Читать книгу Das Geheimnis der Menora - Lionel Davidson - Страница 9
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ОглавлениеAm nächsten Morgen saß ich in die Betrachtung eines Glases versunken, in dem ein paar Alka Seltzer zischten. Mir ging es gar nicht gut. Das hatte ich nun davon. Ich hatte zuviel getrunken. Und zwar mehr als alle anderen, gestern nacht und die Nächte zuvor. Das hatte seinen Grund, dachte ich, während ich den Tabletten beim Zischen, Hüpfen und Schäumen zusah.
Das taktlose Miststück gestern abend hatte nicht unrecht gehabt. In meiner Disziplin gab es wirklich zweierlei Typen. Die Wunderkinder mußten auf der Hut sein. Ihre Themen kamen und verschwanden wie der Blitz. Es hatte mit Kathleen Kanyon angefangen, die zuerst in Jericho an die Öffentlichkeit gegangen war, dann in Megiddo. Es ist keine Frage des Wissens, obwohl man natürlich auch darauf angewiesen ist, und zwar in ungeheurem Maße: auf ganze Bibliotheken voller erdrückender Massen von Wissen, um die verwitterte Schale und den verwitterten Kern zu knacken, um darin die lebendige Orchidee zu finden. Dazu gehörte viel, viel mehr, und gleichzeitig auch so lächerlich wenig: Dieser plötzliche Augenblick des Erkennens durch die Jahrtausende hindurch, zwischen dir und ihm, der das Fundstück verfaßt hatte. Dieses Aufblitzen der Vorstellungskraft, dieses metaphysische Zwielicht, in dem das verlorengegangene Fundobjekt mit seinem verlorenen Benutzer ohne formalen Denkprozeß in dem erhebenden Moment des Findens die richtige Verbindung eingeht.
Es hatte natürlich etwas mit den Synapsen, jenen Assoziationspunkten im Gehirn, zu tun; und über die wußte man wenig. Entweder blitzten sie auf oder eben nicht, durch Zufallsverknüpfungen. Wenn es passierte, dann passierte es frühzeitig, wie das Miststück richtig gesagt hatte. Man mußte es immer wieder versuchen und darauf ankommen lassen. Aber wie?
Glücklicher Michael Ventris, der mit achtundzwanzig Linear B entziffert hatte und mit dreißig gestorben war. Mit dreißig übernahm ich den Lehrstuhl.
Ein faseriger, schaumiger Niederschlag hatte sich am Glas abgesetzt. Ich schüttelte es, damit der Schaum sich setzte, und zog meinen Morgenmantel enger. Ich saß in der sibirischen Kälte des Badezimmers auf der Toilette.
Düstere Wolken der Verdrossenheit hatten mir den Schlaf geraubt und zogen heute früh auch im Badezimmer auf. War ich auf diese Erziehungsaufgabe überhaupt vorbereitet? Das war die Frage, eine große, reichlich späte Frage. Um ein guter Lehrer zu sein, brauchte man wahrscheinlich einen gewissen Drang dazu: Man mußte den Wunsch verspüren, anderen etwas zu erklären, vorzugsweise allen alles zu erklären. Ich verspürte diesen Drang nicht. Mein Sehnen war ein anderes. Wenn ich etwas begriffen hatte, reagierte ich, indem ich darüber den Mund hielt. Wenn ich etwas entdeckt hatte, reagierte ich darauf, indem ich es wieder an seinen Platz legte, genau so, wie es zuvor gelegen hatte.
Das war natürlich nur die erste Reaktion, auf die weitere folgten. Vielleicht neigte ich in meinem verborgenen Geltungsbedürfnis zur Übertreibung und glänzte deshalb mit dem, was der weibliche Drachen meine »brillante und eigenwillige Formulierung« genannt hatte. Trotzdem trieb mich eine anfängliche Neugier und kein pädagogisches Interesse.
Das hieß nicht unbedingt, überlegte ich, während ich mich matt und verschlafen auf dem Plastiksitz bewegte, daß ich ein schlechter Lehrer war. Man hatte mir immerhin einen Lehrstuhl angeboten. Das war schon etwas, ganz ohne Zweifel. Meine Vorlesungen zogen immer ein paar aufmerksame Zuhörer an, die Kurse waren gut besucht. Zu gut besucht. Seit dieser blödsinnige junge Araber in Qumran seine dummen Finger nicht von dieser Jesaja-Schriftrolle hatte lassen können, wollte jeder mit dabeisein. Zu mir kamen Priesterzöglinge, Werbeagenten, Debütanten; ehrgeizige Nervensägen jeglicher Couleur. Was hatten sie mit den Wirrungen von Talmud, Mischna, Targum und Sohar zu schaffen? Was interessierte sie an dem Leben, das die damaszenischen und alexandrinischen Schriften beschrieben? In welcher Weise konnten der Zorn, die Geschäfte und die Religion der Völker, die akkadisch, syrisch, ugaritisch, hebräisch und aramäisch sprachen, sie bereichern? Und wenn dies der Fall war, sollte es erlaubt sein? Die ganze Sache war ein Affront und konnte zum öffentlichen Ärgernis werden. Literatur von über zweitausend Bänden war durch das groteske, blühende Interesse an Schriftrollen bereits entstanden. Es gab sogar einen Fernlehrgang: »Lernen Sie im Selbststudium das Entziffern der Schriftrollen des Toten Meeres«!
Viel zuviel Wissen wurde angesammelt, und es würde zweifellos noch schlimmer kommen. Die Berufung an die Universität Bedfordshire war nur ein weiteres Indiz dafür. Kaum entwickelte man an einer speziellen Disziplin der akademischen Welt ein Experteninteresse, schon befand man sich in der Position eines Pädagogen, der andere ausbildete. Die Sache uferte aus. Es war absurd. Was wollten die mit all diesem Wissen? Was führte man damit im Schilde? Es war eitles Gehabe. Und ich befand mich in einer Position, von der aus ich der Eitelkeit Vorschub leistete, indem alte Intimitäten ans Licht gebracht und alte Attraktionen der Öffentlichkeit preisgegeben wurden. Sie alle sollten sich lieber darauf beschränken, sich den fundamentaleren Bedürfnissen ihrer eigenen Gesellschaft zu widmen; ein Gedanke, der über eine einfache logische Kette zu einem meiner eigenen fundamentalen Bedürfnisse führte: dem alten Adam.
Warum war das aufreizende Mädchen gestern abend gegangen, statt zu mir zurückzukommen? Sie hatte doch gesagt, sie würde zu mir zurückkommen. Oder hatte sie das nicht gesagt? Wenigstens hatte sie gewinkt, wie Uri sagte; eine Geste, die vermutlich eher mir als ihm gegolten hatte. Was mochte diese Geste bedeutet haben?
Die Tabletten hatten sich aufgelöst, der Schaum hatte sich abgesetzt. Ich trank nachdenklich.
Vielleicht hieß es, oder vielleicht auch nicht, daß sie sich weiter, unter Ausschluß der Öffentlichkeit, mit mir treffen wollte. Aber das Mädchen war gerissen; da konnte man nicht sicher sein. Beispielsweise hatte sie sich für Sonntag um vier nicht festgelegt, sie hatte nur »vielleicht« gesagt. Gab sie mir einen ermutigenden Wink, oder hielt sie mich zum Narren? Der alte Adam, im Augenblick vielleicht träge, wurde zum Tyrannen, wenn sein Zeitpunkt kam; er würde mich dazu zwingen, es herauszufinden. Diese Aussicht war nicht sehr tröstlich. Nichts war heute tröstlich.