Читать книгу Stummer Verrat - Lisa Scott - Страница 11
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Оглавление»LASS SIE LOS!«, schrie Angus, und das blanke Entsetzen in seiner Stimme riss Nat aus ihrer Ohnmacht. Ihre Augen füllten sich mit Licht. Angus packte Buford an der Schulter und brüllte wie ein rasendes Tier, als er seine Hände um den tätowierten Hals des Gefangenen legte und zudrückte. Nat schlug um sich, stieß wahllos mit den Beinen in die Luft und versuchte, sich unter ihrem Peiniger wegzuwinden.
»Du kleine Schlampe!«, rief Buford, und sie spürte heißen Speichel auf ihrem Gesicht.
»Lass mich!«, schrie Nat wütend, dann hob sie den Kopf und biss ihn, so fest sie konnte, in seine unrasierte Wange. Mit lautem Geheul fuhr er zurück, dann stürzte Angus auf ihn zu und schlug ihn wieder und wieder ins Gesicht. Nat spürte, dass Bufords Griff sich löste, sie bäumte sich noch einmal auf und schob seinen schweren Körper weg, während Angus an ihm zog. Dann kroch sie rückwärts wie ein Krebs, während Buford sich umdrehte, um sich Angus vorzunehmen, der ihm noch einmal einen Hieb versetzte, diesmal direkt auf die Schläfe:
»Natalie! Rennen Sie!«, schrie Angus in dem Bruchteil einer Sekunde, bevor Buford sich erholte und seine Faust ihn in den Nacken traf. Nat sah entsetzt, wie Angus’ Augen aus den Höhlen traten und sein Gesicht sich schmerzlich verzerrte. Seine Hand flog zum Hals, und er stolperte rückwärts. »LOS!«, brachte er gerade noch heraus.
Nat kam mühsam auf die Beine, als der blutüberströmte Angus nach einem Stuhl griff, den er gegen Buford schleuderte, dann war sie mit einem Satz aus der Tür und lief, so schnell sie konnte, den Gang entlang. Das ganze Gefängnis war in hellem Aufruhr. Die Alarmsirenen heulten. Die Lautsprecher bellten. Sie roch Rauch. Uniformierte einer Sondereinsatztruppe in schusssicheren Westen, mit schwarzen Sturmhauben und Gesichtsschutz strömten in den Gang und stießen in geschlossener Formation in Richtung Zellenblock vor.
»Hilfe!« Nat bekam den Ärmel eines Uniformierten zu fassen, aber er blieb nicht stehen.
»Wir haben einen Einsatz!«, rief er ihr über die Schulter zu. Überall war Geschrei zu hören. Es musste ein Aufstand sein, der zu diesem Durcheinander geführt hatte. Nat rannte zum Eingang und rüttelte an den Gitterstäben. Nichts rührte sich. Die Tür blieb verschlossen.
Nein! Sie hämmerte an die schusssichere Glasscheibe eines Büros. Es war niemand darin. Sie konnte nicht hinaus. Sie brauchte Hilfe. Sie betete, dass Angus die Stellung hielt. Wer, zum Teufel, konnte ihr helfen? Sie hatte den Gebäudeplan des Gefängnisses nicht im Kopf. Blindlings drehte sie sich um sich selbst und schrie, als sie sah, dass ein Aufseher und ein Häftling sich in einem der anderen Räume eine Prügelei lieferten.
Ziellos lief sie in die andere Richtung. Ihre Bluse sprang auf, und im Laufen knöpfte sie sie wieder zu. Eine Reihe von Türen kam in Sicht. Sie rannte darauf zu und schrie im ohrenbetäubenden Sirenenlärm immer wieder um Hilfe. Dann hatte sie die erste Tür erreicht – sie war verschlossen ebenso wie die nächste und die übernächste. Alles war verschlossen. Ihr Herz raste. Sie spürte, dass heiße Tränen ihr in die Augen schossen. Es dauerte schon viel zu lang. Buford konnte Angus töten. Sie rannte den nächsten Gang entlang. Endlich – sie sah es staunend und erleichtert – öffnete sich eine Tür.
»Hilfe!« Als sie die Tür erreichte, kam ihr ein blutüberströmter Aufseher entgegen. Hinter ihm sah sie eine grauenvolle Szene.
»Die sind alle verrückt geworden, alle.« Der Mann war fassungslos, er zitterte, und hinter ihm lag ein weiterer Beamter auf dem Boden, dem ein primitives Messer in der Brust steckte. Neben ihm lag ein muskulöser afroamerikanischer Häftling mit angezogenen Knien. Sein T-Shirt war blutdurchtränkt. Beide Männer sahen tot aus, und der Aufseher an der Tür hatte offensichtlich einen Schock erlitten.
»Sie müssen mir helfen!« Nat packte ihn an den Schultern. »Mein Kollege ist von einem Gefangenen angegriffen worden!«
»Was? Wo?«, fragte der Mann, dessen dunkle Augen allmählich wieder einen Fokus bekamen.
»In dem Unterrichtsraum gleich neben dem Eingang.« Nat zeigte hinter sich. »Angus Holt. Wir haben da einen Kurs abgehalten. Und noch ein Aufseher im Gang dort braucht Hilfe.«
»Verdammt!« Der Mann lief los, aber im gleichen Moment hörte Nat ein Stöhnen im Raum. Der Uniformierte, der auf dem Boden lag, bewegte sich. Mit dem offenbar selbst gebastelten Messer, das in seiner Brust steckte, bot er einen grotesken Anblick. Er drehte den Kopf in Richtung Tür und streckte über den Boden hin die Hand zu ihr aus.
Er lebt noch. Nat rannte zu ihm und ließ sich voll panischer Angst neben ihm nieder. Sie hielt es kaum aus, seine Brust anzusehen. Man durfte in solchen Fällen das Messer nicht herausziehen, das wusste sie, weil sie es irgendwo gelesen hatte. Er würde sonst nur noch mehr Blut verlieren. Blut durchtränkte die Tasche seiner blauen Uniform, aber es kam nicht von dem Messer. Er hatte noch eine Stichverletzung.
Nat drückte die Hand auf die Wunde. Heißes Blut quoll durch ihre Finger, und Übelkeit stieg in ihr auf. Das Gesicht des Mannes war aschfahl geworden. Sie musste den Blutfluss stoppen. Sie riss sich ihren Seidenschal vom Hals, knüllte ihn zusammen und drückte ihn, so fest sie konnte, auf die Wunde. Wenn sie es schaffte, das Blut zu stoppen, konnte sie ihn vielleicht so lange am Leben halten, bis Hilfe kam.
»Alles okay, alles okay«, sagte sie immer wieder. Ihr Herz schlug wie wild. Sie betete, dass der andere Beamte Angus gefunden hatte. Sie konnte den Mann hier nicht alleinlassen. Er richtete den Blick auf sie. Dann rollten seine blauen Augen in die Höhlen zurück, und sie spürte, dass seine Hand wie im Todeskampf ihren Unterarm zusammendrückte.
»Nicht aufgeben, bitte, nicht aufgeben.« Nat spürte, dass Tränen in ihre Augen traten. Sie presste das Halstuch fester auf seinen Körper. Die Seide wurde rot von frischem Blut, das sich warm anfühlte. Die Lippen des Mannes bewegten sich. Schäumendes Blut trat aus seinem Mund und rann seitlich an seinem Gesicht hinab. Er zog an ihrem Arm. Er versuchte, etwas zu sagen.
»Sagen Sie ... meiner Frau«, flüsterte er. Neues Blut quoll stoßweise, wie bei einem Schluckauf, aus seinem Mund. Es sah so grausig aus, dass Nat fast aufschrie. Er sagte: »Bitte. Sagen Sie es ihr.«
»Natürlich. Ich werde es ihr sagen. Ich sage ihr, dass Sie sie lieben«, sagte Nat, seinen Satz ergänzend, mit einem unterdrückten Schluchzen.
»Nein, nein«, stöhnte der Bedienstete und schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist ... unter dem« – die letzten Worte waren kaum zu vernehmen – »... Estrich.«
Was? Nat begriff nicht. Was sagte er da? In ihrem entsetzten Zustand und im Lärm der Sirenen konnte sie ihn kaum verstehen. Sie beugte sich über ihn, hielt ihr Ohr an seinen Mund. »Was haben Sie gesagt?«
»Sagen Sie ... ihr.« Der Mann zog mühsam Luft ein. »Sagen Sie ihr ... es ist unter ... dem ... Estrich.«
»Gut, ich sage es ihr. Ich verspreche es Ihnen.« Nat drückte weiter auf die Wunde, aber bald war ihr Schal von Blut durchtränkt. Im nächsten Moment hörten die Lider des Mannes auf zu zittern. Seine blauen Augen wurden starr. Der Griff um ihren Arm lockerte sich abrupt. Seine Hand sank zu Boden. Die Finger waren noch gekrümmt.
»Nein!« Nat konnte Erste Hilfe. Sie durfte ihn nicht sterben lassen. Sie beugte sich zu ihm hinunter, öffnete mit den Fingern seine Lippen und blies in seinen Mund, der nach heißem, salzigem Blut schmeckte. Zwei Atemzüge, dann erhob sie sich und drückte mit aller Macht auf seinen Brustkorb.
Eins, zwei, drei, vier. »Bitte, komm zurück!« Sie ließ nicht locker, drückte rhythmisch weiter. Der Schal fiel von ihm herunter. Aus der anderen Wunde quoll Blut. Sie drückte und zählte. Seine Augen bewegten sich nicht, und er reagierte nicht auf ihre Schreie. Sie hörte auf, seinen Brustkorb zu bearbeiten, und versuchte erneut, Leben in ihn hineinzuatmen.
Dann erneutes Pressen. Sie hörte ein grauenvolles Gurgeln in seiner Kehle. Im Hintergrund, weit entfernt, Schüsse. Plötzlich nahm sie eine Explosion wahr, die ihren Körper erbeben ließ. Was ging hier vor? Woher kam das? Aus dem Zellenblock des Vollzugsbereichs? Was war da in die Luft geflogen?
Sie versuchte mit aller Kraft, nicht in Panik zu geraten, und bearbeitete weiter den Brustkorb des Beamten, der sich nicht rührte. Sie beugte sich vor und blies einen kurzen, kraftvollen Atemzug in seinen Mund. Dann richtete sie sich auf. Der arme Mann war tot. Sie musste ihn gehen lassen. Sie hatte ihr Bestes getan, um ihn zu retten. Jetzt musste sie zu Angus. Die Explosion.
»Es tut mir so leid«, flüsterte sie. Sie wischte sich über die Augen und verstrich Wärme auf ihrem Gesicht. Blut. Dann kam sie mühsam auf die Beine und lief in den Gang hinaus. Die heulende Sirene zeigte, dass noch immer Ausnahmezustand herrschte, der mit der Totalsperre einherging. Rauch wehte in grauen Streifen an ihr vorbei.
Sie rannte los, bog ab und sprintete auf den Unterrichtsraum zu. Hier war der Rauch dichter, er ließ ihre Augen tränen und füllte ihre Nase. Sie atmete tief ein und hatte das Gefühl zu ersticken. Es gab ein Feuer im Gefängnis, und sie war hier drinnen eingesperrt. Genauso wie Angus. Sie würden alle beide verbrennen.
Plötzlich hörte sie eine ohrenbetäubende Explosion und wurde zu Boden geschleudert. Eine Seite ihres Kopfes schlug auf dem Zementboden auf. Irgendwo anders spürte sie den harten Aufprall ihrer Knie. Gelähmt von Schock und Schmerz, rollte sie weiter auf die Betonwand zu.
»NATALIE!«
Sie öffnete die Augen und sah Angus, der durch den Rauch hindurch auf sie zulief. Als er sie erreicht hatte, kniete er sich hin, nahm sie in seine Arme und hob sie hoch.
»Zur Stelle, Euer Ehren.« Er grinste, die Stirn blutverschmiert, und Nats Erleichterung grenzte an Delirium. Hinter ihm war der Beamte, den sie zu ihm geschickt hatte.
»Hier entlang!«, schrie der Mann. »Schnell!« Er lief hinter ihnen her zu der Gittertür am Eingang, wo ein weiterer Beamter in der schwarzen Uniform der Sondereinsatztruppe sie abholte, die Tür aufschloss und sie hinauslotste aus dem Gefängnis in die Kälte draußen.