedörrten Hals an.

»Nicht das ich wüsste«, kam es flüsternd aus meinem Mund und Ezra schüttelte den Kopf, als vertrieb er seine Gedanken.

»Ach nein, vergiss es. Ich hatte gerade nur so ein Gefühl. Aber manchmal bilde ich mir so was auch ein«, tat er es ab und lächelte wieder. »Man sieht sich vielleicht mal wieder«, verabschiedete er sich, drehte sich zögerlich von mir weg und verließ das Café.

Und ich blieb zurück, wie erstarrt und umklammerte meinen Kaffee.

Gemmas Gedanken

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