Читать книгу Und wenn du nicht die Wahrheit sprichst - Lisa Scott - Страница 11

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Die Nachricht von einem Mordfall in der High Society verbreitete sich in Windeseile in Philadelphia. Zuerst erfuhr der Polizeinotruf davon, dann die Beamten vom Morddezernat, die Fahrer der Notarztwagen, die Reporter, die den Polizeifunk abhören, der Gerichtsmediziner, das Polizeilabor und die stellvertretenden Polizeichefs. Dann der Bürgermeister, der Polizeipräsident und der oberste Staatsanwalt. Normalerweise hätte der oberste Staatsanwalt den Fall einfach irgendeinem seiner untergebenen Staatsanwälte zuweisen müssen. Aber wie beim Leben, so galt auch beim Tod eine Hackordnung: Wenn ein Niemand ermordet wurde, ging der Fall an einen der zahlreichen Jung-Staatsanwälte in Philly, die alle furchtbar clever und gnadenlos ehrgeizig waren. Doch der Mord an einer Frau mit dem gesellschaftlichen Status von Honor Newlin, begangen von einem Anwalt mit dem Renommee von Jack Newlin, konnte nur einem einzigen Mann übertragen werden.

»Ruhe!«, sagte Dwight Davis zum Telefon, nahm aber trotzdem den Hörer ab.

Trotz der späten Stunde saß Davis noch in seinem Büro und legte letzte Hand an einen Verhandlungsschriftsatz. Sein Schreibtisch war unordentlich, eine vergessene Gatorade-Dose leuchtete quietschblau zwischen Papierbergen in dem kalten, harten Deckenlicht. Als Amateur-Marathonläufer schien Davis darauf gepolt zu sein, nie zu ermüden. Eine Art nervöser Energie durchzuckte ständig seinen Körper, und wenn er einmal nicht zu seinem täglichen Trainingslauf kam, war er unerträglich. Man erzählte sich, dass seine Sekretärinnen ihm die Laufschuhe nachwarfen, damit er endlich abhaute, weil sie glaubten, er werde beim Laufen mal die Arbeit vergessen. Sie täuschten sich, denn wenn er lief, dachte er Schritt für Schritt, Kilometer für Kilometer, an nichts anderes als an seine Arbeit. Mordprozesse, Tatorte und Plädoyers befeuerten sein Training.

»Sie wollen mich wohl verarschen«, sagte Davis ins Telefon. »Bei Tribe? »

Oft wachte er morgens mit einer raffinierten Beweisführung im Kopf auf, und seine besten Schlussanträge dachte er sich auf der Toilette aus. Er wusste die komischsten Gerichtsanekdoten der gesamten Staatsanwaltschaft zu erzählen und lachte am lautesten über die der anderen. Nichts erregte, faszinierte oder begeisterte ihn mehr als die Arbeit eines Staatsanwalts. Kurzum, er liebte seinen Beruf.

»Sie haben es auf Video? Und den Anruf beim Notruf auf Band? Das ist großartig, einfach großartig.«

Davis brach in fröhliches Gelächter aus. Worüber? Darüber, dass einer von ganz oben ganz tief gefallen war? Nein, er war nicht gehässig. Er war einfach glücklich. Glücklich, am Leben zu sein, hier und jetzt, und den Newlin-Fall bearbeiten zu können. Das war der Grund, warum er bisher jede Beförderung abgelehnt hatte. Die Bezahlung wäre zwar besser, aber er hatte keine Lust, über Urlaubsanträge zu entscheiden, Krankheitstage zu zählen, Sekretärinnen einzustellen oder Rechtsassistenten zu feuern. Warum ein Schreibtischhengst sein, wenn man Fälle vor Gericht verhandeln konnte? Warum gehen, wenn man rennen konnte? Und warum sich mit Kinkerlitzchen abgeben, wenn man jemanden wie Jack Newlin anklagen konnte?

»Sie haben das Messer? Sie haben seine Fingerabdrücke auf dem Messer? Sagen Sie den Leuten, sie sollen ihren Arsch hierher bewegen!«

Er konnte nicht aufhören zu lächeln, er fühlte sich prächtig. Der kapitalste Fall in der Stadt, und Newlin hatte genug Zaster, um sich den besten Verteidiger zu nehmen. Ein starker Gegner brachte Davis erst so richtig in Fahrt; seine Erfolgsquote war die höchste der Staatsanwaltschaft. Warum gewann er so oft? Diese Frage war der Auslöser von viel Klatsch, Spekulationen und Eifersucht unter seinen Berufskollegen. Manche glaubten, er gewann, weil er gut aussah und die Geschworenen ihn liebten. Keine schlechte Theorie. Er hatte klare, braune Augen, dichtes, schwarzes Haar, einen wohlgeformten Mund und den sehnigen Körper eines Läufers. Seine Körpergröße lag etwas unter Durchschnitt, doch selbst das gereichte ihm zum Vorteil, denn so konnte er die weiblichen Geschworenen für sich einnehmen, ohne dass sich die männlichen von ihm bedroht fühlten. Doch sein Aussehen war nicht der Grund für seinen Erfolg.

»Wer ist vom zweiten Dezernat an ihm dran? Brinkley und Kovich? Ausgezeichnet!« Davis fuhr sich mit der freien Hand durch die kurz geschorenen Haare.

Andere Staatsanwälte glaubten, Davis gewann, weil er schuftete wie ein Tier. Auch das war plausibel, wenn man sich seine Arbeitszeiten ansah. Er lebte für seinen Beruf und war ständig zur Stelle; früh morgens, wenn die anderen hereinbummelten, und spät abends, wenn sie nach Hause wankten. Der Alltag eines Staatsanwalts war ein dauernder Kampf mit der Zeit, und es schien unmöglich, den ganzen Tag Fälle vor Gericht zu verhandeln und nebenher noch den notwendigen Papierkram zu erledigen, aber Davis schaffte beides. Natürlich hatte er kein Privatleben. Seine Ehe war nicht über das erste Jahr hinausgekommen, und es gab keine Kinder. Er hielt sich eine kleine, leere Stadtwohnung und hatte noch nicht einmal einen Hund, mit dem er laufen konnte. Doch auch sein Arbeitseifer war nicht das Geheimnis seines Erfolgs.

»Wer wird Newlin vertreten? Erzählen Sie mir nicht, ein Pflichtverteidiger, nicht bei seinem Geld. Hey, da fällt mir ein guter Witz ein, Chef: ›Was haben eine Nonne und ein Pflichtverteidiger gemeinsam? Na? – Die eine kann einem keinen runterholen, der andere kann einen nicht rausholen!‹«

Der Grund, weshalb Davis so oft gewann, war ein ganz einfacher: Er war versessen aufs Gewinnen. Er war eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Er gewann aus demselben Grund, aus dem Reiche das Geld anziehen und Glückspilze das Glück. Gewinnen war das Schönste auf der Welt für ihn, es machte ihm mehr Spaß als alles andere.

»Wer? DiNunzio? Wer ist das?«

Er liebte es zu gewinnen, wie ein Vollblutpferd das Rennen liebt. Schon als kleiner Junge hatte er beim Kartenspielen am Küchentisch geschummelt, und als Quarterback in der Collegemannschaft hatte er versucht, mit Schlägen unter die Gürtellinie den Football bis zur Endzone durchzubringen. Auch vor Gericht tat er alles, um zu gewinnen. Er ging jedes erforderliche Risiko ein und brachte alle möglichen Beweise und Argumente vor. Und gerade weil er diese Risiken einging und diese Argumente vorbrachte, wurden sie zu den richtigen Risiken und den richtigen Argumenten, und er gewann. Dabei hatte Davis keine Angst zu verlieren. Er wusste, dass Verlieren zum Spiel gehörte. Man konnte nicht gewinnen, wenn man Angst vorm Verlieren hatte.

»Oh je, ich glaube, es gibt doch noch ein Problem, Chef«, sagte er plötzlich. »Zu dumm. Mir ist gerade etwas eingefallen. Ich kann den Newlin-Fall leider nicht übernehmen.«

Sein Gesicht bekam einen nüchternen Ausdruck und zeigte die ersten tiefen Falten, die wie Klammern um seinen Mund saßen und als kleine Gabel in der Mitte der Stirn auftauchten. Etwas hatte die Begeisterung in seinen wachen Augen gelöscht. Seine Mundwinkel fielen herab.

»Warum, fragen Sie? Ich werde es Ihnen verraten: Weil er zu verdammt einfach ist!«

Er brüllte vor Lachen, als er auflegte, und warf seinen Kugelschreiber gegen die Dartscheibe an der Wand. Ohne sich darum zu kümmern, wo der Stift gelandet war, stand er schnell auf und schnappte sich einen frischen Anwaltsblock, der ihm wie immer das Gefühl eines Neubeginns gab. Davis hatte keine Zeit für Spielchen.

Er war unterwegs zu einem Mordfall.

Und wenn du nicht die Wahrheit sprichst

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