Читать книгу Und wenn du nicht die Wahrheit sprichst - Lisa Scott - Страница 8

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Mary DiNunzio strich eine dunkelblonde Strähne in ihren lockeren Haarknoten zurück und lümmelte sich auf einen Drehstuhl am Konferenztisch, der mit braunen Aktenmappen, Prozessnotizen und abgestempelten Beweisdokumenten übersät war. Es war schon längst Büroschluss, aber Mary saß immer noch in den Kanzleiräumen von Rosato & Partner. Sie sah ihrer Freundin Judy Carrier bei der Arbeit zu und bemitleidete sich selbst. Der Hemex-Prozess war endlich vorbei, und sein Nachgeschmack bewirkte, dass Mary ihren Beruf wieder einmal hasste. Anwälte waren noch schlimmer als ihr Ruf, falls diese Steigerung überhaupt möglich war.

»Meinst du nicht, dass ich doch noch Pâtissière in einem feinen Restaurant werden könnte?«, fragte sie laut. »Ich stehe eher auf Süßspeisen als auf Prozesse.«

Judy stopfte einen Aktendeckel in eine Ordnungsmappe vom Typ Ziehharmonika. »Willst du mir nun helfen oder willst du jammern?«

»Dreimal darfst du raten. Außerdem bin ich gerade damit beschäftigt, deine Arbeit zu überwachen. Dieser Aktendeckel gehört nicht dort hinein. Das ist eine Akte mit Notizen, also gehört sie in die Notizenablage.« Mary deutete auf eine Ordnungsmappe am anderen Ende des Tischs. »Dort. Nummer elf.«

»Ach, tatsächlich?« Judy nahm eine neue Akte und schob sie in dieselbe Ablage. Ihr zitronengelbes Haar, das in Form einer Suppenschüssel geschnitten war, fiel ihr kreisförmig ins Gesicht, wenn sie den Kopf beugte. Es erinnerte Mary dann an einen flachen Teller. Obendrein trug Judy noch Silberöhrringe, die aus Löffelstielen gefertigt waren. Marys Magen begann zu knurren, bis sie merkte, dass ihre Freundin eine weitere Akte in die falsche Ablage steckte.

»Schon wieder falsch. Das ist das Protokoll einer eidesstattlichen Aussage und gehört in Nummer zehn. Und was ist mit der anderen Akte, willst du sie nicht richtig einordnen?«

»Nein. Guck mal, das hier ist ein Hefter mit Vertragsentwürfen, also gehört er in die zweite Ablagemappe.« Judy steckte die Mappe in eine beliebige Ablage. »Ich habe sie aber gerade in Nummer fünfzehn getan. Frag mich mal, ob mich das kümmert.«

»Es kümmert dich nicht?«

»Nicht im Geringsten.«

Judy sah lächelnd auf. Ihre strahlend blauen Augen lächelten mit, betont von einem kobaltblauen Kittelkleid, das sich um ihre große, kräftige Gestalt bauschte. Judy kletterte auf hohe Felsen und betrieb noch andere selbstzerstörerische Aktivitäten, aber sie hatte bei allen Muskeln eine gute Figur, die sie unbegreiflicherweise unter sackartigen Kleidern verbarg. Der Modegeschmack ihrer Freundin war jedoch nicht das Einzige, das Mary Rätsel aufgab.

»Warum bringst du die Ablage durcheinander, Mädchen?«

»Weil es piepegal ist. Das ist das bestgehütete Geheimnis in Anwaltskanzleien, sogar in einer so smarten wie unserer. Wenn eine Akte erst einmal im Archiv gelandet ist, kümmert sich kein Mensch mehr darum. Sie verstaubt nur noch.«

»Das stimmt nicht. Ab und zu muss man eine Akte noch mal einsehen.«

»Wozu?«

Mary musste nachdenken. »Um das Honorar zu berechnen, zum Beispiel.«

»Quatsch, das wird einfach Pi mal Daumen errechnet, das weißt du genau, und ich weiß es auch.« Judy stopfte die nächste Akte in eine immer dicker werdende Ziehharmonika. »Siehst du? Ich lege sie einfach beliebig ab, wo gerade Platz ist. Das mache ich nach einem Prozess immer so. Es ist noch nie jemandem aufgefallen. Die Welt hat sich einfach weitergedreht.«

»Du meinst, jedes Mal, wenn wir nach einer Verhandlung aufgeräumt haben, hast du die Akten nach Lust und Laune weggepackt?«

»Genau.« Judy grinste. »Hast du dich nie gefragt, warum ich immer schneller fertig bin als du?«

Marys Mund klappte auf. »Ich dachte, es läge daran, dass du schlauer bist.«

»Bin ich auch, und das ist mal wieder das beste Beispiel dafür. Es ist Schwachsinn, sie richtig einzuordnen.«

»Aber es wird von einem erwartet.«

»Ach ja, was nicht alles von einem erwartet wird.« Judy legte eine weitere Akte falsch ab. »Das ist wie mit Personalakten.«

»Sag nichts gegen Personalakten. Meine war immer tadellos.«

»Tja, meine nicht, und wir sind trotzdem bei derselben Firma gelandet, was nur beweist, dass ich Recht habe. Personalakten, Matratzenprüfetiketten – völlig überflüssige Dinge. Das sind bloß Erfindungen, die uns bei der Stange halten sollen.«

»So wie der liebe Gott.«

»Ich wusste, dass du das sagen würdest. Für eine abtrünnige Katholikin bist du gar nicht so abtrünnig.«

»Mea culpa.« Mary schlug die Beine übereinander und spielte mit ihrer Zuchtperlenkette, die sie zu einer elfenbeinfarbenen Bluse und einem grauen, maßgeschneiderten Kostüm trug. Sie war eher klein zu nennen, hatte aber eine hübsche, kompakte Figur und verzichtete auf Berge von köstlichen Ravioli, um sie sich zu erhalten. »Vielleicht sollten wir jetzt etwas essen gehen. Einen schönen Salat.«

»Das ist etwas für kleine Mädchen«, schnaubte Judy und streckte sich nach einem leeren Ablagefach. »Lass mich kurz noch die Ablage zu Ende durcheinanderbringen, dann können wir unseren Sieg im langweiligsten Fall aller Zeiten feiern.«

»Beschrei es nicht. Du weißt noch nicht, ob wir gewonnen haben.«

»Oh doch. Wir waren weniger langweilig als die anderen. Die gute Bennie Rosato könnte noch nicht mal langweilig sein, wenn sie es wollte.«

»Sprichst du von unserer Chefin? Du machst wohl Witze. Hast du sie noch nie vom Rudern erzählen hören?« Mary deutete auf die Wände des Konferenzraums. Eine Wand bestand ganz aus Glas und gewährte Blick auf den Flur mit den Aufzügen, doch die anderen Wände waren mit Kunstdrucken von Ruderern auf dem Schuykill River geschmückt. Neben ihnen hingen Fotos von Studentinnenmannschaften der Universität von Pennsylvania, die an der Boathouse Row vorbeiruderten, dem von bunten Bootshäusern gesäumten Flussufer. »Sie ist die reinste Schlafpille, wenn sie vom Rudern schwärmt. Oder von Golden Retrievern. Wegen Bennie habe ich schon eine richtige Abneigung gegen diese Hunderasse entwickelt. Wenn sie einen Golden Retriever in ein Boot setzen und ihn herumrudern könnte, wäre das wahrscheinlich der Himmel auf Erden für sie.«

Judy unterbrach ihre Fehlablage. »Wenn du mal deinen Hintern hochbekämst und eine Sportart betreiben würdest, könntest du verstehen, warum Bennie so gern übers Rudern spricht. Und ihre Hundevernarrtheit kann ich auch nachvollziehen. Bear ist wirklich ein guter Hund. Ich habe ihn jetzt seit einer Woche in Pflege, und es macht richtig Spaß.«

»Schön für dich. Ich gönne dir den Spaß, solange du mich nicht damit vollschwallst. Oder mir Hundefotos zeigst.«

»Du magst doch Hunde.«

»Nein, ich mag Ravioli, und mich regt es immer noch auf, dass du ein Chaos aus unserer Ablage machst.«

Judy ging nicht darauf ein. »Meine Familie hat Labradors und Golden Retriever gezüchtet, das war toll. Ich überlege gerade, ob ich mir einen Welpen zulegen soll.«

»Na super. Den kannst du dann zwischen zwei Verhandlungen besuchen. Ihm kurz den Kopf tätscheln.« Das Telefon auf dem Sideboard aus Eiche klingelte, und Mary sah stirnrunzelnd hinüber. »Muss ich das annehmen?«

»Natürlich.« Judy sammelte einen Stapel Aktendeckel zusammen, den sie in ein leeres Ablagefach fallen ließ. »Ich bin zu sehr damit beschäftigt, Chaos zu stiften, und du bist näher dran.«

»Aber es ist nach Büroschluss.«

Das Telefon klingelte beharrlich weiter, und Judy machte ein strenges Gesicht. »Geh ran, Mary.«

»Nein. Ich bin fix und fertig. Der Anrufbeantworter ist an.«

Rrring!

»Geh jetzt endlich ran!«, sagte Judy. »Du wirst ein schlechtes Gewissen haben, wenn du das Gespräch nicht annimmst. Merkst du nicht schon, wie es dich zwickt?«

»Das ist ja wohl das Letzte, mit den Schuldgefühlen einer Katholikin zu spielen. Wie tief willst du noch sinken?« Mary schnappte sich den Hörer. »Rosato und Partner ... Es tut mir Leid, Bennie ist im Ausland, den ganzen Monat. Ja, es sind noch andere Kanzleipartner hier.« Sie legte eine kleine, sorgfältig manikürte Hand über die Sprechmuschel und sah Judy an. »Ein Mann, der einen Strafverteidiger braucht. Soll ich ihm sagen, er hat die falsche Nummer?«

»Sehr komisch. Frag ihn, wie die Anklage lautet.«

Mary gehorchte, und Judy sah, wie sich das Gesicht ihrer Freundin verfärbte. »Sag ihm, wir übernehmen den Fall«, flüsterte sie schnell.

Marys braune Augen flammten vor Schreck auf. »Einen Mordfall? Du und ich? Ganz allein? Das können wir nicht machen! Wir haben keine Befugnis, wir sind nicht kompetent, wir haben keine Erfahrung, wir haben gar nichts ...«

»Entschuldigen können wir uns später. Sag ja.«

»Aber wir wissen doch gar nicht, was wir tun.« Marys Hand krampfte sich um den Hörer. »Wir haben erst zwei Mordfälle bearbeitet, und bei einem sind wir beinahe selbst ermordet worden.«

»Ich dachte, du wärst während des letzten Falls erwachsene geworden.«

»Zwei Schritte vor, einer zurück.«

»Du hast zu mir gesagt, du hättest keine Angst mehr.«

»Ich habe gelogen. Ich bin der geborene Angsthase.«

»Sag ihm, wir nehmen an, Schwachkopf!« Judy ließ eine Akte fallen und marschierte zum Sideboard. »Gib mir den Hörer.«

»Nein!« Mary drückte ihn an ihre Brust. »Wir können das nicht! Wir sind nicht clever genug!«

»Sag nicht immer ›wir‹.« Judy entriss ihr das Telefon.

Zehn Minuten später saßen sie in einem Taxi, das sich die Market Street hinunter zum Roundhouse durchschlängelte. Es hatte aufgehört zu regnen, doch die Straßen waren nass, und in den Rinnsteinen flossen kleine Sturzbäche. Übrig gebliebene Weihnachtsgirlanden wehten an den Straßenlampen im Wind, und die Lichter des Marriott-Hotels, der Gallery-Einkaufspassage und der zahlreichen Geschäfte entlang der Market Street spiegelten sich in bunten Kreisen auf dem glatten Asphalt. Mary kam die Stadt verlassen vor, jetzt, wo alle sich von den Feiertagen erholten. Sogar der Taxifahrer war ungewöhnlich schweigsam, aber Mary und Judy machten das mehr als wett. Seit Verlassen des Büros hatten sie ununterbrochen diskutiert. Gott allein wusste, wie viele Prozessstrategien, Vergleichsverhandlungen und Plädoyers schon auf den Rücksitzen der Taxis dieser Stadt besprochen worden waren. Die Cabbies hätten inzwischen Juraexamen ablegen, als Anwälte praktizieren und frischen Wind in den gesamten Berufsstand bringen können.

Mary versank fast in ihrem Trenchcoat. »Ich war noch nie Hauptverteidigerin bei einem Mordprozess.«

»Na und? Wir sind schon als Nebenverteidigerinnen für Bennie aufgetreten.«

»Er hat Bennie angerufen«, insistierte Mary.

»Nein, hat er nicht. Er hat die Kanzlei angerufen. Wir beide haben mehr Erfahrung in Strafprozessen als die anderen in der Firma, abgesehen von Bennie selbst.«

»Zwei Strafprozesse – das nennst du Erfahrung? Das ist ein Lockvogelangebot, nur mit Anwältinnen statt mit Klimaanlagen.«

»Dann sag ihm das eben.« Judy zuckte die Achseln unter ihrem weißen Steppmantel, der sie umhüllte wie Zuckerglasur einen Krapfen. »Lass den Mann seine Entscheidung doch selbst treffen. Wenn er eine andere Anwältin will, kann er eine bekommen.«

»Ich werde es ihm sagen«, verkündete Mary, als hätte Judy ihr widersprochen. Sie sah aus dem Fenster auf die schlafende Stadt.

»Wie sind wir bloß da reingeraten?«

»Wir haben gern Spaß.«

»Ich hasse Spaß. Ich hasse Rudern und Hunde und Spaß jeder Art.«

»Reiß dich zusammen, Schätzchen. Wir kriegen das schon hin. Gebrauch einfach deinen gesunden Menschenverstand. Also, wen hat Newlin umgebracht? Angeblich?«

Mary wurde rot. Zum Glück war es im Taxi dunkel. »Äh, ich weiß es nicht. Hab nicht gefragt.«

»Geschickter Zug.« Judy lachte, Mary nicht.

»Du hättest ihn ja selbst fragen können.«

»Ich dachte, er hätte es dir schon gesagt.«

Mary schloss kurz die Augen. »Ich bin nicht kompetent in dieser Sache. Ich verpfusche sie, bevor ich überhaupt dem Mandanten begegnet bin. Hat man so etwas schon gehört?«

»Ist wirklich ein Rekord«, scherzte Judy, aber ohne Boshaftigkeit. »Wir beide werden es schon schaffen, okay?«

Mary konnte nicht lächeln. Eine Anzeige wegen Vernachlässigung der beruflichen Sorgfaltspflicht war nicht komisch, und Mord war es noch weniger. Sie sah aus dem Fenster, als das Taxi vor dem Roundhouse hielt. Der Regen hatte wieder eingesetzt, ein eiskalter Wolkenbruch. Aus irgendeinem Grund überraschte sie das nicht.

Und wenn du nicht die Wahrheit sprichst

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