Читать книгу Und wenn du nicht die Wahrheit sprichst - Lisa Scott - Страница 10

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Der Besucherraum im Kellergeschoss des Roundhouse war rechteckig und stickig, ein schmuddeliger, in einzelne Kabinen unterteilter Schlauch, in dem die Anwälte sich mit ihren Mandanten trafen. Ein schmieriger Film überzog die Holztäfelung der Wände, wo sie nicht mit eingerollten Notizzetteln auf Englisch und Spanisch bedeckt waren. Das RAUCHEN VERBOTEN-Schild trug ein Brandmal von einer Zigarette, die Decke hing um einen braunen Wasserfleck herum durch, und der blaugraue Anstrich der Gesprächskabinen war mit Kritzeleien übersät. Haufenweise Telefonnummern und eine große Inschrift: Gloria liebt Smokey – 4ever.

Mary und Judy waren die einzigen Anwälte im Raum und warteten auf der einen Seite der kugelsicheren Plexiglaswand, während Jack Newlin auf der anderen hereingeführt wurde. Er war so attraktiv, dass Mary sich bei seinem Anblick unwillkürlich aufrichtete. Groß, breitschultrig und athletisch gebaut, wirkte er auf eine sympathische Art selbstsicher, wenn man von der Anspannung in seinem Gesicht absah. Eine tiefe Furche saß über seinen blauen, von Krähenfüßen umringten Augen, die besorgt dreinblickten. Seine vollen Lippen waren zu einem Strich aufeinandergepresst, und dunkle Schatten bedeckten seine ausgeprägte Kinnlinie. Doch Jack Newlin war der Typ Mann, dem sogar Bartstoppeln gut standen. Er erinnerte Mary an Kevin Costner, nur mit mehr Grips.

»Danke, dass Sie gekommen sind, meine Damen«, sagte Newlin, als er sich setzte. Seine Hände waren mit Handschellen gefesselt, und er steckte in einem weißen Overall aus Papier. »Aber Sie hätten sich nicht beide herbemühen müssen. Ich brauche nur eine Anwältin. Mit wem habe ich am Telefon gesprochen?«

»Mit uns beiden«, antwortete Mary. Sie stellte sich zuerst selbst vor, dann Judy zu ihrer Rechten. »Bei einer Mordanklage arbeiten wir im Team.«

»Ich weiß das zu schätzen, aber ich werde kein Team benötigen. Mit wem habe ich zuerst gesprochen? Mit Ihnen, Mary?«

»Äh, ja.« Mary sah Judy an, die sie mit einem Nicken aufforderte weiterzumachen. Aber Mary wollte nicht weitermachen. »Ich kann diesen Fall nicht allein übernehmen, Mr Newlin. Ich habe nicht genug Erfahrung mit Tötungsdelikten, längst nicht so viel wie Bennie Rosato oder andere Anwälte in dieser Stadt.«

Newlin lächelte freundlich. »Erstens, nennen Sie mich bitte Jack. Zweitens, Sie haben meine Fragen am Telefon ehrlich beantwortet, so wie auch jetzt, und das gefällt mir. Ich brauche keine Anwältin mit jahrzehntelanger Erfahrung. Ich möchte, dass Sie mich vertreten.«

Mary spürte, wie sie bei dem Lob rot wurde. Die Tatsache, dass es von einem derartig gut aussehenden Mann kam, schmeichelte ihr zusätzlich. »Mr Newlin, Jack ...«

»Das ist ein einfacher Fall. Sie werden keine großen Geschütze auffahren müssen. Ich beabsichtige, mich schuldig zu bekennen. Es stimmt, ich habe meine Frau umgebracht. Ich habe es getan.«

Mary war sprachlos. Hatte sie richtig gehört? Seine Worte hingen zwischen ihnen in der Luft. »Sie haben sie umgebracht?«, wiederholte sie schockiert.

»Ja. Die Polizei hat mich verhört, und ich habe ihnen alles gesagt. Ich habe gestanden.«

Mary sah ihn forschend an, und obwohl sie noch nie in die Augen eines Mörders geblickt hatte, war sie verwundert, dass dieser so umwerfend schöne hatte. Aber Ted Bundy hatte auch schöne Augen gehabt. Vielleicht sollten schöne Augen dem Täterprofil von Mördern hinzugefügt werden. »Einen Moment«, sagte sie und versuchte, sich zu sammeln. »Sie haben mit der Polizei gesprochen? Warum?«

»Das war wohl ein Fehler. Ich war verwirrt. Dachte, ich könnte ein paar Fragen beantworten und es hinter mich bringen. Ich weiß, das war dumm von mir. Ich habe die Polizei direkt vom Tatort aus angerufen. Vielleicht lag es am Scotch.«

»Am Scotch?« Mary hätte ihn nie für einen Trinker gehalten.

»Vielleicht sollte ich Ihnen alles von Anfang an erzählen?«

»Warten Sie. Sind Sie jetzt immer noch betrunken?«

»Nein. Kaum.«

»Waren Sie betrunken, als Sie mit der Polizei sprachen?«

»Nein, überhaupt nicht. Ich hatte nur ein paar Drinks.«

»Wie viele?«

»Zwei, glaube ich. Ich bin vollkommen klar. Ist das juristisch von Belang?«

Mary hatte keinen Schimmer. »Ja, das ist es. Deshalb habe ich gefragt. Also, dann erzählen Sie uns mal, was sie denen erzählt haben.«

Sie wühlte in ihrer Aktentasche nach einem Kuli und einem neuen Anwaltsblock. »Langsam, damit ich mir Notizen machen kann.«

Sie schrieb mit, während Judy schweigend zuhörte. Als er geendet hatte, fragte Mary: »Haben Sie das alles auch der Polizei gesagt?«

»Ja, ich habe ihnen alles erzählt.«

»Hat man Sie über Ihre Rechte informiert?«

»Ja. Sie haben mir auch ein Formular gegeben, mit dem ich auf mein Recht zu schweigen und einen Anwalt hinzuzuziehen verzichtete. Zwei Blätter, die ich ausgefüllt und unterschrieben habe.«

Mary warf Judy einen Blick zu, die nur den Kopf schüttelte. Katastrophal.

»Ich denke, das macht Ihr Geständnis rechtsgültig: Ist Ihre Aussage protokolliert worden?«

»Ja, und sie haben mich auf Video gefilmt.«

»Was haben sie sonst noch gemacht?« Sie kannte das Vorgehen der Polizei nur aus dem Fernsehen. Das Gesetz als Serienkrimi.

»Meine Fingerabdrücke abgenommen. Eine Haar- und eine Hautprobe genommen. Sie haben mich in meinem Anzug fotografiert und anschließend Fotos von meinen Händen gemacht. Ich habe einen Schnitt von dem Messer an einer Hand. Sie haben zwölf Fotos davon gemacht, glaube ich. Dann haben sie mir die Kleider weggenommen, weil Blut daran klebte. Sie haben Proben vom Blut meiner Frau von meinen Kleidern und meinen Händen gekratzt.«

Mary war entsetzt, verbarg es aber gut. Schon ihre kurze Laufbahn als Anwältin hatte genügt, um ein Pokerface zu entwickeln. »Sie hatten Blut an sich, das Blut Ihrer Frau?«

»Ja.«

Mary bemerkte, dass er ihr nicht ins Gesicht sah, als er den Kopf hob.

»Dann wollten sie, dass ich meine Aussage unterschreibe, aber ich weigerte mich.«

Marys Stift hielt über dem Papier inne. »Das verstehe ich nicht. Sie haben gestanden, aber die Aussage nicht unterschrieben?«

»Genau. Ich habe verlangt, einen Anwalt anrufen zu können.«

»Warum haben Sie zuerst gestanden und dann einen Anwalt verlangt?«

»Weil ich meine Meinung geändert hatte. Auf einmal war ich mir nicht mehr sicher wegen des Geständnisses. Mir wurde klar, dass ich mich nicht selbst vertreten konnte. Zuerst dachte ich, ich könnte es, weil ich auch Jurist bin, bei Tribe.«

»Sie sind Anwalt bei Tribe?«, fragte sie erstaunt. Tribe & Wright gehörte zur Crème de la Crème der Anwaltsfirmen, war noch renommierter als Stalling & Webb, wo sie und Judy zuvor gearbeitet hatten. Jack Newlin musste ein As in seinem Beruf sein. Warum hatte er sich dann so dumm verhalten? Und so gewalttätig? Das ergab einfach keinen Sinn.

»Ja, ich leite die Nachlassabteilung. Nachdem ich den Beamten gesagt hatte, was passiert war, begannen sie, mich zu befragen, und ich merkte, dass ich mich nicht gut genug auskannte. Ich wollte mit einem Strafrechtler sprechen, ehe ich das Geständnis unterschrieb. Ich dachte, dass ich mit Hilfe eines Verteidigers ein milderes Urteil auf Grund meines Schuldbekenntnisses erwirken könnte.«

»Warum haben Sie überhaupt mit der Polizei gesprochen? Als Jurist mussten Sie doch wissen, dass das falsch war.«

»Ich war eben vollkommen aufgelöst und konnte nicht klar denken. Hören Sie, ich erwarte jetzt keine Wunder von Ihnen. Ich erwarte nicht, dass Sie mich freibekommen. Wie gesagt, ich bin bereit, mich schuldig zu bekennen.«

Sein Ton blieb ruhig und entschieden, aber sein Blick kam Mary unstet vor. Seine Kiefermuskeln arbeiteten und ließen auf unterdrückte Emotionen schließen.

»Mr Newlin, Jack, ich verstehe, weshalb Sie sich schuldig bekennen wollen. Es gibt sicher eine erdrückende Beweislast gegen Sie. Trotzdem ist es noch verfrüht, über ein Schuldbekenntnis oder Ähnliches zu sprechen.«

»Warum?«

Mary wusste es selbst nicht. Die Vernunft sagte es ihr. »Eine Frage der Vernunft. Ich kann im Moment noch nicht absehen, auf was wir plädieren werden. Zum einen haben Sie gestanden, und es existiert eine Videoaufnahme davon, daher ist Ihre Verhandlungsposition ziemlich schlecht. Zum anderen steht erst noch eine Voruntersuchung an, bei der die Polizei darlegen muss, dass sie genug Beweise hat, um Sie festhalten zu können.« Sie schöpfte aus ihrem Seminar über Strafrecht. Hoffentlich waren die Gesetze inzwischen nicht geändert worden. »Warum sollten wir schon vorher versuchen, ein Urteil auszuhandeln? In der Zwischenzeit können wir unsere eigenen Ermittlungen anstellen.«

»Ermittlungen?«

»Wir ermitteln immer selbst, bevor wir unsere Verteidigung aufbauen.« Das taten sie zumindest in den Anwaltsserien im Fernsehen, Marys größtem Erfahrungsschatz, was Mordprozesse anbelangte.

»Aber ich habe Ihnen doch gesagt, was passiert ist.«

»Wir müssen uns genauestens über die Beweislage informieren.« Mary sah Judy Bestätigung heischend an und erhielt ein zustimmendes Lächeln. »Wir müssen wissen, was die Anklage hinsichtlich der Schwere der Tat und des möglichen Strafmaßes gegen Sie in der Hand hat. Wir brauchen eine überzeugende Verteidigung, die wir dem entgegensetzen können. Aus einer Schwächeposition heraus können wir nicht verhandeln.«

»Hören Sie, Mary, ich will diese Sache so schnell wie möglich hinter mich bringen.« Jacks Mund drückte Entschlossenheit aus, und Mary runzelte verwirrt die Stirn.

»Aber es ist normalerweise nicht der Angeklagte, der von einem schnellen Urteil profitiert, sondern der Staat. Übereiltes Vorgehen hat Ihnen bisher nur geschadet. Wenn Sie uns angerufen hätten, ehe Sie mit der Polizei sprachen, wären Sie jetzt nicht in dieser misslichen Lage. Sie erwartet im schlimmsten Fall die Todesstrafe, ist Ihnen das klar?«

Er schien ihre Warnung mit Absicht zu überhören. »Ich will eine schnelle Verhandlung, weil meine Familie so wenig wie möglich darunter leiden soll. Ich habe eine sechzehnjährige Tochter, Paige, die Model ist. Wenn es schnell geht und wir größeres Aufsehen vermeiden können, hat sie ihre Karriere immer noch vor sich. Sie weiß bist jetzt noch nicht einmal, dass ihre Mutter tot ist. Deshalb wollte ich Sie auch bitten, zu Paiges Wohnung zu fahren und es ihr schonend beizubringen. Ich möchte nicht, dass sie es aus dem Fernsehen oder von der Polizei erfährt.«

»Zu ihrer Wohnung? Sie wohnt nicht mehr zu Hause?«

»Nein. Sie hat ihr eigenes Apartment. Es ist in Society Hill, gar nicht weit von hier.«

Jack nannte eine Adresse, die Mary sich notierte.

»Bitte gehen Sie zu ihr, sobald wir hier fertig sind. Stellen Sie sich vor, Sie müssten eine solche Nachricht von der Polizei erfahren.«

Mary begegnete erneut seinem Blick, der eindringlich und voller Sorge war. Konnte jemand, der seine Frau umgebracht hatte, derart besorgt um seine Tochter sein? Merkwürdig. »Sie wollen, dass ich es Ihrer Tochter beibringe? Ich wüsste gar nicht, was ich sagen soll.«

»Sagen Sie ihr die Wahrheit. Erzählen Sie ihr alles, was ich Ihnen heute Abend erzählt habe.«

»Das kann ich nicht. Was Sie uns anvertraut haben, unterliegt der Schweigepflicht.«

»Nicht in diesem Fall. Ich entbinde Sie von der Schweigepflicht gegenüber meiner Tochter.«

»Das geht nicht.« Mary schielte zu Judy, die bereits den Kopf schüttelte. »Es wäre gegen Ihre eigenen Interessen. Ihre Tochter könnte als Zeugin in Ihrem Prozess vorgeladen werden.«

»Was für ein Prozess? Ich werde mich schuldig bekennen.«

»Das steht noch nicht fest, und wir müssen uns alle Möglichkeiten offen halten. Deshalb werde ich Ihrer Tochter nur das Nötigste berichten. Ich werde ihr sagen, dass ihre Mutter tot ist und ihr Vater von der Polizei festgehalten wird.«

»Aber Paige soll wissen, dass ich zu meiner Tat stehe. Sie soll wissen, dass ich wenigstens kein Feigling bin und die Verantwortung für mein Verbrechen übernehme.«

Seine kräftige Kinnlinie drückte Unnachgiebigkeit aus, doch Mary bemerkte, wie ein kleiner Muskel unterhalb seines Ohrs wieder zu zucken begann. Augen und Wangenmuskeln, was sagten sie aus? Gab es da überhaupt etwas zu erkennen?

»Also gut, ich werde ihr sagen, dass Sie in Erwägung ziehen, sich schuldig zu bekennen, aber nicht mehr. Bis morgen früh hat die Polizei das wahrscheinlich sowieso schon nach draußen durchsickern lassen. Einverstanden?«

»Einverstanden. Darüber hinaus möchte ich Sie noch um einen persönlichen Gefallen bitten, wenn Sie gestatten.« Jack machte einen ausgesprochen verlegenen Eindruck, was Mary sofort entwaffnete. Ein gut aussehender, wohlbetuchter Killer, der sich wie ein netter Junge von nebenan benahm. Ziemlich verwirrend, gelinde gesagt.

»Natürlich. Worum geht es?«

»Paige wird sehr bestürzt und durcheinander sein über diese Nachricht. Würden Sie eine Weile bei ihr bleiben? Sie hat nicht viele Freunde.«

»Ja«, antwortete Mary, obwohl das im Grunde selbstverständlich für sie war. Doch irgendetwas passte hier nicht ganz ins Bild. Ein hübsches, reiches Mädchen ohne Freunde? Was war nur mit dieser Familie los? »Was ist denn mit ihren Klassenkameraden? Wo geht sie zur Schule?«

»Paige ist nicht gerade eine typische Sechzehnjährige. Sie sieht erwachsen aus, benimmt sich erwachsen und verdient Geld wie eine Erwachsene. Sie erhält Privatunterricht zwischen ihren Fototerminen. Mit Gleichaltrigen hat sie schon lange nichts mehr zu tun, und ihr Freund, jedenfalls der, den sie zuletzt hatte, ist bestimmt keine große Hilfe. Bleiben Sie einfach bei ihr, bis sie sich besser fühlt, und warten Sie ab, ob sie mich besuchen kommen will. Ich würde sie gern heute Nacht noch sehen und versuchen, ihr alles zu erklären.«

»Ich werde es ihr ausrichten.« Mary konnte sich nicht vorstellen, dass eine Tochter ihren Vater unter diesen Umständen sehen wollte. Sie erhob sich und steckte Block und Stift ein. »Ich denke, wir sind für heute fertig. Der nächste Schritt ist die Anklageerhebung, bei der Sie formell angeklagt werden und der Haftrichter über eine Freilassung gegen Kaution entscheidet. Ich vermute, dazu wird es morgen früh kommen, aber es besteht die Möglichkeit, dass es schon heute Nacht passiert. Judy wird für diesen Fall im Roundhouse bleiben, bis ich wieder zurück bin. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?«

Mary klemmte ihre Aktentasche unter den Arm, und Jack lächelte, was bewirkte, dass sie sich wie ein Schulkind mit Ranzen fühlte.

»Nein, keine. Sie haben das sehr gut gemacht«, sagte er.

Sie lachte errötend. »Anfängerglück. Bis morgen.«

Sie stand auf und ging mit Judy zur Tür.

»Kümmern Sie sich um Paige, bitte.« Seine Stimme klang leicht brüchig.

Mary drehte sich noch einmal um.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, hörte sie sich sagen.

Und wenn du nicht die Wahrheit sprichst

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