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ОглавлениеAls der Unterricht zu Ende war, verabschiedete sich Nat von McConnell, nachdem er über Shylock und vermutlich auch über sie gerichtet hatte. Sie suchte ihre Sachen zusammen und wollte den Raum verlassen, als Angus Holts Studenten in den Raum strömten, lachend und scherzend, als wären sie bei einer Party. Immer mehr von ihnen kamen den Hauptgang hinunter, und sie musste sich gegen einen wahren Tsunami von Aktentaschen und Wasserflaschen nach oben kämpfen. Staunend beobachtete sie, wie sich ein Sitz nach dem anderen füllte, bis der gesamte Raum voll besetzt war. Nat hatte noch nie so viele Studenten an einem Ort zusammen gesehen, außer bei der Examensfeier.
Angus stand an der Tür. Er war umrundet von Studenten der Freien Juristischen Hochschule, die an ihren wilden Haarschöpfen zu erkennen waren. Wie eine Wolke hüllte das lockige Haar sie alle ein. Nat wusste nicht viel von der Freien Hochschule, außer, dass es dort einen Ausbildungsgang für Studenten gab, die sich in den Dienst des Gemeinwohls stellen und vor allem für Mandanten arbeiten wollten, die sich normale Anwälte nicht leisten konnten. Abstrakte juristische Themen, die außer ihr alle langweilig fanden, kamen dort nur selten zur Sprache. Aber was immer Angus anbot, funktionierte offenbar. Fakultätsfreak sticht Fakultätskomikerin.
»Natalie!«, rief er und winkte ihr zu. Die Runde seiner Studenten brach auseinander, und alle begaben sich zu ihren Sitzen. Angus schlenderte in Jeans und Cowboystiefeln in Richtung Podium.
»Was unterrichten Sie?«, fragte Nat, zu ihm aufsehend. Er war mindestens einen halben Meter größer als sie und trug sein blondes Haar unordentlich in der Mitte gescheitelt. Sein dichter, ungekämmter Pferdeschwanz reichte ihm bis auf die Schultern. Er trug einen dicken Seemannspullover.
»Probleme des Verfassungsrechts. Warum?« Angus’ blaue Augen blitzten amüsiert. Seine Nase war gerade, sein Grinsen omnipräsent, auch wenn es durch den hellblonden Bart etwas verdeckt wurde; und er roch vage nach Patschuli, vielleicht auch Marihuana.
»Weil ... weil es so voll ist. Es muss ein wunderbarer Kurs sein. Sie sind bestimmt ein großartiger Lehrer.«
Angus lächelte bescheiden. »Überhaupt nicht, und übrigens, ich mag Ihren Schnurrbart. Die meisten Frauen haben was gegen Gesichtsbehaarung, aber ich sage, sie sollten dazu stehen.«
Nat hatte die schwarzen Striche vergessen. Ihre Hand flog zum Gesicht, und dabei verlor sie fast ihre Papiere und die Handtasche. Sie spuckte sich auf die Fingerspitzen und rieb sich die Oberlippe.
»Sie verschmieren ihn nur.« Angus lachte und zeigte weiße, regelmäßige Zähne. »Vergessen Sie’s, es macht doch nichts. Was Sie da mit McConnell gemacht haben, das war cool.«
»Danke.« Nat hörte auf zu reiben. »Hat er irgendwas gesagt, als er ging? Ich glaube, ich habe gesehen, dass er an der Tür kurz mit Ihnen sprach.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Sie mögen Ihre Teilnehmer, und das sieht man.«
Es gibt nichts Schöneres, aber ich kann’s nicht. »Hat McConnell das gesagt? Bin ich gefeuert?«
»Er hat nur gesagt, dass er das Seminar ›ungewöhnlich‹ fand.« Angus malte Anführungszeichen in die Luft. »Keine Angst. Sie sind bestimmt nicht gefeuert.«
»Sie haben gut reden. Ihnen kann nichts passieren, Sie sind fest angestellt. Ich habe nur neun Studierende.«
»Wie steht’s mit Ihren anderen Kursen?«
»Der Saal ist voll, wenn es Pflichtvorlesungen sind. Anfänger. Sie haben noch Ehrfurcht vor den Dozenten, deshalb hören sie mir zu.«
»Wissen Sie, was Ihr Problem ist? Sie kommen nicht an die richtigen Studenten. Sie brauchen Marketing.«
»Marketing, für Rechtsgeschichte?« Nat schreckte zurück. »Es sind Jurastudenten. Sie sollten sich für die Gerechtigkeit interessieren.«
»Nein, sie interessieren sich für Recht, das ist der Unterschied. Ist das nicht genau Ihr Thema?« Angus sah lächelnd auf sie hinunter. »Zum Beispiel: Wie viele Ihrer Studenten wollen als Anwälte arbeiten?«
»Ich nehme an, alle.«
»Ich wette, Sie irren sich. In den Kursen, die ich außerhalb der Freien Hochschule gebe, wie in diesem hier« – Angus machte eine Handbewegung zu dem lärmenden Vorlesungsraum hin – »gehen viele Studenten später ins normale Geschäftsleben. Sie wollen sich nicht mit juristischen Fällen beschäftigen. Sie wollen einfach einen Abschluss in Jura haben.«
»Wirklich?«
»Ja, sicher. Haben Sie sie nie danach gefragt? Nie mit ihnen über ihre Zukunft gesprochen? Ihre Pläne? Was sie im Leben vorhaben?«
»Nein.« Nat errötete. Sie hatte Sprechstunden, aber es kam nie jemand, und sie kommunizierte mit ihren Studenten meistens nur per E-Mail. Wahrscheinlich ging sie nicht genug aus sich heraus; das sagte auch ihr Vater immer. Sie fühlte sich schuldig.
»Sie müssen die Studierenden erreichen, die als Verteidiger arbeiten wollen. Die haben ein echtes Bedürfnis nach Gerechtigkeit, wie die jungen Leute von der Freien Hochschule. Sie wären begeistert von Ihrem Seminar.« Angus nickte. »Wissen Sie was, ich mache mal ein bisschen Reklame für Sie, und vielleicht können Sie irgendwann vorbeikommen und sich selbst bei uns vorstellen.«
O Gott. Nat erschrak.
»Aber egal. Darf ich Sie um einen Gefallen bitten? Ich brauche eine Spezialistin wie Sie.«
»Eine Spezialistin in Rechtsgeschichte? Wen wollen Sie verklagen? Julius Cäsar?«
»Sie sind lustig.«
Sind Sie high? Zwei Studenten kamen herein und starrten Nats Schnurrbart an.
»Sie wissen ja, wie das in der Freien Hochschule funktioniert. Wir vermitteln den Studierenden praktische Erfahrungen außerhalb der Seminare, durch Lehrgänge in relevanten Institutionen. Einer davon findet im Gefängnis von Chester County statt. Ich würde Sie gern dafür gewinnen, dass Sie dort einen Vortrag halten, mit mir zusammen.«
»In einem Gefängnis?«
»Es ist völlig ohne Risiko. Die Insassen meines Kurses werden besonders überprüft, und die meisten von ihnen sitzen wegen geringer Vergehen, Schwarzfahren, kleine Diebstähle, Besitz von Haschisch und Ähnliches.«
Wunderbar. »Was soll das Thema des Vortrags sein?«
»Erzählen Sie den Leuten genau das, was Sie Ihren Teilnehmern heute erzählt haben. Ihr Unterricht war großartig.« Angus’ Begeisterung klang echt. »Sagen Sie ihnen, dass wahre Gerechtigkeit nicht ohne Barmherzigkeit ausgeübt werden kann. Dass der Doge unrecht hat, wenn er Shylock in die Knie zwingt. Dass Recht und Gerechtigkeit nicht immer übereinstimmen.«
»Aber Shakespeare? Für Gefangene?«
»Hat nicht ein Jude Augen?« Angus zog seine dichten blonden Brauen zusammen, und sein Ton wurde streng. »Vielleicht können Gefangene mehr mit Shakespeare anfangen als Akademiker. Niemand kennt den Unterschied zwischen Recht und Gesetz besser als Leute, die im Knast sitzen.« Er sah auf die Uhr. »Ich muss langsam anfangen. Also, haben Sie morgen Vormittag Zeit?«
»Morgen Vormittag?«
»Einer meiner Studenten ist krank geworden, und ich will jemand anders an seiner Stelle mitbringen. Es wäre mir wirklich sehr lieb, wenn Sie kommen könnten. Bitte.« Angus legte die Handflächen vor der Brust zusammen und ließ Nat nicht aus den Augen. Im Vorlesungsraum drehten sich die Köpfe nach ihnen um.
»Ich weiß nicht.« Nat suchte nach einer Ausrede. Aber sie hatte morgen unterrichtsfrei, das konnte sie nicht bestreiten. Die Lehrpläne standen im Internet.
»Bitte, Professor Natalie. Ich meine es ernst.« Plötzlich fiel er auf die Knie und hob flehend die Hände. Seine Studenten kicherten und zeigten mit Fingern auf ihn. Der ganze Raum beobachtete die Szene, und schließlich musste Nat lachen. Es machte Spaß, obwohl es peinlich war.
»Na gut, ja. Hören Sie schon auf.«
»Wunderbar! Ich hole Sie um neun Uhr ab.« Angus sprang mit breitem Grinsen auf, und die Studenten riefen und klatschten Beifall, was er aufzusaugen und zu reflektieren schien wie die Sonne selbst, die auf sie herabstrahlte. Die allgemeine Aufmerksamkeit tat ihm offensichtlich wohl; in Angus Holts Leben gab es keine leeren Sitzreihen.
Nat drehte sich um und floh.