Читать книгу Chase - Linwood Barclay - Страница 7
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ОглавлениеSie waren seit Stunden unterwegs. Jeff hatte keine Ahnung, wo sie gerade entlangfuhren. Das sei die beste Taktik, hatte Harry Green gesagt – immer in Bewegung zu bleiben.
»Wir suchen uns jeden Abend eine andere Unterkunft«, hatte er Jeff und Chipper erklärt, als sie Flo’s Cabins, das Angelcamp am Pickerel Lake, gerade hinter sich gelassen hatten. Dort, bei seiner Tante Florence Beaumont, hatte Jeff zuletzt gewohnt.
Wieso sie fliehen mussten? Weil sie von einem Agententrupp des Instituts ausfindig gemacht worden waren. Ihr gefährlichster Verfolger hieß Daggert – der hatte Jeff und Chipper sogar schon mit einem Boot entführt gehabt, und erst in letzter Sekunde waren sie von Jeffs guter Freundin Emily Winslow gerettet worden. Daggerts Boot war explodiert. Aber deswegen war Jeff noch lange nicht alle Sorgen los. Das Institut würde nicht ruhen, bis es seinen Computerhund zurückerobert hatte.
Aus Sicht des Instituts durfte dieses technische Wunderding niemals einer anderen Organisation oder Regierung in die Hände fallen. Um das zu verhindern, würde es den Hund notfalls sogar zerstören.
Deshalb hatte Harry angeboten, Jeff und Chipper zu verstecken, bis sie einen neuen Plan geschmiedet hatten. Nach ein paar Stunden auf der Straße hatte er mit einem Schraubenzieher aus dem Handschuhfach seines Vans ihre Nummernschilder ausgetauscht. Die neuen hatte er von einem hinter einem Restaurant geparkten Wagen stibitzt.
»Hier wimmelt’s nur so von Kameras«, sagte er zu Jeff, der auf dem Beifahrersitz saß. »Wir wollen doch nicht, dass die unser Kennzeichen identifizieren, oder? Und für alle Fälle halten wir uns lieber von Interstates und Mautstraßen fern. Überhaupt schlagen wir keine bestimmte Richtung ein. Wir fahren einen Tag lang in Richtung Osten, am nächsten nach Süden und am übernächsten nach Westen. Sollte uns irgendwer hinterherspionieren, machen wir’s ihnen auf die Art nicht so leicht, unsere Fährte aufzunehmen. Sonst sagen die sich noch: ›Oh, klasse, die wollen da und da hin. Dann warten wir einfach dort auf sie.‹ Nicht mit mir.«
»Was denkst du?«, erkundigte Jeff sich bei Chipper, der den Kopf zwischen ihre Sitze gesteckt hatte. Seine Vorderpfoten ruhten auf der Mittelkonsole, die Hinterbeine hatte er auf der Sitzbank angewinkelt. Von diesem Posten aus konnte er durch die Windschutzscheibe spähen.
Auf Jeffs Handy erschien ein einziges Wort:
Abwarten.
Damit das Handy nicht geortet werden konnte, waren alle anderen Funktionen abgeschaltet. Jeff konnte mit seinem Smartphone nicht mehr telefonieren oder im Internet surfen. Es war nur noch dazu da, sich mit Chipper zu unterhalten. Ein Glück, dass Emily herausgefunden hatte, wie man es genau so einstellen konnte.
»Wie meinst du das?«, fragte Jeff.
Wir können nicht ewig so weitermachen.
»Was sagt er?«, wollte Harry wissen.
Jeff berichtete es ihm.
»Von immer und ewig war auch nie die Rede«, meinte Harry. »Nur bis wir einen Plan haben.«
»Warum machen Sie das eigentlich?«, fragte Jeff. »Warum helfen Sie uns?«
Harry warf ihm einen Blick zu. Er wirkte ehrlich überrascht. »Wieso fragst du das? Wieso sollte ich nicht?«
»Sie kennen mich kaum«, sagte Jeff. »Sie sind bloß Gast bei meiner Tante. Sie haben sich eine Hütte gemietet, damit Sie sich einen schönen Sommer machen und jeden Tag angeln gehen können. Aber davon wollen Sie auf einmal nichts mehr wissen. Sie riskieren lieber, dass Sie wegen irgendeinem Jungen und seinem Hund draufgehen. Warum?«
Harry zuckte die Achseln. »Also erstens ist das Kerlchen da kein normaler Köter. Zweitens bin ich Rentner und habe deshalb nicht gerade viele Termine. Und drittens …« Er sah Jeff an. »… konnte ich vielleicht einfach nicht anders. Weil da ein Junge war, der Hilfe braucht. Wie hätte ich da weitermachen sollen, als wäre nichts gewesen?«
»Es tut mir leid«, sagte Jeff.
»Muss es nicht.«
»Doch. Ich komme mir so blöd vor. Sie helfen uns, und ich mache Sie auch noch dumm an. Meine Mom hat immer gesagt, ich tue oft, als wäre es total selbstverständlich, was andere alles für mich machen.«
»Glaube kaum, dass sie das wirklich böse gemeint hat«, sagte Harry. »In deinem Alter kapiert man eben manchmal nicht so richtig, wie sich die Eltern für einen abmühen. Das ist ganz normal. Ich wette, wenn sich deine Mom wieder eingekriegt hatte, hat sie dir irgendeine Freude gemacht.«
Jeff spürte, wie seine Augen feucht wurden. »Wir sind dann meistens Eis essen gegangen«, erinnerte er sich.
»Na siehst du.«
Chipper kuschelte sich an Jeff und leckte ihm die Wange. Jeff legte ihm einen Arm um den Hals und drückte ihn sanft. »Ich glaube, meine Mom und mein Dad hätten Sie gemocht«, sagte er zu Harry.
»Mir wären sie sicher auch sehr sympathisch gewesen«, meinte Harry. »Aber weißt du, was wir jetzt erst mal erledigen müssen? Wir müssen uns ein bisschen Bargeld besorgen. Wir können schlecht alles mit Kreditkarte zahlen – nur damit die auch ja darauf kommen, wo wir sind! Da vorne ist eine kleine Stadt, da ist bestimmt was zu holen.«
»Wo genau?«, fragte Jeff.
»Na, am Geldautomaten. Wo sonst? Vielleicht gibt’s da eine Bank. Oder einen kleinen Supermarkt mit Automat. Wäre doch nicht so ungewöhnlich.«
Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist.
»Harry«, fing Jeff vorsichtig an. »Ich kenne mich damit nicht so gut aus, aber wenn Sie an einem Automaten Geld holen, können die uns dann nicht genauso auf die Spur kommen wie über die Kreditkarte?«
»Wie meinen?«
»Die kriegen es doch mit, wenn Sie mit Ihrer Bankkarte Geld ziehen. Das Institut behält das bestimmt alles genau im Auge. Und viele Automaten sind doch mit Kameras ausgestattet, die jeden ablichten, oder?«
»Da mach dir mal keinen Kopf«, erwiderte Harry. »Für den Fall werde ich vorsorgen.«
Chipper und Jeff blickten sich verwundert an. Was meinte Harry nur?
Als sie die kleine Stadt erreicht hatten, bremste Harry. »Da vorne kommen ein Haufen Läden und so. Haltet die Augen nach einer Bank offen …«
»Da ist eine.« Jeff zeigte mit dem Finger. »Gleich an der ersten Ecke.«
»Perfekt.« Harry lenkte den Wagen auf einen freien Platz am Straßenrand. »Chipper, kannst du mir kurz den grünen Rucksack hinter der Rückbank nach vorne reichen?«
Chipper sprang nach hinten, fand den Rucksack und kletterte wieder nach vorne, die Gurte zwischen den Zähnen eingeklemmt.
»Schönen Dank«, sagte Harry, öffnete den Reißverschluss und kramte ein merkwürdiges Knäuel hervor. Es sah nach lauter losen Haarbüscheln aus.
»Was«, wunderte Jeff sich laut, »was ist –«
»Wart’s nur ab.« Harry stellte den Rückspiegel so ein, dass er darin sein Gesicht betrachten konnte, und klebte sich die Büschel vorsichtig auf die Haut. So wuchsen ihm erst ein Oberlippenbart und dann ein Vollbart.
Danach grinste er Jeff an. »Schick, oder?«
»Harry …«, sagte Jeff. »Warum haben Sie eine Verkleidung im Rucksack?« Da ging ihm ein Licht auf. »Wollen … wollen Sie die Bank etwa ausrauben!?«
»Wie bitte?« Harry strich sich den Bart glatt, griff noch mal in den Rucksack und angelte eine Perücke heraus.
»Sind Sie ein … Bankräuber im Ruhestand!?«
Als Harry sich die Perücke aufsetzte, verwandelte sich seine Beinahe-Glatze in einen wuscheligen grauen Schopf.
Das sieht gar nicht so schlecht aus.
»Ich bin natürlich kein Bankräuber«, erklärte Harry. »Ich habe früher bei einer Laientheatergruppe mitgemacht. Da mussten wir in die irrsten Kostüme schlüpfen.«
Trotzdem wunderte Jeff sich noch. »Aber wieso fahren Sie den ganzen Kram im Auto herum?«
Nun zog Harry auch noch eine Blue-Jays-Baseballkappe aus dem Rucksack und setzte sie auf. »Na, weil ich so gut wie alles im Auto herumfahre, was ich habe. Bevor ich mich den Sommer über bei deiner Tante eingemietet habe, dachte ich mir, hey, könnte doch sein, dass es in der Gegend eine Theatergruppe gibt? Nicht wahr? Auf die Art hätte ich gleich mitmachen können.«
Jeff sah ihn ungläubig an.
»So war’s nun mal, ich kann es auch nicht ändern«, sagte Harry. »Bin in fünf Minuten wieder da.«
Damit stieg er aus. Jeff und Chipper sahen zu, wie Harry über den Bürgersteig lief und die Bank betrat.
»Schon irgendwie verdächtig, oder?«, fragte Jeff.
Was ist eine Laientheatergruppe?
Ein paar Wissenslücken hatte Chipper offensichtlich doch, überlegte Jeff. »Das ist, wenn ein paar Leute in ihrer Freizeit schauspielern. Verstehst du?«
Ja.
»Kommt Harry dir nicht auch ein bisschen komisch vor?«
Erst nach einer kurzen Denkpause wurde Chippers Antwort auf Jeffs Handy übertragen.
Du meinst lustig komisch?
»Nein, verdächtig komisch. Als hätte er etwas zu verbergen.«
Doch dazu konnte Chipper nichts mehr sagen, denn Harry hatte die Bank schon wieder verlassen und kam zurück zum Van.
Beim Einsteigen wedelte er mit einem dünnen Bündel Geldscheine. »Fünfhundert Mäuse. Damit sollten wir eine Weile über die Runden kommen. Hunger auf Mittagessen? Ihr seid eingeladen.«