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ОглавлениеAus der Nähe betrachtet, befand sich Angus’ Gesicht in einem verheerenden Zustand. Unter dem Verband war sein rechtes Auge dunkelrot angelaufen und angeschwollen. Ein tiefer Riss durchzog seine linke Wange, und die Naht auf seiner Lippe zeichnete sich mit mehreren schwarzen Stichen deutlich ab. Sein Hemd war mit Blutspritzern übersät. »Wie geht’s unserer Patientin?«, fragte er, und in seinen blauen Augen lag echte Besorgnis. »Schon besser?«
»Mir geht es besser als Ihnen, glaube ich.«
»Ach, das meinen Sie?« Angus deutete mit einem gequälten Grinsen auf seinen Mund. »Nur wenn ich lache. Aber wir müssen uns um etwas Wichtigeres kümmern als um meine Schönheit.« Er stützte sich mit seinen Armen am Türrahmen des Rettungswagens ab und beugte sich vor, sodass die beiden Trooper hinter ihm nichts mehr verstehen konnten. »Ich hab die beiden Staatspolypen auf dem Hals, weil sie hier draußen keine lokale Polizei haben.«
»Keine lokale Polizei?« Nat begriff nicht.
»Das ist in ländlichen Gegenden so üblich. Sie können sich keine eigene Polizeitruppe leisten und verlassen sich deshalb auf die Trooper von der Bundespolizei. Sie haben mich schon interviewt, aber sie lassen sich nicht davon abbringen, noch mit Ihnen reden, um die Anklage gegen Buford hieb- und stichfest zu machen. Ich habe vergeblich versucht, es ihnen auszureden«
Nat schauderte. Buford. Sein Atem. Seine Hände.
»Sagen Sie mir, dass Sie nicht in Stimmung sind, und ich werde ihnen sagen, sie sollen sich vom Acker machen.«
»Mr Holt, das ist nicht Ihre Sache.« Die dunklen Augen des Trooper funkelten unter der breiten Krempe seines Huts, wenn seine Stimme auch beherrscht blieb. »Sie mischen sich in polizeiliche Angelegenheiten ein. Es ist wichtig, dass wir sie vernehmen, solange die Erinnerung noch frisch ist.«
»Sensibilität ist nicht Ihre Sache, oder? Sie ist Opfer eines Verbrechens, und Sie brauchen ihre Aussage jetzt nicht. Ich bin Augenzeuge. Ich habe meine Aussage gemacht.« Angus erhob die Stimme, aber der Trooper ignorierte ihn und wandte sich an Nat.
»Ms Greco, wir verstehen, dass es Ihnen schwerfällt, und wir werden es Ihnen so einfach wie möglich machen. Wir werden Sie hier vernehmen, damit Sie nicht extra in unser Büro zu kommen brauchen.«
»Es hat doch Zeit bis morgen oder übermorgen«, unterbrach ihn Angus, aber Nat brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Ich kann es genauso gut jetzt sagen. Dann haben wir es hinter uns.« Nat wollte keinen Streit. Die Auseinandersetzung, die sie miterlebt hatte, reichte für ihr ganzes Leben.
»Diese Leute sind einfach lächerlich.« Angus schob seine genähte Lippe vor. »Sie sollten ins Krankenhaus fahren, statt hier vernommen zu werden. Die Anklage kann auch später noch fertiggemacht werden.«
»Es geht schon. Danke.« Nat wickelte die Decke enger um sich. »Bitte kommen Sie herein.«
Angus murmelte etwas, was sich angriffslustig anhörte, stieg dann aber in den Wagen und senkte dabei den Kopf, um nicht an der Decke anzustoßen. Seine Stiefel klackerten über den Metallboden, und er ließ sich neben ihr auf der Bahre nieder, die unter seinem Gewicht quietschte. Man merkte ihm seinen Groll an, aber als er sie ansah, wurde sein Blick weich. »Das alles tut mir so leid. Ich hätte Sie nicht hergebracht, wenn ich gewusst hätte, dass wir in dem Unterrichtsraum nicht sicher waren.«
»Ich weiß.« Nat hörte das Schuldbewusstsein in seiner Stimme.
»Ich kann mich nicht genug dafür entschuldigen. Es tut mir unendlich leid.«
»Wir sind beide gesund, das ist jetzt entscheidend«, sagte Nat ehrlich.
»Das ist für Sie.« Angus legte ihr eine schwarze Daunenjacke auf den Schoß. »Für die Rückfahrt. Ich habe sie von Tanisa. Sie wollte, dass Sie sie bekommen. Ich weiß nicht, wann Sie Ihren Mantel zurückbekommen.«
»Danke.« Nat nahm die Jacke und freute sich, dass die junge Aufseherin glimpflich davongekommen war. In der Zwischenzeit waren auch die Trooper in den Rettungswagen geklettert und schlossen die Tür hinter sich. Auch sie mussten die Köpfe einziehen, und das Fahrzeug schwankte unter ihrem schweren Tritt. Sie setzten sich auf die gepolsterte Bank Nat und Angus gegenüber. Ihre schwarzen Uniformen hatten etwas Furchterregendes.
»Ich bin Trooper Bert Milroy«, sagte einer von ihnen. Er war etwa vierzig Jahre alt, hatte ein angenehmes Gesicht, kühle blaue Augen und eine lange, knochige Nase, die wegen der Kälte an der Spitze rot angelaufen war. Er zeigte auf den Mann neben sich, der schmalere Lippen hatte und jünger aussah. Auf seinen Wangen sah man verblasste Aknenarben. »Das ist mein Partner, Trooper Russ Johnston. Wir werden es kurz machen, weil ich weiß, dass es für Sie nicht leicht ist.« Der Trooper beugte sich vor, holte einen Stenoblock aus der Gesäßtasche und schlug ihn auf. »Sind Sie in der Lage, mit uns zu sprechen? Wollten Sie nicht noch ins Krankenhaus?«
»Nein, danke.« Nat hob die Hand unter der Decke. »Aber können Sie mir zuerst mal sagen, was dort drinnen eigentlich passiert ist? Und ist jetzt wirklich alles vorbei?«
»Ganz bestimmt.« Der Beamte holte einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Jacke. »Es hat nur sechzehn Minuten gedauert, bis die Störung beseitigt war.«
»Sechzehn Minuten?« Nat hätte fast gelacht. »Es kam mir sehr viel länger vor.«
»Es war auch länger«, konstatierte Angus.
»Aber was ist passiert?«, fragte Nat. »Es hat einen Aufstand im Zellenblock A gegeben, stimmt’s?«
»Keinen Aufstand. Eine Störung.«
Angus kicherte. »Solche Feinheiten lernt man nur bei der Polizei.«
Der Trooper machte eine bedeutungsvolle Pause. »Wie ich schon sagte, Ms Greco. Einige Gefangene im Zellenblock A waren in eine Auseinandersetzung verwickelt. Grund war die Rivalität zwischen Gangmitgliedern. Drei wurden getötet, vier schwer verletzt.«
Sagen Sie es meiner Frau. »Auch ein Wachmann wurde getötet.«
»Ja, und zwei weitere schwer verletzt.«
»Wie hieß er, dieser Beamte, der gestorben ist?«
Milroy blätterte in seinen Notizen. »Ray Saunders, glaube ich. Nein, Ron. Der Vorname ist Ron. Seine Frau ist gerade benachrichtigt worden. Aber wie ich schon sagte, die Sondereinsatztruppe hat die Sache in Rekordzeit niedergeschlagen und damit den Verlust weiterer Menschenleben verhindert. Im Zusammenhang mit den Morden haben wir vier Verdächtige festgenommen. Mr Buford wird sobald wie möglich angeklagt.« Der Trooper warf Angus einen eisigen Blick zu. »Aber zuerst müssen wir hier Nägel mit Köpfen machen.«
Nat versuchte, das alles zu verdauen. »Es gab ein Feuer. Ich habe Rauch gesehen.«
»Einige Insassen haben ihre Matratzen in Brand gesteckt.«
»Ich habe Explosionen gehört. Was war das?«
»Das waren die Leute von der Sondereinsatztruppe.«
»Sie haben Bomben geworfen?« Nat war verwirrt.
»Nein, es waren Gummigeschosse«, antwortete der Trooper.
»Was ist das?«
»Sprengladungen, die am Boden zur Explosion gebracht werden. Wenn sie hochgehen, fliegen Tausende von Gummikugeln in die Luft –«
»Nicht so viele, Bert«, sagte der andere Trooper, und Milroy runzelte ärgerlich die Stirn.
»Okay, vielleicht nicht Tausende, aber sehr viele, und sie tun verdammt weh. Sie können einen Mann in vollem Lauf aufhalten, ohne ihn zu töten. Die Truppe hat wirklich gute Arbeit geleistet.« Milroy hob seinen Stift. »Jetzt erzählen Sie uns aber bitte in Ihren eigenen Worten, was genau passiert ist, von da an, als Sie und Mr Holt heute Morgen in den Unterrichtsraum kamen.«
Nat holte tief Luft, und nun begann, während sie immer wieder an der Wasserflasche nippte, ein grausiger Wiederholungslauf. Sie kam zu der Stelle, an der Buford ihr die Bluse aufriss, und dachte, dass Angus vielleicht recht hatte und sie noch nicht bereit war, davon zu erzählen. Ihr Mund wurde trocken, und es gelang ihr nicht, die panische Angst zu unterdrücken, die in ihr aufstieg, trotz der Anwesenheit zweier Polizisten. Auf einmal fühlte sie sich mit jeder Frau verwandt, die jemals Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war. Wie konnte man so etwas überleben? Was würde Hank sagen? Ihr Vater? Was, wenn das alles vor Angus passiert wäre? Wäre sie noch in der Lage, ihm ins Gesicht zu sehen, an der Uni, bei der Arbeit, und könnte er sie noch ansehen? Als sie ihre Geschichte beendet hatte, war die Wasserflasche leer.
»Was ist passiert, nachdem Sie aus dem Unterrichtsraum gelaufen waren?«, fragte Trooper Milroy, auf seinen Block schreibend.
»Ich bin rausgerannt, um Hilfe zu finden.«
»Haben Sie jemanden gefunden?«
»Ja. Ich fand einen Wachmann, der aus einem Büro kam. Ich bat ihn, mir zu helfen, und er tat es.«
»Können Sie das etwas konkreter ausführen?«
Nat hielt inne. Sie dachte an den anderen Wachmann, der jetzt einen Namen hatte. Ron Saunders. Das Blut. Der starre Blick. Sie verlor den Faden.
»Ms Greco?«, fragte der Trooper, und Angus wandte sich zu ihr. Sein Blick war voller Teilnahme.
»Natalie, wollen Sie jetzt aufhören?«
»Alles in Ordnung«, sagte sie, doch Angus runzelte die Stirn.
»Warten Sie.« Er wandte sich den Polizisten zu. »Macht es einen Unterschied, was nach dem Angriff Bufords noch passiert ist? Sie haben alles, was Sie brauchen, um Ihre Anklage hieb- und stichfest zu machen. Das wird jeden Staatsanwalt überzeugen.«
Nat hörte zu und dachte, dass Angus recht hatte. Sie brauchten keine weiteren Informationen, und sie wollte ihnen nicht erzählen, was Ron Saunders gesagt hatte. Besonders nicht als Teil einer offiziellen Aussage. Seine letzten Worte gehörten seiner Frau.
Milroy sagte: »Mr Holt, wir brauchen eine vollständige Aussage, wenn wir vermeiden wollen, dass sie das alles noch einmal erzählen muss. Nur wenn wir die vollständige Aussage haben, müssen weder die Leute vom Gefängnis noch der Staatsanwalt noch einmal mit ihr reden.« Er sah Nat an. »Ms Greco, es ist zu Ihrem eigenen Besten.«
»Juristisch gesehen gibt es keine Notwendigkeit einer erweiterten Aussage.« Angus schüttelte unnachgiebig den Kopf. »Sie ist rausgelaufen und hat Hilfe geholt. Sie hat dem Beamten gesagt, wo ich war. Buford hat wie verrückt auf mich eingeprügelt, bevor er kam. Diese Frau hat mir das Leben gerettet.«
»Wirklich?«, fragte Nat überrascht. So hatte sie es bisher nicht betrachtet. Sie hatte noch nicht die Zeit gehabt, richtig darüber nachzudenken. »Sie sind selber fast umgebracht worden, als Sie versucht haben, mir das Leben zu retten. Ich stehe in Ihrer Schuld.«
»Ms Greco, wir müssen das hier zu Ende bringen.« Milroy räusperte sich. Er klang gereizt.
»Sie haben es zu Ende gebracht!«, sagte Angus und wollte noch mehr sagen, aber Nat brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Sie hatte eine Entscheidung getroffen.
»Trooper Milroy, stellen Sie ruhig Ihre Fragen. Bringen wir es hinter uns.«
»Gut. Was ist passiert, nachdem Sie den Bediensteten fanden?«
»Ich habe ihm gesagt, wo Angus ist, und er rannte los. Dann habe ich gesehen, dass in dem Raum hinter ihm ein Gefangener und ein weiterer Aufseher auf dem Boden lagen. Überall war Blut.«
»Welcher Raum war es?«, fragte der Trooper, über seinen Block gebeugt. Die Hutkrempe verdeckte sein Gesicht.
»Ich weiß nicht. Ich habe es an jeder Tür versucht, bis ich eine fand, die offen war. Dann bemerkte ich, dass der Wachmann auf dem Boden nicht tot war. Ich kann Erste Hilfe, also versuchte ich, ihn zu reanimieren, aber es ist mir nicht gelungen.«
»Sie haben ihm Erste Hilfe geleistet?«, fragte der Trooper.
Angus sah sie überrascht an. »Das haben Sie getan, Natalie? Erstaunlich.«
»Nein, eigentlich nicht. Und es hat ja auch nichts gebracht. Ich habe mein Halstuch genommen und versucht, damit die Blutung zu stoppen ... aber es hat nichts genützt. Nichts, was ich tat, hat etwas genützt.« Ich hätte nicht mehr tun können als Sie. »Dann bin ich rausgegangen, weil ich wissen wollte, wie es Angus geht. Es gab eine Explosion, aber dieser Mann hat uns hinausgebracht. Das ist alles, was ich zu sagen habe.« Nat nippte an ihrer Wasserflasche. Sie hatte vergessen, dass sie längst leer war. Sie war keine gute Lügnerin, und Milroys Blick war misstrauisch.
»Wirklich alles?«
»Ja«, antwortete Nat mit fester Stimme, und der Trooper nickte und schloss seinen Stenoblock.
Der Motor des Käfers dröhnte, und die Reifen machten ein lautes Geräusch auf dem eisigen Asphalt. Nat und Angus waren auf dem Heimweg, sie fuhren wieder Landstraße, und keiner von ihnen sprach viel. Sie hatte Angus nicht erzählt, was Ron Saunders vor seinem Tod gesagt hatte, weil es auch ihn nichts anging. Sie sah die Bäume und die Pferde der Wyeth’ vorüberfliegen. Es schien unmöglich zu sein, dass solche Schönheit existierte, weniger als fünf Meilen von jenem Gemetzel entfernt. Jemandem, der es nicht erlebt hatte, würde sie nie erklären können, was geschehen war, am wenigsten Hank. Unvermittelt wurde ihr bewusst, dass er nicht wusste, wo sie war. Er hatte heute einen Termin außerhalb der Stadt gehabt und war mit Paul zusammen zu einer Baustelle gefahren. Sie griff in ihre Handtasche und holte ihr Handy heraus.
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich kurz jemanden anrufe?«, fragte sie, und Angus schüttelte den Kopf.
»Überhaupt nicht. Grüßen Sie ihn von mir.«
Nat lächelte und drückte Hanks Handynummer, unter der sie nur die Mailbox erreichte. »Ich bin’s«, sagte sie. »Ruf mich an, wenn du Zeit hast, auf dem Handy. Aber mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung mit mir.« Sie schloss den Deckel.
»Gut gemacht. Einer Mailbox vertraut man keine Kapitalverbrechen an.«
Nat brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Stimmt.«
»Ich hoffe, wir sind nicht in den Nachrichten. Ich habe keine Interviews gegeben, und niemand hat mich wegen Ihnen gefragt.« Angus schüttelte den Kopf. »Es tut mir so leid, dass das passiert ist.«
»Schon gut. Wenigstens war es keine Studentin.«
»Egal, es ist schrecklich. Ich werde mir etwas ausdenken, um es wiedergutzumachen, aber inzwischen bringe ich Sie erst mal nach Hause. Sie wollen nicht zur Uni, oder?«
»Nein. Ich will in die Badewanne. Mit einem großen, dicken Schmöker.«
»Sie lesen in der Badewanne?« Angus lächelte. »Das hat meine Schwester früher auch immer gemacht.«
»Natürlich, es ist der beste Platz dafür. Meine Lieblingsbücher haben alle Eselsohren und Wasserflecken. Ein Tag wie heute verlangt nach einem historischen Roman. Die Männer tragen Rüschen, die Frauen Reifröcke, und alle spreizen den kleinen Finger ab beim Teetrinken.«
»Gut, dann sagen Sie mir, wo Sie wohnen, und ich fahre Sie zu Ihrer Badewanne.«
»Danke.«
»Leben Sie beide zusammen?«
»Irgendwie schon.«
»Wie heißt Ihr Freund übrigens?«
Nat sagte es ihm, während sie nicht aufhören konnte, an einen ganz anderen Namen zu denken.
Ron Saunders.