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Kapitel 1

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Lautlos trat ich ein, während ich mir die kühlen Regentropfen von der Stirn tupfte, zog den Mantel aus und schnupperte. Ich hatte es mir gedacht. Schon wieder. Noch nie hatte ich sie auf frischer Tat ertappt. Ich hängte den Mantel auf, lief leise über den Teppich den Flur entlang und erhaschte durch die geöffnete Tür des Arbeitszimmers einen Blick auf sie. Sie stand am Fenster, den Stein des Anstoßes im Mund, und kratzte sich träge, während sie nach draußen sah.

»Na, Ettie, noch hier?«

»Herrgott!« Sie fuhr herum und spuckte das Ding vor Schreck fast aus. »Sie schleichen sich ja an wie eine Katze!«

»Noch nicht fertig?«

»Fehlt nur noch der letzte Schliff«, sagte sie und wedelte mit dem Staubtuch. »Ich will, daß Sie es hier schön sauber haben.«

»Das ist fein. Nehmen Sie sich eine Zigarette, Ettie.«

»Habe ich schon. Habe mir sozusagen eine von Ihnen geborgt.«

»Ich verstehe.«

»Meine sind ausgegangen. Ziemlich stark, die hier, nicht? Die könnte ich nicht immerzu rauchen.«

»Das ist auch nicht unbedingt nötig, Ettie.«

»Es ist ja nur, weil mir meine ausgegangen sind. Wofür sind diese schwarzen Dinger am Filter?«

»Für Russen mit grobschlächtigen Mündern.«

»Eher mit grobschlächtigen Seelen.«

»Vielen Dank.«

»Ihre nicht. Meistens jedenfalls nicht. Ich bin fast fertig.«

»Gut. Hat Hopcroft angerufen?«

»Nein.«

»Und Caroline?«

»Niemand hat angerufen.«

»Komisch.«

»Und ich war die ganze Zeit hier, sogar als ich nach einer Zigarette lechzte«, versicherte sie, zog gewissenhaft an der Zigarette meines Vaters und verzog sich staubwischend in eine andere Ecke des Raumes. Ich sah ihr nach und warf einen Blick auf die Zigarettenschachtel, die sie offen auf dem Schreibtisch liegengelassen hatte. Es fehlten wieder drei. Kein Drama, ich selbst rauchte sie nicht. Trotzdem, es ging ums Prinzip. Sie nahm sich Freiheiten heraus. Jeder nahm sich Freiheiten heraus. Warum also nicht auch Hopcroft oder Caroline? Mein Magen rumorte, wie immer vor einer Reise. Es gab so viel zu erledigen. Ich setzte mich hin, zog ein Blatt Papier hervor und machte mich an die Arbeit.

Geliebte Veruschka, mein Schatz,

Heute kam kein Brief von Dir, und das ist für mich ein schlimmer Verlust. Ich hoffe, daß morgen Post kommt, und warte geduldig darauf. Du bittest mich, geliebter Schatz, Dich zu umarmen, und sei es auch nur im Brief. Verunja, meine Liebe, das tue ich, mit jedem Wort, mit jeder Faser meines Herzens. Aber solche Zärtlichkeiten können mir nicht genügen. Doch ich hoffe, ...

So ging es noch eine Weile weiter, ich quälte mich da durch, Etties Anwesenheit im Zimmer stets gegenwärtig. Dann brachte ich mit einem Gewaltakt den letzten Abschnitt hinter mich.

Du weißt es, nicht wahr, daß ich jede Sekunde an Dich denke? Du bist es, durch die ich denke, atme und lebe. Du bist nicht verärgert und böse, sondern schreibst mir nette, zärtliche Briefe, und wenn ich bei Dir bin, küßt und umarmst Du mich, nicht wahr, Veruschka? Bleib gesund, mein einziges Glück, und schreibe mir regelmäßig jeden Tag, sonst ist mir elend zumute. Ich schicke Dir, meiner innig geliebten Verusenka, alle meine Liebe.

Dein Chaimchik

»Eine ulkige Schrift ist das«, sagte Ettie.

Sie stand hinter mir und blickte mir über die Schulter.

»Ja. Haben Sie etwas auf dem Herzen, Ettie?«

»Also.« Sie schien nervös zu sein und nestelte an ihrem Haar herum. »Ich hab’ mich bloß gefragt«, fing sie an, »ob Sie es in diesem Monat vielleicht versuchen könnten.«

»Ich verstehe.«

Ich hatte den Brief noch nicht datiert und holte es nach. »Pinsk, 27. August 1902.« Oder war es 1903? Ich sah noch einmal nach. Nein, er hatte ihn 1902 geschrieben.

»Ich möchte natürlich nicht drängeln«, fuhr Ettie fort, »aber Sie wissen schon. Darum wollte ich Sie nur noch bitten, bevor Sie gehen.«

»Ich reise erst morgen ab.«

»Bevor Sie zur Bank gehen.«

»Ach so.« Ich war schon dort gewesen, kam gerade von dort. Es hatte eine lange Verzögerung wegen dem bißchen fremder Währung gegeben.

»Es ist wegen dieser verdammten Aussperrung, die angekündigt wurde«, sagte Ettie. »Sie wissen doch, die Aussperrung. Ist ja wohl klar, wer darunter zu leiden hat.«

»Überlassen Sie die Arbeiter nur mir, Ettie. Auf dem Gebiet bin ich Experte.«

»Wenn soweit dann alles in Ordnung ist, mache ich mich jetzt auf den Weg. Sie denken daran, ja?«

»Ja«, antwortete ich. Stirnrunzelnd nahm ich ein anderes Blatt heraus.

Mein lieber Herr Motzkin,

leider kann ich nicht selbst zu Ihnen kommen, und nehme deshalb brieflich Kontakt zu Ihnen auf. Es geht mir sehr schlecht, mein Name ist absolut keinen Pfennig mehr wert. Der Erste rückt näher, und ich kann die Miete nicht bezahlen. Ich schulde verschiedenen Personen, die mir unerträgliche Unannehmlichkeiten bereiten, Geld. Deshalb bitte ich Sie, mir unbedingt dreißig Mark zu leihen. Sie sind der einzige Mensch, auf den ich mich verlassen kann. Wenn Sie sich weigern, ist meine Situation verzweifelt. Wenn ich in der Lage wäre, einen anderen Ausweg zu finden, hätte ich Sie nicht behelligt, aber ich bin in schrecklicher Geldnot, und völlig auf Sie angewiesen. Ich habe nichts, was ich verpfänden könnte. Meine Kompasse sind längst im Leihhaus, sie waren mein einziger Besitz. Verzeihen Sie mir, daß ich mich an Sie wende.

Der Ihre

Während des Schreibens hatte ich Etties übliche Aufbruchgeräusche wahrgenommen, das Wechseln der Schuhe und des Kittels, und verschiedene Laute, die ihre Einkaufstaschen und der Schirm verursachten. Aber sie hatte, bevor sie gegangen war, Caroline noch die Tür geöffnet. Ich hatte die Klingel gehört.

»Caroline!«

»Ja.«

»Was machst du?«

»Augenblick.«

Sie trat ein und sah aus wie eine gebadete Maus. In der Hand trug sie eine Hose und einen flauschigen Pullover.

»Kommst du vom Einkaufen?« fragte ich.

»Nein. Ich zieh’ mich um. Wenn ich ein heißes Bad genommen habe. Draußen schüttet es wie aus Eimern«, erklärte sie mürrisch.

»Du hast gesagt, du würdest anrufen.«

»Ich bin direkt in ein Taxi gesprungen. Hatte Glück, eins zu erwischen.«

»Hättest du von dort, wo du warst, nicht anrufen können?«

»Ich war im Public Record Office, und habe gefroren wie ein Schneider, das kann ich dir sagen. Die haben die Heizung abgedreht.«

»Wo ist Hopcroft?«

»Nach Swiss Cottage gefahren.«

»Ich dachte, ihr wolltet gemeinsam fahren.«

»Ich hab’s mir anders überlegt. Es hat zu sehr geregnet. Er hat meinen Schirm genommen. Sieh mich doch an. Und heute abend kommt Willie«, fuhr sie fort und ging.

Ich ließ mir das, was sie gesagt hatte, durch den Kopf gehen, dann hörte ich das Badewasser rauschen und fuhr mit dem nächsten Brief fort.

Liebe Veruschka,

ich habe tatsächlich beschlossen, nicht mehr zu schreiben, sondern zu warten, bis Du Dich aufraffst, mir den Brief zu schicken, den Du auf Deiner letzten Postkarte versprochen hattest. Seit meiner Rückkehr aus Wien habe ich regelmäßig geschrieben, jeden Tag, oder jeden zweiten, aber ich habe nicht einmal ...

Noch viele weitere Zeilen wohlberechtigter Klage. Ich tastete mich zum Ende vor.

Über mich gibt es nicht viel zu berichten. Meine Tage und Wochen vergehen in Eintönigkeit ausgefüllt, nur mit Arbeit im Labor, die allerdings sehr gut vorangeht. Die Ferienzeit geht zu Ende, und die Mitarbeiter kommen nach und nach zurück. Kürzlich ist der Assistent von Perkin eingetroffen. Er heißt Pickles. Wir arbeiten seit vier Tagen zusammen, und ich bin sehr zufrieden. In erster Linie ist jetzt ein Mensch hier, mit dem ich tagsüber ein paar Worte wechseln kann. Und zweitens kann ich mit ihm Englisch sprechen, was sehr nützlich ist. Wenn Du kommst, kann ich bestimmt fast fließend sprechen ...

Caroline murmelte im Badezimmer vor sich hin. Ich unterschrieb den Brief, datierte ihn: »Manchester, 13. September 1904«, und warf einen Blick auf die Uhr. Halb drei.

»Caroline!«

»Ja.« Das Badewasser lief noch immer.

»Merkwürdig, daß Hopcroft noch nicht angerufen hat. Ich muß Connie Bescheid sagen.«

»Ich kann dich nicht verstehen.«

Ich trat ein. Das unordentliche Mädchen hatte ihre Kleider einfach auf einen Haufen geworfen. Sie lag im Wasser und rauchte. Ein dünner Strahl heißen Wassers lief noch immer.

»Ich sagte, es ist merkwürdig, daß Hopcroft noch nicht angerufen hat.«

»Vielleicht ist was an der Leitung. Ich habe auch versucht, dich anzurufen. Ich bin nicht durchgekommen. Meine Güte, zum ersten Mal heute wird mir warm.«

»Da ist noch Connie. Ich muß sie anrufen, in Rehovot.«

»Du hast dein Flugticket schon, oder?«

»Noch nicht, Liebling. Ich habe es noch nicht abgeholt und muß noch tausend Dinge erledigen.«

»Könntest du das eben ins Waschbecken tun«, bat sie und reichte mir die Zigarette. »Und dir gleichzeitig aus dem Kopf schlagen, daß ich losrenne und dir dein Ticket hole. Ich tue keinen Schritt mehr vor die Tür.«

»Oh.« Ich streifte die Asche ab und gab ihr die Zigarette zurück.

»Ja. Ich habe heute wirklich ein paar ganz interessante Sachen gefunden.«

»Wirklich, Darling?«

»Faszinierende Neuigkeiten. Es gibt eine Kabinettsakte, in der sich Ramsay Mac über Chaimchik ausläßt. Er hat auf Ramsay Mac einen enormen Eindruck gemacht, mußt du wissen.«

»Tatsächlich? Ist ja wundervoll.«

»Wo liegt eigentlich das Hauptproblem?«

»Ich muß Connie Bescheid sagen wegen Hopcroft. Ob er das Ding bekommen hat oder nicht.«

»Er wird schon noch auftauchen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich war klitschnaß.«

»Wann ist er aufgebrochen?«

»Ich weiß es nicht genau. Er hat neben mir gelesen. Er war irgendwie an Sachen aus dem India Office geraten – ich weiß nicht wieso. Er schweift oft ab. Wahrscheinlich schweift er jetzt durch Swiss Cottage. Wie spät ist es?«

»Halb drei vorbei.«

»Er ist vor zwölf gegangen. Er wird noch ein bißchen mit ihr plauschen, Hopcroft plaudert gern.« Sie setzte sich auf. »Mist. Kannst du die mal kurz halten?«

Ich nahm ihr die Zigarette aus dem Mund und reichte ihr ein Badetuch für die Hände.

»Warum muß Connie das schon heute wissen? Warum sagst du es ihr nicht morgen, wenn du sie triffst?«

»Ich weiß nicht warum. Irgendwie hat es mit Bergmann in Jerusalem Aufregung gegeben. Sie muß es ihm sagen. Vielleicht fährt er irgendwo hin.«

»Na, Hopcroft wird schon kommen. Und wenn er kommt, kannst du ihn losschicken, um das Flugticket abzuholen.« Sie lächelte mich an.

»In Israel ist es zwei Stunden später. Schon halb fünf. Dort machen sie früh Schluß.«

»Die warten noch. Darf ich dich etwas Persönliches fragen?«

»Frag.«

»Was hat es eigentlich mit kleinen Brüsten auf sich? Ich meine, wem gehört eigentlich der Pullover?«

»Ich weiß es nicht.«

»Du führst ein angenehmes Leben, was? Abgesehen von dem ruhigen Job, also, was ist dran?« Sie sah auf ihre Brüste. »Ich weiß, angeblich ist irgend etwas Aufregendes dran. Aber was nur?«

»Was sagt Willie denn dazu?«

»Ach, komm. Den kann ich so was nicht fragen. Nicht so wie einen Freund. Was man wirklich wissen muß, erfährt man nie.«

»Nun, sie sind sehr hübsch.«

»Glaubst du, daß sie auf komische Typen attraktiv wirken?«

»Ist Willie ein komischer Typ?«

»Es gibt eine ganze Menge Dinge, die man nie herausfindet. Und alles geht so schnell. Vielleicht findet man irgendwann etwas heraus, schon möglich. Aber erst später. Alles erfährt man zu spät. Deprimierender Gedanke.«

»Ein typisches Problem junger Menschen. Du bist in einer Sturm- und Drang-Phase.«

»Bin ich das?«

»Weil du jung bist. Die Jugendzeit ist eine unruhige Zeit. Und deine Arbeit deprimiert dich. Die Menschen, deren Leben man erforscht, hatten normalerweise ein elendes Ende und sterben nach ihrem Triumphen. Wir sind Analytiker des Tragischen, Darling – jedenfalls die Andeutung davon.«

»Na, dein Englisch ist vielleicht super.«

»Vielen Dank. Ich möchte auch alles über Ramsay Mac und Chaimchik erfahren, ich bin mir sicher, daß du das Entscheidende herausgefunden hast. Du bist ein kluges Mädchen mit einem hellen Kopf und genau den richtigen Brüsten. Sie passen zu dir, wirklich. Mir rumort nur andauernd der Magen, weil ich bald verreise, noch nicht gepackt habe, noch kein Ticket habe, und Hopcroft noch nicht angerufen hat, und ich Connie anrufen muß und nicht weiß, was ich ihr sagen soll. Ich befinde mich in einer dieser schwebenden Situationen, weißt du? Das kann ich gar nicht leiden.«

»Dann sag mir, was ich tun kann, abgesehen von dem Ticket, das scheint genau das Richtige für Hopcroft zu sein.«

»Ich weiß nicht. Jemand muß seine Aufzeichnungen durchgehen, wenn er zurück ist, falls sich Fragen ergeben.«

»Ich kann sie durchgehen. Ich bin ein heller Kopf«, sagte Caroline.

»Das hat dir gefallen, stimmt’s?«

»Ja, war ganz nett. Dann steig’ ich jetzt besser aus der Wanne, mit diesem Haufen Arbeit in Aussicht.«

Ich trat beiseite. »Es könnte allerdings sein, verdammt – ich möchte wetten, daß einiges davon auf Russisch ist. Verflucht und zugenäht. Und ich plage mich immer noch mit dem kleinen Kaplan in Manchester herum, dem habe ich die frühen Briefe zugesagt.«

»Ich kann mich um Kaplan kümmern«, sagte sie, und trat von einem dampfend nassen Bein aufs andere.

»Das kannst du nicht, Dummchen. Du weißt doch genau, die sind auch auf Russisch. So wollte es Kaplan. Er wollte sie nicht in englischer Sprache veröffentlicht sehen. Ich hätte mich schon aufgemacht und sie kopiert, wenn ich nicht dauernd auf einen Anruf von dir und von Hopcroft gelauert hätte. Statt dessen mußte ich sie von Hand abschreiben, und ihr seid schuld.«

»Igor, Darling, du wirst griesgrämig und seltsam. Also reich mit etwas von dem tollen Talkumpuder und verschwinde.«

Im selben Augenblick klingelte das Telefon, also verschwand ich, im Laufschritt. Hopcroft.

»Hallo.«

»Mr. Igor Druyanov?«

Nicht Hopcroft. Ein Ferngespräch. »Ja.«

»Ein Anruf aus Rehovot, Israel, für Sie.«

»Ja. In Ordnung.«

»Igor?«

»Connie, Liebes!«

»Das ist wirklich erstaunlich. Ich habe das Gespräch gerade erst angemeldet! Ich dachte, ich melde es an, und damit hat es sich. Es ist schon so spät. Du wolltest mich anrufen. Wirklich erstaunlich!« Der schwere, träge, kehlige Brooklyn-Akzent mit einem Schuß Venezolanisch kam melodiös durch die Leitung. Ich sah sie vor mir, wie sie dastand, die Perle des Südens, dunkle Augen im lebhaften Gesicht, in ihrem Büro am Ende des Flurs, in der Grabesstille des Präsidentenpalais, dem Heiligtum der Nation.

»Ja, also –«

»Meyer ist hier. Ich bin gerade bei Meyer. Er will dir ›Guten Tag‹ sagen.«

Ich schaltete rasch um. Also nicht im Nationalheiligtum, in Meyers Haus. Gleich neben dem Haus von Isaac Wolfson. Pinienholz, dunkelblaue Teppiche, Pracht, viele Gemälde; draußen Bäume, die lieblich-harmonische Landschaft, die das Institut umgibt.

»Igor, Sie Hundesohn.«

»Nett, daß Sie das sagen, Meyer.«

»Hören Sie, Bergmann sitzt mir im Nacken. Alle möglichen Schlaumeier hängen an mir dran. Wie wär’s, wenn Sie sich mal ein bißchen in Trab setzen würden?«

»Worum geht es denn, Meyer?«

»Haben Sie sie schon, diese Vava-Unterlagen?«

»Hopcroft bringt sie gleich her.«

»Wer?«

»Hopcroft. Ein Assistent. Er ruft mich noch an. Hier regnet es, und wahrscheinlich kommt er schlecht durch.«

»Wie?«

Es war viel zu kompliziert, das jemandem zu erklären, der gerade von Israel aus anrief. Ich sah im Geiste, wie sich seine Augenbrauen runzelten: weiße Augenbrauen, die weiße Mähne, die große, eingedrückte Nase im dunklen Indianergesicht. Er war neunundsiebzig und sah aus wie sechzig, ähnelte einem Hollywood-Tycoon: Meyer Weisgal, Chaimchiks oberster Diener, Begründer des Instituts und Hüter seines Namens.

»Alles in bester Ordnung, Meyer. Da haben wir das Problem, daß Vavas Tochter im Moment umzieht. Sie ist Kinderärztin im University College Hospital und hat gerade ihren Mann verlassen. Jetzt hat sie ein Apartment in Swiss Cottage. Es war nicht sicher, ob die Unterlagen bereits dort waren oder noch in Wimbledon, wo sie mit ihrem Mann gelebt hat.«

»Wo?«

»In Wimbledon. Das ist ein Stadtteil.«

»Klar. Das kenne ich. Dort spielen sie Tennis. Wimbledon.«

»Ganz recht. Genau.«

»Haben Sie jetzt die Unterlagen oder nicht?«

»Grüß Connie von mir«, sagte Caroline vom Flur aus. Sie hatte sich in ein Handtuch gewickelt.

»Wir sehen uns dann, Meyer«, sagte ich. »Und Caroline möchte, daß ich Connie schöne Grüße von ihr bestelle.«

»Hören Sie, Igor, bringen Sie die Sachen mit, klar? Hier, Connie, übernehmen Sie.«

»Igor.«

»Hallo, Connie. Caroline läßt dich schön grüßen. Sie ist hier.«

»Ist sie schon verlobt?«

»Noch nicht, glaube ich. Connie, was soll dieser furchtbare Unsinn mit Vava?«

»Oh, da bestehen einige Zusammenhänge. Du hast sicher noch eine Menge weiterer Fragen auf Lager, wenn du kommst?«

»Eine Unmenge. Es ist, als sei ich seit Jahren nicht bei euch gewesen.«

»Es ist so viel passiert, Igor. Hör mal, würdest du bitte Dick Crossman anrufen und ihm sagen, daß er seine Notizbücher hier vergessen hat? Sie sind nicht weg. Ich habe sie hier und schicke sie ihm zu. Und Barney Litvinoff auch. Hast du das mit Dick verstanden?«

»Du schickst ihm seine Notizbücher zu. Sie sind nicht weg.«

»Richtig. Und was Barney angeht, in Jerusalem drehen sie wegen der Korrekturfahnen von Band 5 durch. Er hat sie alle mitgenommen, ich weiß nicht, wieso. Hast du kein Exemplar bekommen?«

»Nein, Liebes. Ich muß mal meinen Vater aufsuchen.«

»Ja, gut, ruf ihn an. Wie sieht es bei euch aus?«

»Mies. Es regnet.«

»Dann wird es dir hier gefallen. Die Orangenbäume tragen Früchte. Heute abend pflücke ich dir noch ein paar, gleich.«

»Mit Orangenblüten. Shalom, Connie.«

»Shalom, shalom, Igor. L’hitraot.

»L’hitraot«. Bis zum Wiedersehen. Die Floskel schien ihren eigenen süßen Duft von Orangenblüten mit sich zu bringen. Ich erschrak, als ich mich umdrehte und die große, blonde ins Handtuch gewickelte Gestalt erblickte.

»Was hat sie über mich gesagt?«

»Sie hat gefragt, ob du schon verlobt bist. Ich sagte ihr, es sei noch nicht ganz soweit.«

Ihre Mundwinkel sanken herab. »All das Gerede über Orangenblüten. Manche Leute haben das Glück gepachtet, nicht? Dieses Londoner Mistwetter.«

»Du hast ja heute abend Willie.«

»Stimmt genau. Heute abend ist Willie angesagt.« Sie ging.

»Caroline.« Ich ging zu ihr hin und umarmte sie in ihrem Handtuch. »Sie sagte, du seist das reizvollste Geschöpf, das sie kenne. Sie wünschte, du würdest mitkommen und einen Hauch davon mitbringen.«

»Wirklich?«

»Wirklich.«

Sie gab mir einen kleinen Kuß. »Also nicht nur gescheit, wie?« Die übliche blitzartige Wendung. Ich wendete genauso blitzartig.

»Ich glaube, von Intelligenz war keine Rede. Sie halt dich für wahnsinnig sexy, und graziös, und alles, was Damen gern wären. Die meisten anderen Menschen auch.«

»Ach nein, wirklich?«

»Soweit ich es beurteilen kann, mit meinem beschränkten Sinn für derartige Dinge.«

»Unter dem Deckmantel des Erbauers des Sozialismus.«

»Du bist auf dem besten Wege, dem Erbauer zum Aufbau von etwas ganz anderem zu verhelfen, du in deinem Handtuch. Und wenn ich an all die Dinge denke, die ich noch erledigen muß!«

»Dann erledige sie lieber.«

In eine Wolke meines Puders gehüllt zog sie zufrieden ab, und ich ging zum Telefon. Ich unterrichtete Mr. Crossman über die Notizbücher und sagte Mr. Litvinoff wegen der verschwundenen Korrekturabzüge Bescheid, dann legte ich auf und starrte das Telefon eine Weile an. Es rührte sich nicht.

»Caroline.«

»In der Küche.«

Sie machte sich gerade etwas zu essen. Ich ging zu ihr.

»Findest du es nicht seltsam, daß Hopcroft noch nicht zurück ist? Es ist schon nach drei. Der kann doch nicht so lange quatschen.«

»Vavas Tochter hat noch kein Telefon, oder?«

»Ja, das ist das Problem.«

Sie hatte keins. Sie war gerade erst nach Swiss Cottage gezogen, und ihr Telefon war noch nicht angeschlossen. Ihr Name war Olga Green, geborene Kutcholsky. Die Spur hatte sich rein zufällig ergeben, wie das bei vielen Nachforschungen der Fall war. Chaimchik hatte Fritz Haber, dem Chemie-Nobelpreisträger, geschrieben, und Vava erwähnt. Es ging um eine wissenschaftliche Angelegenheit, die nicht in meinen Bereich fiel, aber ich hatte den Namen trotzdem markiert. In unserem biographischen Index fand sich kein Vava, deshalb schickte ich die Sache an Connie, um zu sehen, ob in Rehovot etwas vorlag. Dort lag auch nichts vor, und daraus hatte sie geschlossen, daß dies ein Fall für Professor Bergmann in Jerusalem sein mußte. Das hatte sich als zutreffend erwiesen. Bergmann schrieb den Band über Chaimchiks wissenschaftliche Arbeit, und alle entsprechenden Unterlagen waren ihm übersandt worden. Nach einer längeren Pause war von Bergmann eine Notiz eingetroffen, die besagte, daß es sich bei Vava um einen gewissen Dr. Vladimir Kutcholsky handelte, der Mitte der dreißiger Jahre bei irgendeiner Ölgesellschaft in London gearbeitet hatte. Dann kam ein weiterer Brief, in dem stand, daß es zwischen ihm und Chaimchik einen Briefwechsel gegeben haben mußte mit der Bitte, ob wir das nicht herausfinden könnten.

Eine reine Routineangelegenheit. Hopcroft hatte zu Beginn unserer Arbeit Monate mit ähnlichen Nachforschungen zugebracht. Mein Bereich waren die Bände 15 und 16 (1931–35, Chaimchiks Zeit in der Wildnis, einer sehr fruchtbaren Wildnis), und Hopcroft hatte ein paar bisher unbekannte Briefe aufgespürt. In der Forschung stieß man oft von einem Punkt auf den nächsten, und seine Eigenart, abzuschweifen und hier und da Schwätzchen zu halten, hatte ihn hierfür geeignet erscheinen lassen.

Er war zu verschiedenen Ölgesellschaften und Berufsverbänden gegangen und hatte Vava schließlich aufgespürt: Auf einem Friedhof in Bushey, wo er seit 1962 lag. Seine Frau war vor ihm gestorben, und der Nachlaß, wie eine weitere Reihe von Nachfragen ergab, war an die Tochter Olga gegangen, eine Ärztin. Olga war nicht schwer zu finden gewesen, nur hatte Hopcroft sie zu einem ungünstigen Zeitpunkt erwischt. Sie trennte sich gerade Schritt für Schritt von ihrem Mann.

Sie bestätigte, daß zwischen ihrem Vater und Chaimchik ein Briefwechsel stattgefunden hatte, aber sie hatte keinen direkten Zugang zu den Briefen, weil diese sich in einem von etwa zwanzig Kartons befanden, und zwar entweder in Wimbledon oder Swiss Cottage. Nach anfänglicher Gleichgültigkeit, die sich plötzlich in Ungeduld verwandelt hatte, drängte mich Rehovot, ich spornte wiederum Hopcroft an, der seinerseits Olga drängte. Sie hatte versprochen, die Sachen am heutigen Tag bereit zu haben, damit ich sie mitnehmen konnte. Sie hatte sich ohnehin ein paar Tage freigenommen, um ihren Umzug vor Weihnachten abzuschließen.

Dieser Gedankengang rief einen neuen hervor.

Ich sagte: »Weißt du, mir fiel gerade ein, worauf Ettie anspielte. Sie gab mir einen dezenten Hinweis auf Weihnachten. Noch was, worum ich mich kümmern muß.«

»Ich kümmere mich darum. Laß mir einen Scheck da.«

»Ich wünschte, mir wäre nicht so schrecklich unwohl«, sagte ich.

»Vielleicht ist das jugendlicher Sturm und Drang.«

»Ich wollte, du würdest dir deine Bonmots für Willie aufsparen.«

»Soll ich dir etwas verraten?« fragte sie, während sie vor sich hinblickte und langsam ihren Käsetoast kaute. »Um die Wahrheit zu sagen, mir geht Willie ein bißchen auf die Nerven.«

»Was ist mit ihm?«

»Nichts. Er ist nett.«

»Was ist los, Darling?«

»Er ist im Kopf nicht besonders helle, weißt du.«

»Ich dachte, du seist nicht so auf Intelligenz aus.«

»Bei Frauen.«

»Was in Gottes Namen ist bloß mit Hopcroft passiert?«

»Ach, laß doch Hopcroft. Ich dachte, wir führen gerade ein interessantes Gespräch«, seufzte sie.

»Caroline, was ist los mit dir?«

»Was ist mit dir los?«

Ihre sonst so blassen Wangen waren rosig, und ihre Augen glänzten ein wenig. Um ihren Mund waren Toastkrümel, die sie ableckte. Das Telefon klingelte, während sie mich noch ansah, und sie sagte, »Ja«, nickte und stand auf, um abzunehmen. Das ›Ja‹ schien keine Antwort auf das klingelnde Telefon zu sein. Ich starrte ihr nach. Worauf bezog es sich dann? Das dumme Ding konnte sich doch nicht ernsthaft in mich vergafft haben? Vor nicht einmal zehn Minuten hatten wir völlig normal in ihrem Bad geplaudert – das heißt, in meinem Bad. Ich hatte ihr was von meinem phantastischen Puder abgegeben. Ich brütete über diese Komplikation nach und hörte sie im anderen Raum sprechen. Dann rief sie: »Igor.«

Sie hatte aufgelegt und starrte auf einen Zettel. »Das war Hopcroft, oder besser gesagt, von Hopcroft. Er ist zusammengeschlagen worden.«

»Um Gottes willen! Ist ihm etwas passiert?«

»Er ist im Krankenhaus. Von dort kam der Anruf. Es ist nicht so schlimm, du kannst ihn sprechen. Tatsache ist, daß er dich sehen will.«

»Hat er die –« fing ich an und brach mitten in der herzlosen Frage ab.

»Ich weiß nicht, was er hat. Die Frau am Telefon hat gesagt, er habe Prellungen. Im St. Mary- und St. Joseph-Hospital«, las sie ab.

»Wo, zum Teufel, ist das?«

»In der Gegend von Swiss Cottage offensichtlich. Wie ich gesagt habe. Er lief dort wahrscheinlich gerade herum. Also, ich kümmere mich mal um die dringenden Sachen. Womit soll ich anfangen?«

»Ach, verdammt, ich weiß nicht.« Ich zog mir den Mantel über. »Ich bin total durcheinander. Ich besorge mir das Ticket, wenn ich sowieso unterwegs bin.«

»Was ist mit Kaplan?«

»Damit bin ich fast fertig. Du siehst ja, was ich schon gemacht habe. Schick ihm die bereits vervollständigten. Schreib einen kurzen Begleitbrief. Oh Gott, oh Gott«, seufzte ich.

»Muß noch jemand angerufen werden?«

»Nein, ich glaube nicht. Der arme Hopcroft.«

»Ja. In der Blüte seines Lebens, und so weiter. So schlecht geht es ihm doch gar nicht, Dummerchen.«

»Wir sehen uns morgen früh, ja?«

»Ja«, sagte sie.

»Gut.« Ich eilte nach draußen, wollte ihr noch einen angenehmen Abend wünschen, ließ es dann lieber und erwischte am Russell Square ein Taxi.

Das schwarze Gold

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