Читать книгу Heimkehr ins Unbekannte - Lina Meruane - Страница 18
hinter geschlossener tür
ОглавлениеSie ist abgeschlossen, und der Schlüssel ist nicht mehr in unserem Besitz. Mein Bruder-der-Jüngere blickt durchs Schlüsselloch und kann nichts erkennen. Es ist dunkel, sagt er. Wie im Grab, ergänze ich und denke an meinen Großvater in seinem. An sein hängendes Augenlid auf der linken Seite. An seine verschränkten Hände, die nicht mehr in die Hosentaschen tauchen und Mandeln verteilen. Ein schlichter Tod, ganz anders als bei seinem Cousin Chucre, der bestimmt hatte, bei seiner Totenwache solle Musik gespielt, um den Leichnam getanzt und opulentes Essen für alle aufgefahren werden, die sich von ihm verabschieden wollten. (Ich weiß nicht mehr, ob ich mich daran erinnere oder es mir nur vorstelle, dass seine Kinder geteilter Ansicht waren: Die einen legten die arabische Kassette ein, die anderen schalteten trauernd und vielleicht beschämt das Radio aus und ließen ihn in Grabesstille versinken.) Nach all den Familienbegräbnissen verschwimmt mir im Gedächtnis der Raum dieser Totenwachen. Ich sehe nichts, beharrt die Stimme meines Bruders-des-Jüngeren vor dem Schlüsselloch. Und vielleicht gibt es gar nichts zu sehen, denn zu dem Brand im Familienhaus war später ein Erdbeben gekommen, und man hatte es für unbewohnbar erklärt. Ich habe euch doch gesagt, es hat keinen Sinn, zurückzukehren, murmelt mein Vater. Und mit langen Schritten geht er über die Straße davon und lässt uns schnell hinter sich. Zurück bleibt das Holztor, das am Rand des Gehwegs noch bis zum nächsten Erdstoß aushält, während wir meinem Vater die Straße hinab folgen, die Augen starr auf das Pflaster gerichtet, als sähen wir zwischen den Linien der Pflastersteine die Zimmer mit den hohen Decken, könnten zwischen den Strichen die Küche im hinteren Teil finden, ihre Aluminiumtöpfe, den geblümten Kühlschrank, den meine Mutter mit ins Strandhaus genommen hatte, das uns auch nicht mehr gehört. Was mag wohl aus all dem geworden sein, aus den Laken, die an einer Leine im Garten hingen, aus dem winzigen Elfenbeinelefanten, von dem meine Tanten sagen, ich hätte ihn erfunden, weil sie sich nicht an ihn erinnern. Alles aus Palästina ist auf mysteriöse Weise verschwunden, während ich irgendwie die Zeit totgeschlagen habe, sage ich mir und gehe mit den anderen hinter meinem Vater her, ohne zu wissen, wohin. Er bleibt stehen, ganz plötzlich, und deutet auf seine erste Schule: von Nonnen geführt, sagt er, vielleicht noch heute. Eine Mädchenschule? Ja, und zum ersten Mal scheint er zu lächeln. Sie lag so nah, dass er allein zur Schule gehen konnte, aber er war immer mit einer seiner Schwestern gegangen: der Schwester-der-Dritten, die als Erste gestorben war, oder der Schwester-der-Vierten, die auch nicht mehr lebt. In dieser Stadt voller Palästinenser gab es doch sicher arabische Schulen, bemerke ich, aber er hört nicht oder weiß nicht oder will nicht antworten. Dann, als wachte er plötzlich auf, verneint er. Alle Schulen waren chilenisch, und dort wurde nur in der offiziellen Landessprache unterrichtet. Mein Vater lässt diese Vergangenheit hinter sich und klärt uns über seine nächste Schule auf: Internatsschüler in der Oberschule im Instituto Nacional Barros Arana. Die Wochenenden verbrachte er manchmal bei seinem Onkel Constantino, der in der Calle Juan Sabaj lebte. Überrascht erfahre ich, dass es in Santiago noch eine Straße mit einem Namen aus unserer Familie gibt. Dass diese Straße nach meinem Urgroßvater benannt wurde. Von den Onkeln meines Vaters angelegt, nachdem sie beschlossen hatten, das Grundstück in Ñuñoa zu teilen, dort Häuser zu bauen und von den Mieteinnahmen zu leben. Das Geschäft hat sich nicht gerechnet, sagt mein Vater, der später in einem dieser Häuser wohnen sollte, umgeben von Verwandten. Ich wundere mich, warum mein Vater und seine Schwestern, unter Palästinensern aufgewachsen, sich niemals in der Kolonie engagiert hatten. Warum sie nie Mitglieder im Estadio Palestino gewesen waren, gleich um die Ecke. Da musste man einen großen Schein hinblättern, den ich nicht hatte, entgegnet mein Vater, als ich ihn danach frage. Dort haben sich die wohlhabendsten Landsleute getroffen, und wir hatten nie eine besonders enge Beziehung zur Kolonie, über die Familie hinaus. Das erklärt einiges. Den Spardruck. Die Abneigung gegen Verschwendung. Einen gewissen Hang zur Enthaltsamkeit und die Gleichgültigkeit gegenüber Besitz. Diesen feinen Unterschied, von dem nie die Rede gewesen war und der doch unter uns lebte wie ein Vogel, sage ich mir, obwohl mir dieses durch den Kopf flatternde Bild seltsam vorkommt. Warum ausgerechnet ein Vogel? Weil alles so flüchtig war? Ich bin mir nicht sicher und beschließe, die Idee schweben zu lassen, während ich mich hinsetze, die Speisekarte lese und dann auf einem recht fade gefüllten Weinblatt herumkaue, dort, in einem arabischen Restaurant in der chilenischen Provinz, wo wir zu Mittag essen.