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In eine dünne blaue Decke gehüllt, saß Nat auf einer Bahre im Inneren eines Rettungswagens, während ein Sanitäter sich um die breite Schramme auf ihrer Wange kümmerte. Er war um die dreißig, hatte vorzeitig ergraute Schläfen und ernste braune Augen hinter einem Brillengestell aus Metall. Über seiner blauen Uniform trug er eine bauschige Nylonjacke mit einem Aufdruck, den zu lesen Nat sich nicht die Mühe machte. Sie hatte seinen Namen vergessen. Eine Stunde saß sie jetzt schon hier, und das Durcheinander in ihrem Kopf hatte sich immer noch nicht gelegt. Sie war erschüttert, traurig und so erschöpft, dass ihr die Augen zufielen.

»Wir haben es gleich.« Der Sanitäter, der hellrote Latexhandschuhe trug, träufelte eine jodähnliche Flüssigkeit auf ihre Wange.

Au. »Danke.«

»Wie geht’s Ihrem Kopf? Besser?«

»Ja, danke«, antwortete Nat. Das Pochen hinter ihren Schläfen hatte beinahe aufgehört. Ihre Knie und ihr Hintern fühlten sich immer noch empfindlich an. Sie zog die Decke enger über ihre zerrissene Bluse; es war auch im Auto kühl. Der Parkplatz vor dem Gefängnis war in ein . Notlazarett und einen Versammlungsort für Polizisten und Presseleute umgewandelt worden, die sich in großen Mengen eingefunden hatten.

»Gut, dann kriegen Sie jetzt ein schönes Pflaster.« Der Sanitäter zog eine Schublade aus rostfreiem Stahl auf und öffnete eine Packung mit Heftpflaster. Während er sich erneut an ihr zu schaffen machte, sah Nat Angus durch die Heckscheibe. Ein Teil seiner Stirn war mit einem Verband bedeckt, und er trug immer noch sein blutiges Holzfällerhemd. Er sprach gerade mit zwei hochgewachsenen Bundespolizisten in steifen, breitkrempigen, leicht schief sitzenden Hüten. Sie trugen graue Uniformen mit schwarzen Daunenjacken und schweren Pistolenhalftern. Angus redete gestenreich mit den beiden Männern, die sich mit verschränkten Armen in sicherer Distanz zu ihm aufgebaut hatten. Offensichtlich beschimpfte er sie, was bedeutete, dass er sich inzwischen schon wieder besser fühlte.

Aber ich mag meinen alten Pullover. Er bringt mir Glück.

Nat trank aus einer Wasserflasche. War es immer noch derselbe Tag, an dem Angus das gesagt hatte? Sie versuchte, das Bild des Mannes aus ihrem Gedächtnis auszublenden, der neben ihr auf dem Boden verblutet war, das Bild des Blutes, das stoßweise aus seinem Mund gequollen war. Sie hatte nicht gewusst, dass so etwas möglich war. Sie hatte vorher noch nie einen Menschen sterben sehen. Die Erinnerung hielt sich hartnäckig.

»Okay, das wär’s.« Der Sanitäter drückte das Pflaster vorsichtig fest. »Es wird noch eine Weile wehtun, aber ich glaube nicht, dass irgendetwas gebrochen ist. Aber wie ich schon sagte, zur Sicherheit würde ich an Ihrer Stelle noch einmal ins Krankenhaus gehen und mit einem Arzt sprechen. Mit einer Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen. Diese Schlägerei war einfach eine Nummer zu groß für Sie.«

»Danke.« Nat hörte nur halb zu, während sie Angus beobachtete. Er gestikulierte immer heftiger, und einer der Trooper gestikulierte zurück. Es war wie ein Flashback aus den Sechzigern: ein Langhaariger, der mit der Polizei streitet.

»Noch etwas, was ich erwähnen sollte.« Der Sanitäter schloss die Heftpflasterpackung und legte sie in die Schublade zurück. »Sie sollten einen Aids-Test machen. Das Blut auf Ihrer Hand kann nicht nur Ihr eigenes sein.«

Nat sah auf ihre um die Decke gekrampften Hände. Getrocknetes Blut füllte die Stellen zwischen ihren Fingern; es hatte sich in ihren Nagelbetten festgesetzt und zeichnete die Linien auf ihrem Handrücken nach wie eine makabre Tintenzeichnung. Jetzt wusste sie, wie frisches Blut roch und wie es schmeckte, aber sie wünschte, sie könnte dieses Wissen wieder loswerden. Vielleicht hatte ihre Mutter recht. Vielleicht brauchte man nicht alles zu wissen.

»Haben Sie noch Fragen, wegen des Verbandes oder so etwas?«

»Ja.«

»Gut. Legen Sie los.«

»Da drin ist ein Aufseher gewesen, ein Wachmann.« Nat musste schlucken. »Er hatte ein Messer in der Brust ... und noch eine Verletzung. Ich habe ihn gefunden. Da war Blut ... überall Blut. Ich kann Erste Hilfe. Ich habe versucht, ihn zu beatmen.«

»Es ist also das Blut eines Wachmanns gewesen? Dann muss ich Sie offiziell über das Aidsrisiko aufklären, aber unter uns: Sie müssen sich keine Sorgen machen. Die Beamten müssen jedes Jahr einen Aidstest machen. Das ist also kein Problem mehr.«

»Nein, es ist nicht deswegen. Ich habe versucht, ihm zu helfen, aber ich konnte nichts tun.« Nat wusste nicht, warum sie das ausgerechnet diesem jungen Sanitäter erzählte. »Ich frage mich, ob ich nicht etwas anderes hätte tun können, ob es nicht noch etwas Besseres gegeben hätte –«

»Ich verstehe«, sagte der Sanitäter leise. »Ich weiß, was Sie beunruhigt, aber Sie sollten sich keine Sorgen darum machen. Ich habe ihn gesehen, als sie ihn herausgetragen haben. Er hatte keine Chance. Mit so einem Loch in der Brust hätte ihm niemand mehr helfen können.« Er legte ihr die Hand auf den Arm, um sie zu trösten, aber die Berührung erinnerte sie an den Griff des Wachmanns in seinem Todeskampf.

»Was hätte ich besser machen können? Sie sind der Fachmann. Was hätten Sie tun können?«

»Nichts. Gar nichts. Ich hätte nicht mehr tun können als Sie.«

Sagen Sie es meiner Frau. Nat versuchte, die Worte auszublenden. Das Flüstern.

»Machen Sie sich keine Vorwürfe.« Der Sanitäter setzte sich auf die schwarz gepolsterte Sitzbank neben der Bahre und blickte sie ruhig und gefasst an. »Glauben Sie mir, ich habe schon eine Menge wirklich netter Leute aufgeben müssen. Alte Leute. Jemandes Mutter. Oder Kinder, ganz klein noch. Man gewöhnt sich nie daran. Mit natürlichen Toden komme ich zurecht. Aber wenn Gewalt im Spiel ist, ist es furchtbar. Am schlimmsten sind Autounfälle. Oder wenn jemand ertrunken ist. Das ist am schlimmsten.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist alles furchtbar.«

Nat wusste jetzt, was er meinte. Dieses grausame Gemetzel. Menschen, abgeschlachtet wie Vieh. Der Beamte und der Gefangene, tot auf dem Boden.

»Es passiert hier draußen ja nicht allzu viel, nicht so viel wie in Philly. Aber in Chester ist immer wieder was los. Wenn man an die Stichverletzungen denkt, die dieser Mann hatte, dann ist es ein Wunder, dass er noch lebte, als Sie ihn fanden.«

Sagen Sie es meiner Frau. »Er hat ... mit mir gesprochen.«

»Sie haben seine letzten Worte gehört?«

Nat nickte. Sie konnte nicht sprechen. Vielleicht hatte der Beamte darauf gewartet, dass jemand kam, dem er es sagen konnte. Vielleicht war er deshalb noch nicht tot gewesen, als sie kam.

»Jetzt verstehe ich. Ach so. Ja.« Der Sanitäter seufzte und beugte sich vor. »Das ist mir auch schon ein paarmal passiert. Es ist hart.«

Nat hatte Mühe, die Fassung zu bewahren. Einen Augenblick hatte sie das Gefühl, mit einem Priester zu sprechen. Oder einem Weisen.

»Ich sehe es so«, sagte der Sanitäter nach einer Weile. »Was Ihnen passiert ist, ist heilig. Sie haben die privatesten, intimsten Worte eines Mannes gehört. Aber die Situation ist irgendwie nicht geheuer, weil Sie ihm völlig fremd waren.«

Nat nickte.

»So fühlen Sie sich, oder?«

Voll daneben, so würden es ihre Studenten wahrscheinlich ausdrücken.

»Wissen Sie, einmal hat mir ein Sterbender nach einem Autounfall erzählt, dass er eine Tochter hätte, von der niemand etwas wüsste. Er wollte es geheim halten, aber dann hatte er plötzlich das Bedürfnis, es loszuwerden. Es irgendjemandem zu erzählen, selbst einem Fremden.« Der Sanitäter hielt inne und runzelte die Stirn, als er sich daran erinnerte. »Manchmal tragen sie einem irgendeine Botschaft auf, an jemanden, den sie lieben. Ihre Frau oder ihren Sohn. Ich hatte immer so ein Gefühl dabei, ich wünschte, ich hätte es nicht gehört, es war wie eine Last. Fast hätte ich meinen Job deswegen hingeschmissen.«

Sagen Sie es meiner Frau.

»Aber ich habe mit einem von meinen Kollegen gesprochen, und der sagte, ich muss es einfach anders betrachten. Weil es einen Grund dafür gab, dass sie es einem erzählt haben. Es ist eine Last, aber es ist auch ein Geschenk.« Der Sanitäter tätschelte noch einmal ihren Arm. »Ja?«

»Ja«, sagte Nat mit Mühe.

»Wenn er Ihnen eine Botschaft für jemanden gab, überbringen Sie sie. Sie können sowieso nichts anderes tun.« Er lächelte fast wehmütig. »Meiner Erfahrung nach werden die Angehörigen kommen und Sie löchern. Darauf müssen Sie vorbereitet sein. Sie werden wissen wollen, was seine letzten Worte waren. ›Was hat er gesagt? Hat er gesagt, dass er mich liebt? Was hat er über mich gesagt? Hat er leiden müssen?‹ Sie werden Sie alles fragen.« Er schüttelte den Kopf. »Sie wollen meinen Rat? Beschönigen Sie nichts. Erzählen Sie ihnen nicht das, was sie hören wollen. Sie sind nur die Überbringerin der Botschaft. Sagen Sie die Wahrheit.«

Sagen Sie es meiner Frau.

»Einmal hat mich eine Witwe gefragt, nachdem ihr Mann bei einem Unfall gestorben war. Sie wollte wissen, ob er den Namen Sonya gesagt hätte. Ich sagte ihr: ›Nein, es tut mir furchtbar leid, aber er hat Ihren Namen nicht gesagt.‹ Sie sagte: ›Gut. Ich heiße Lillian. Sonya ist seine Freundin.«‹ Der Sanitäter lachte, und selbst Nat brachte ein Lächeln zustande, weil sie merkte, dass er sich nach Kräften bemühte, sie aufzuheitern.

Sagen Sie es meiner Frau. Die Worte waren noch da. Und sie würden so bald nicht verschwinden.

»Wenn Sie ins Krankenhaus gehen, kann man Ihnen etwas geben, was Sie ein wenig beruhigt. Auch wegen der Schmerzen.« Er drückte noch einmal ihren Arm. »Ich darf Ihnen keine Medikamente verabreichen. Aber Ratschläge sind nicht verschreibungspflichtig.«

»Danke. Ich glaube, es geht mir schon besser.« Nat sah aus dem Fenster. Angus lief auf den Rettungswagen zu, hinter ihm die beiden Trooper. Sie fragte sich, wer den Streit gewonnen hatte, weil keiner der drei Männer froh wirkte. Unsicher stand sie auf. »Da kommen sie. Die Polizisten und mein Kollege.«

»Halt. Bleiben Sie noch einen Moment sitzen.« Er zog sie sanft auf die Bahre zurück. »Sie können hier mit ihnen reden. Ich gehe raus und schaue, ob ich mich noch irgendwo nützlich machen kann.«

»Brauchen Sie den Wagen?«

»Nein. Alle, die ins Krankenhaus mussten, sind schon weg. Ich werfe Sie raus, wenn der Wagen woanders angefordert wird.«

»Danke für Ihre Hilfe«, sagte Nat, und der Sanitäter stand auf und sprang hinaus. Ein Schwall kalter Luft strömte herein.

Angus steckte seinen Kopf durch die Tür, und Nat holte tief Luft.

Stummer Verrat

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