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Der VW-Bus flog.

Die Nase an die Scheibe gedrückt, starrte Jeff Conroy aus dem Fenster und schnappte nach Luft. Bis vor ein paar Sekunden hatten sie festen Boden unter den Reifen gehabt. Jetzt segelte der alte, rostige Kleinbus durch den Himmel.

Weit unter ihnen verlief die Straße, sie schien sich wie eine Schlange durch Gras zu winden. Nur waren es keine Grashalme, sondern Bäume. Und dazwischen standen keine kleinen Plastikhäuser wie auf einer Modelleisenbahn, und über den Asphalt rollten keine Spielzeugautos. Alles war echt.

Jeff befand sich in einem fliegenden Kleinbus – es war unglaublich! Doch er konnte den Flug nicht genießen. Er hatte Angst, und weil das Gefährt so stark schwankte, war ihm auch noch einigermaßen übel.

Während sie weiter anmutig geradeaus schwebten, konnte Jeff leider nicht mal richtig aus dem Fenster schauen. Ein Teil davon wurde nämlich von dicken schwarzen Magnetbändern verdeckt, die an der Karosserie des VW-Busses hafteten. Diese Streben hingen an dem mächtigen Hubschrauber über ihnen. Er hatte den Bus von der Straße gehoben.

Hinter dem Steuer, das nun zu nichts mehr nütze war, saß Harry Green. Er sah sich hilflos nach Jeff um, der neben seinem Hund Chipper auf der mittleren Sitzbank kauerte.

»Was sollen wir jetzt machen, Chipper?«, brüllte Jeff durch den ohrenbetäubenden Rotorenlärm und starrte auf den Boden tief unter ihnen.

Chipper wusste keine Antwort. Er war gerade erst aufgewacht.

Fünf Minuten zuvor, als das Institut gerade dabei gewesen war, den VW-Bus aufzuspüren, hatte Chipper noch geträumt.

Auf der Erde gab es kaum einen Hund wie Chipper, doch was eine Sache anging, war er der normalste Vierbeiner der Welt.

Immer wenn er schlief, träumte er.

Die Forscher des Instituts hatten Millionen Dollar dafür ausgegeben, einen laufenden, bellenden, schnüffelnden Supercomputer zu erschaffen und mit der vielleicht ausgeklügeltsten Software aller Zeiten auszustatten. Eines ging allerdings sogar über ihre Kräfte: Sie konnten Chipper nicht vierundzwanzig Stunden am Tag wach halten.

Chipper verstand mehrere Sprachen, konnte auf abgespeicherte Landkarten zugreifen und komplizierte Berechnungen anstellen, doch er war kein Laptop, der pausenlos in Betrieb bleiben konnte. Er musste sich auch mal aufs Ohr legen, die Augen schließen, ein Schläfchen halten. Okay, die Augen musste er nicht unbedingt zumachen, sie waren ja nicht echt. Er konnte sie auf Stand-by stellen. Aber trotzdem.

Und wenn er irgendwann einnickte, träumte er. Manchmal waren es schöne Träume. Manchmal waren es Albträume.

Der Traum, den er gehabt hatte, bevor der VW-Bus vom Boden abgehoben war, war sehr schön gewesen. Es war ein Traum von glücklicheren Zeiten.

Chipper hatte von früher geträumt, als er noch ein Welpe war.

Oh, wie himmlisch diese Zeit gewesen war! Bevor die ganzen Computerchips und Drähte, Schaltkreise und Speichermodule in seinen Körper eingebaut worden waren, hatte Chipper noch ganz andere Gedanken als heute gehabt. Heute dachte er meist in richtigen Worten, genau wie die Menschen, doch als Welpe wäre er nie auf solche Ideen gekommen. Als Welpe hatte er sich auf seine Impulse und Instinkte verlassen, auf Gefühle wie Freude, Angst und Neugier.

Und so vieles hatte seine Neugier geweckt. Er war auf einer Farm zur Welt gekommen, in einem Wurf mit fünf anderen Welpen, drei Brüdern und zwei Schwestern. Die Besitzer der Farm hatten ihnen allen Namen gegeben. Er hieß natürlich Chipper, seine Schwestern hießen Bonnie und Lucy, seine Brüder hießen Clyde, Scout und Wonder, und der Name seiner Mutter, einer wunderhübschen Border-Collie-Dame, war Princess.

Als junger Hund konnte man sich kein herrlicheres Zuhause vorstellen als diese Farm. Allein die vielen Gerüche! Es roch nach Heu und Gras und Bäumen und Kühen und Hühnern, es waren Millionen von Aromen! Wenn man eine feinfühlige Hundenase hatte, konnte einem das fast zu viel werden, aber zugleich bekam man nie genug davon. Außerdem erging es einem nicht wie den bemitleidenswerten Stadthunden – man musste nicht den ganzen Tag in einem Haus oder in einer Wohnung herumsitzen und aufs Herrchen oder Frauchen warten, nur damit man für ein paar Minuten die Schnauze in die echte Welt stecken durfte. Und dabei hingen die Armen auch noch an einer Leine, und irgendjemand trottete mit einem Plastikbeutel hinter ihnen her! Nein, solche Scherereien hatte man auf einer Farm nicht.

Auf einer Farm konnte man den ganzen Tag laufen, laufen und laufen, man konnte …

»Chipper!«

… die Schafe zusammentreiben oder Eichhörnchen jagen oder gemütlich zusehen, wie die Kühe gemolken wurden, oder hinten auf den Pick-up des Farmers springen und sich quer übers Gelände kutschieren lassen. Oder irgendwo in der Sonne ins Gras fallen und sich das Fell wärmen lassen.

Diese Erinnerungen erlebte Chipper im Schlaf von Neuem. Und häufig war seine Mutter bei ihm.

Im Traum konnte Chipper sprechen. Er konnte seiner Mutter sagen, wie lieb er sie hatte. Er konnte ihr sagen, wie gut es ihm auf der Farm gefiel und dass er nie, nie, nie von dort fortgehen wollte.

Doch manchmal verfinsterten sich seine Träume, wurden so düster wie der schwarze Wagen, der eines Tages gekommen war und aus dem die dunkel gekleideten Leute gestiegen waren. Die vom Institut.

Dann flehte Chipper seine Mutter jedes Mal an, ihn zu retten. Er wollte nicht mit diesen Leuten mitgehen. Er wollte für immer ein normaler Hund bleiben. Er …

»Chipper!«

Er wollte nicht aufgeschnitten werden, er wollte nicht, dass man ihm alle möglichen sündteuren Technikteile einpflanzte. Er wollte seine echten Augen behalten, er wollte keine Kameralinsen, nur damit die vom Institut sein Blickfeld überwachen konnten. Er wollte nicht, dass man ihm das Rechnen beibrachte. Er wollte gar nicht wissen, wie viel 7 mal 15 mal 11 geteilt durch 16 war.

Was interessierte ihn das? Er war doch ein Hund.

Wenn er einen solchen Traum hatte, versuchte Chipper manchmal, die Leute vom Institut wieder in ihren schwarzen Wagen steigen zu lassen. Manchmal bekam er es hin, dann wendeten sie einfach und fuhren davon. Und manchmal nicht. Sein heutiger Traum entwickelte sich nicht gerade gut, da …

»Chipper!«

Er aktivierte seine Augen.

Wo war er? Wer war dieser Junge neben ihm, und warum schrie er ihn an?

Ach, stimmt. Er war in einem alten VW-Bus. Vorne am Steuer saß Harry Green, ein Typ Ende sechzig, der in einer Hütte im Angelcamp des Jungen Urlaub gemacht hatte. Und der Junge, der hinten neben Chipper kauerte und ihn soeben aufgeweckt hatte, hieß Jeff, war zwölf Jahre alt und Chippers Freund. Gleich nachdem Chipper aus dem Institut ausgebüxt war, hatte er sich auf die Suche nach Jeff gemacht.

»Hast du geträumt, oder wie?«, rief Jeff. »Ich habe dich überhaupt nicht wachgekriegt!«

Jeff hielt ein Handy in der Hand, ein Smartphone, mit dem man normalerweise telefonieren, im Internet surfen und alles mögliche andere machen konnte. Doch Jeff benutzte es nur noch für Textnachrichten. Und er schrieb nicht mal welche. Er bekam nur welche.

Und zwar von Chipper.

Obwohl so viel raffinierte Technik in ihm steckte, konnte Chipper nicht sprechen. Er konnte aber denken – und diese Gedanken wurden in Wörter übersetzt, die als Nachrichten an Jeffs Handy übertragen wurden. Darauf war Jeffs Freundin Emily gekommen, ein richtig kluges Köpfchen.

Jeff musste Chipper keine Nachrichten schreiben. Er konnte ganz normal mit ihm reden, denn Chipper verstand jedes Wort.

Jetzt antwortete Chipper ihm.

Ja. Ich habe geträumt.

Als Jeff die Antwort vom Display ablas, fiel Chipper auf, wie angespannt der Junge war. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, wie schnell der Bus unterwegs war. Sehr schnell. Er hüpfte auf den Sitz am kleinen Esstisch. Hinten in dem alten verbeulten Bus befanden sich außerdem ein Bett mit Stauraum darunter, ein winziger Herd, ein Minikühlschrank und ein schmaler Schrank für den üblichen Kleinkram.

Sie fuhren auf einer Landstraße. Chipper warf rasch einen Blick nach vorne und einen nach hinten – kein anderes Fahrzeug in Sicht. Trotzdem war nicht nur der ächzende Busmotor zu hören. Da war etwas über ihnen.

Was ist los?

»Sie haben uns gefunden.«

Chipper musste nicht erst nachfragen, wer sie waren. Das Institut hatte sie also gefunden. Aber soweit Chipper die Lage überblicken konnte, wurden sie nicht verfolgt.

Wo sind sie?

Jeff deutete nach oben.

Da steckte Chipper den Kopf aus dem offenen Fenster. Sein schwarz-weißes Fell flatterte im pfeifenden Wind. Er verrenkte den Hals und spähte in die Höhe.

Ein Hubschrauber jagte ihnen hinterher.

»Hat er das Ding endlich bemerkt?«, brüllte Harry.

Nachdem Jeff und Chipper in dem Angelcamp, das Jeffs Tante gehörte, vom Institut aufgespürt worden waren, hatte Harry ihnen geholfen zu fliehen.

»Er hat’s bemerkt«, antwortete Jeff.

»Und? Hat er irgendeine geniale Idee?«

»Hast du eine Idee?«, wandte Jeff sich an Chipper.

Chipper dachte nach. Er hatte keine. Jedenfalls noch nicht.

Ich arbeite daran.

Während seine Antwort an Jeffs Handy übertragen wurde, schwangen breite schwarze Bänder von oben herab und baumelten rechts und links neben dem Bus.

Sie erinnerten Jeff an die großen Bürsten von Autowaschanlagen. Früher, als er noch bei seinen Eltern gewohnt hatte, das heißt, bevor ihr Flugzeug abgestürzt war, waren sie öfter mit ihm zur Waschanlage gefahren. Jeff hatte es einfach nur großartig gefunden, wie die Bürsten gegen den Wagen patschten und klatschten.

Aber das da draußen, das waren keine Bürsten. Die Bänder schlenkerten und schlackerten wie dunkle Riesenbandnudeln – bis sie plötzlich am Wagen kleben blieben. Ob sie wohl magnetisch waren? An der rechten Seite hafteten fünf Bänder, an der linken ebenfalls.

»Was in aller Welt ist das?«, rief Harry.

Er riss das Steuer scharf in die eine Richtung und sofort in die andere. Mit fast 120 Stundenkilometern schlingerten sie über die Landstraße, erst nach links, dann nach rechts. Harry wollte die seltsamen Bänder irgendwie abschütteln.

Ich glaube, wir stecken in Schwierigkeiten.

»Was sagt er?«, schrie Harry.

»Dass wir wahrscheinlich in Schwierigkeiten stecken!«, antwortete Jeff.

»Danke auch, Lassie, darauf wäre ich nie gekommen!«

Harry riss das Lenkrad weiter hin und her, auch wenn der Wagen wie wild über die Fahrbahn schlidderte.

Doch als er wieder einmal in die Gegenrichtung steuern wollte, reagierte der Bus nicht. Er gehorchte Harry nicht mehr.

»Was zur –«, murmelte Harry.

Die schwarzen Bänder an den Seiten des Busses versteiften sich. Jeff blickte aus dem rechten Fenster auf die Straße, Chipper aus dem linken.

»Oh nein«, sagte Jeff.

Du nimmst mir die Worte aus dem Maul.

In diesem Moment hob der Bus von der Straße ab und begann seinen Flug über die Landschaft.

Und so stellte Jeff seinem Freund bald die alles entscheidende Frage: »Was sollen wir jetzt machen, Chipper?«

Leider hatte Chipper keine gute Antwort parat.

Chase

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