Читать книгу Heimkehr ins Unbekannte - Lina Meruane - Страница 17
sprachen, die sich gabeln
ОглавлениеWeiter geht es, schweigend oder auf Spanisch, obwohl noch andere Sprachen in unserer Genealogie schlummern. Die arabischen Einwanderer machten sich das Spanische im gleichen Rhythmus zu eigen, in dem sie ihre Muttersprache verloren, behielten sie jedoch untereinander bei wie einen Geheimcode, der ihren Kindern verwehrt war: Sie verschluckten lieber ihre Zunge, bevor sie ihnen das Stigma einer zweitklassigen Staatsbürgerschaft vermachten. Diesen Akzent umgab ein auffälliger Schatten wie die Armut ihre verschlissenen Kleider. Beide musste man loswerden, und das war nicht schwer. Mit der neuen Kleidung hatten sie kaum Schwierigkeiten, denn ihr Stil glich dem der mitgebrachten. Kaum Schwierigkeiten hatten sie auch damit, ihren durchlässigen Sprachen das Spanische hinzuzufügen: Ihre Vorfahren hatten jahrhundertelang im Spanischen gewohnt, auf der Iberischen Halbinsel, hatten es arabisiert und mit der stummen Parenthese des eingeschobenen arabischen h und des vorangestellten, hallenden al- seine Seele erobert. Es jetzt zu sprechen, war eine andere Art der Rückkehr. Meine Großmutter, sagt mein Vater, hatte es gleich nach ihrer Ankunft erlernt, als Kind; mein Großvater dagegen hatte es erst mit elf, zwölf, vielleicht auch mit vierzehn angenommen. Mein Vater nutzt diesen Abzweig und erklärt, Salvadors Alter sei deshalb ungewiss, weil seine Geburtsurkunde beim Brand der palästinensischen Kirche verloren gegangen sei. (Noch ein Brand, notiere ich. Noch ein Verlust, der der Dokumente, die seinen Ursprung belegen.) Aber seine Mutter und seine Geschwister hätten das Jahr doch wissen müssen, führe ich ins Feld, hebe den Bleistift vom Papier, die Augen zu meinem Vater. Er verzieht die Lippen und beruft sich auf meine Tante-die-Zweite, die sich dieses Rätsel ebenfalls nicht erklären kann, es gar nicht versucht, sondern sagt, man habe damals die Kinder spät getauft, das Datum gefälscht, um den türkischen Militärdienst hinauszuschieben oder zu umgehen. Dann erfahre ich, dass nicht einmal klar ist, ob Isa mit seiner verwitweten Mutter eingetroffen war, einer Frau mit Namen Esther (und tiefblauen Augen, die niemand geerbt hat), oder ob sie mit seinen älteren Geschwistern bereits in Chile und er später mit Onkel und Tante nachgekommen war. Die Versionen widersprechen sich. Mein Vater sagt und verbürgt sich auch dafür nicht, mein Großvater habe dann im Süden gearbeitet, in der Mühle seiner älteren Brüder, während er seine dritte Sprache in Angriff nahm. Deutsch hatte er auf einer protestantischen Pfarrschule gelernt, denn damals hatte es viele Schulen europäischer Religionsgemeinschaften in Palästina gegeben. Szenen kommen mir in den Sinn: Mein Großvater, der im Laden La Florida mit einem Kunden auf Deutsch radebrecht, mein Großvater, der sich als Schreiber betätigt, als freiwilliger Vorleser für Landsleute ohne Schulbildung, die Familienbriefe aus der Levante bekamen. Er sagt, mein Vater: Ich sehe ihn noch vor mir, ein kleiner alter Mann aus der Kolonie, sehr weißhäutig, blond mit hellen Augen, der weder lesen noch schreiben konnte. Wenn er Briefe von seiner Familie erhielt, ging er zu meinem Vater, damit er sie ihm vorlas und beantwortete, und manchmal begleitete ich ihn in den Laden und staunte, wie er da von rechts nach links über das Blatt fuhr. Damals war es keine Tragödie, seinem Alphabet ein zweites hinzuzufügen, die Schreibrichtung zu ändern, die Syntax zu tauschen, den Tonfall zu modulieren, bis man den chilenischen Akzent perfektioniert hatte: Das Schild an dieser Weggabelung der Sprachen deutete in Richtung Fortschritt, und diesen Weg schlugen die Palästinenser ein. Sie ließen den fliegenden Handel hinter sich, und auch mein Großvater gab seine Fahrten durch den Süden auf, wo er den Stoffvertrieb eines gewissen Manzur vertreten hatte. Mein Vater betont, übergenau und überflüssig, da es nicht einmal mich interessiert, für ihn jedoch eine Frage der sozialen Stellung zu sein scheint: Mein Großvater sei kein fliegender Händler gewesen, sondern Vertreter. Das gab seiner prekären Stellung etwas Gewicht, so dass mein Großvater die Mühle und den Laden verlassen konnte, den er gemeinsam mit seinen älteren Brüdern in Toltén führte, einer Stadt, die zwanzig Jahre später ein Tsunami hinwegreißen sollte. (Noch ein Verschwinden, notiere ich, in dieser Saga der Verluste.) Es war dringend angebracht, sich im Landesinnern niederzulassen, damit die drei Töchter und die folgenden zwei Söhne eine bessere Ausbildung bekamen. Denn meine Großmutter, kultivierter oder zumindest eine Leserin, folgte dem Motto, Fortschritt beruhe auf Bildung. Sie war es, die darauf bestand, meine Tanten auf die Universität zu schicken, ihnen die Chancen zu geben, die sie als Schülerin einer Fachoberschule ohne Abschluss nie gehabt hatte. Sie war es, die verhinderte, dass mein Vater mit sechzehn den Laden übernahm, als mein Großvater, erschöpft von seinen vielen Unternehmungen, seinem einzigen Sohn die Geschäftsführung von La Florida übergeben wollte. Und sie setzte sich dafür ein, dass ihre Töchter außerhalb der Kolonie heiraten konnten. Dass sie sich mischten, ja, aber den Familiennamen beibehielten, als unlöschbares Zeichen der Zugehörigkeit.