Читать книгу Und wenn du nicht die Wahrheit sprichst - Lisa Scott - Страница 15

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Nachdem Mary Paige bei ihrem Vater abgeliefert hatte, ging sie auf der Suche nach Judy zurück in die Lobby des Roundhouse, in der auch zu dieser Stunde noch viel los war. Angestellte der verschiedenen Abteilungen standen grüppchenweise in ihren Mänteln zusammen und unterhielten sich, ohne sich an dem hektischen Geschehen um sie herum zu stören. Zwei Polizisten hetzten zum Ausgang, ihre Waffenholster und Funkgeräte schlugen gegen ihre Hüften, und drei weitere zerrten einen mehr als übergewichtigen Betrunkenen in Handschellen vorbei. Die Spitzen seiner Turnschuhe quietschten auf dem glatten Fußboden, was die Beamten an der Sicherheitskontrolle zum Lachen brachte.

Die ovale Halle mit ihren dramatischen Bögen galt zur Zeit ihrer Erbauung als hochmodern, wirkte aber mittlerweile reichlich antiquiert und erinnerte Mary immer an The Jetsons, eine alte Fernsehserie um eine Familie aus der Zukunft. Holzleisten zur Schalldämpfung umringten den Raum, der Fußboden bestand aus bunt gescheckten Fliesen, und die Wände waren mit Ölporträts von Polizeioberen behängt, die in dem futuristischen Ambiente fehl am Platz wirkten. Die amerikanische Flagge und die blaue Flagge des Staates Pennsylvania flankierten den Schalter der Sicherheitskontrolle, ihr Synthetikstoff schimmerte dumpf in der Neonbeleuchtung. Mary entdeckte Judy Zeitung lesend auf der anderen Seite der Halle und eilte zu ihr.

»Los, komm mit«, sagte sie und packte die Kollegin am Arm. »Wir müssen reden.«

Sie drängte Judy in eine Nische, wo sie niemand hören konnte, und berichtete über den merkwürdigen Zwischenfall mit dem Foto in Paiges Wohnung. »Findest du es nicht komisch, dass sie mich anlügt und mir erzählt, sie wäre heute Abend nicht mit ihrem Freund zusammen gewesen?«

»Du weißt nicht, ob sie gelogen hat. Ob der Junge im Flur wirklich ihr Freund war.«

»Ich bin mir ziemlich sicher. Aber warum sollte sie lügen?«

»Vielleicht denkt sie, dass dich ihr Privatleben nichts angeht, Schlaukopf.«

»Paige sollte heute Abend zum Essen zu ihren Eltern kommen, das hat sie mir gesagt. Es ist ihr rausgerutscht.« Mary sah verstohlen über ihre Schulter. Eine Gruppe von Frauen unterhielt sich neben einer Ausstellungsvitrine mit Modellen von Streifenwagen. »Was hältst du davon?«

»Ich glaube nicht, dass das von großer Bedeutung ist. Kann ich mir nicht vorstellen.«

»Was ist, wenn sie wirklich bei ihren Eltern war? Wenn ihr Freund sie begleitet hat? Wäre das auch nicht von Bedeutung?«

»So war es aber nicht, Mary. Newlin hat gestanden. Er hat gleich nach der Tat die Polizei angerufen und die Verantwortung für sein Verbrechen übernommen, was ja auch nur recht und billig ist.«

»Es könnte sein, dass er sie schützen will.«

»Indem er sich fälschlich des Mordes bezichtigt? Wer würde so etwas tun?«

»Ein Vater, der seine Tochter liebt«, antwortete Mary ohne Zögern, worauf Judy sie ansah, als wäre sie nicht ganz dicht.

»Mein Vater würde das niemals tun, obwohl er mich liebt.«

»Wirklich nicht?«

»Aber nein. Einen Mord gestehen, den er nicht begangen hat? Dafür ist er viel zu ehrlich.«

»Mein Vater würde es sofort tun.« Mary sah ihren Vater vor sich, seine warmen, braunen Augen, sein sanftes, rundliches Gesicht. »Er würde alles für mich tun, jedes Opfer bringen. Ihm wäre jedes Mittel recht, um uns vor etwas Schlimmem zu bewahren.«

»Und Richtig und Falsch zählen dabei gar nicht?«

»Falsch ist jedes Übel, das mir oder meiner Schwester zustoßen könnte.«

Judy schüttelte den Kopf. »Das sehen die meisten Leute wohl anders, und ich bezweifele stark, dass es in Newlins Fall zutrifft. Lass dich nicht von seinem Aussehen täuschen.«

»Tu ich auch nicht.«

»Tust du doch. Ist auch kein Wunder. Aber wie du ihm selbst schon sagtest, gibt es massenhaft Indizien dafür, dass er es getan hat, und keine, die auf Paige als Täterin deuten.«

»Woher willst du das wissen? Wir suchen doch gar nicht danach. Niemand tut das.«

Je länger Mary redete, desto überzeugter wurde sie. »Die Bullen haben ihm seine Geschichte natürlich abgekauft und betrachten sie als Fakt. Wir haben ihm seine Geschichte ebenfalls abgekauft und betrachten sie als Fakt. Jack Newlin wird sich schuldig bekennen und lebenslang ins Gefängnis wandern, richtig?«

»Richtig.«

»Aber was ist, wenn er unschuldig ist? Wenn wir diesmal statt eines schuldigen Klienten, der uns weismachen will, dass er unschuldig ist, einen unschuldigen Klienten haben, der uns weismachen will, dass er schuldig ist?«

Jack beobachtete, wie Paige den Besucherraum betrat, ein gertenschlankes Mädchen in einer schicken, schwarzen Lederjacke. Die blauen Augen erfassten den schmutzigen Raum mit einem entsetzten Blick, dann ging sie schnell zu dem Stuhl ihm gegenüber. Ihr Gesichtsausdruck war so gequält, als wäre sie diejenige, die den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen würde. Was in gewisser Hinsicht auch stimmte, dachte Jack.

»Dad, ich kann das nicht zulassen.« Tränen stürzten aus Paiges Augen, und ihre Stirn überzog ein Geflecht vorzeitiger Sorgenfalten. »Ich kann es nicht zulassen. Ich werde es nicht zulassen.«

»Das musst du aber. Du hast keine Wahl.«

»Aber es ist nicht richtig. Dein Beruf, dein Leben.« Paige wischte sich die Tränenbäche von den Wangen. Ihr Haar, das sie zu der glatten Pferdeschwanzfrisur zurückgebunden hatte, die Jack so gern sah, war feucht vom Regen. »Dad, sie könnten dich zum Tode verurteilen!«

»Nein, das werden sie nicht.« Jack versuchte, ruhig zu bleiben. Er wollte sie so vieles fragen, doch vor allem musste er sie von seiner Entscheidung überzeugen. Ihr ganzes Leben konnte in einer einzigen Nacht zerstört werden. »Hör mir zu, Paige. Wenn ich mich schuldig bekenne, werden sie nicht die Todesstrafe verhängen. Das ist so üblich.«

»Aber Dad, dein ganzes Leben im Gefängnis? Das ist furchtbar.«

»Nein, ganz und gar nicht. Sie werden mich nach Woodville schicken, wo die ganzen reichen Typen einsitzen. Es ist dort wie im Country Club. Sammy Cott musste letztes Jahr auch dort hin. Hat sein Golf-Handicap um zehn Schläge verbessert.« Jack setzte ein Lächeln auf, konnte Paige aber keines entlocken. »Kopf hoch, Schatz. Es wird mir gut gehen.«

»Nein, nein.« Paige begann wieder zu weinen. »Diese Männer ... die anderen Häftlinge ... werden dir wehtun.«

»Das wird mir nicht passieren. Anwälte haben einen besonderen Status im Gefängnis, wusstest du das nicht? Sie sind sehr wertvoll für die anderen, und niemand tut ihnen etwas.«

»Das stimmt nicht«, platzte Paige heraus. »Ich habe es im Fernsehen gesehen, auf HBO gibt es so eine Serie. Du solltest mal sehen, was sie da mit den Leuten machen. Es ist auch ein Anwalt dabei, und sie ...«

»Das ist doch nur Fernsehen«, unterbrach Jack schnell. Sie musste vernünftig bleiben, durfte nicht hysterisch werden. »Es kommt alles in Ordnung, Schatz. Vielleicht gefällt es mir sogar dort. Vielleicht werde ich endlich mal ein paar ehrliche Mandanten vertreten, was meinst du?«

Er lächelte wieder, aber Paige weinte zu sehr, um es zu sehen. Sie hielt den Kopf gesenkt und hatte ihr hübsches Gesicht mit den langen, schlanken Händen bedeckt. Jack zog es das Herz zusammen, als er bemerkte, wie sie zitterten. Er liebte sie so sehr, seine schöne Tochter. Er hatte gerade erst begonnen, sie kennen zu lernen, als das Unglück geschah. »Es ist schon gut. Weine nicht mehr, Liebling.«

»Nichts ist gut. Alles ist schrecklich.«

»Ich werde es schon in Ordnung bringen, du wirst sehen. Du kannst mich jede Woche besuchen, wann immer du willst. Die Welt wird nicht untergehen, weil ich ins Gefängnis komme. Wir werden uns am Ende öfter sehen als jetzt. Wer weiß, vielleicht bekommen wir noch eine richtig enge Vater-Tochter-Beziehung.«

Jack lachte und sah, wie ihre Haltung sich endlich entspannte. Ihr Gesicht kam hinter den Händen hervor, mit verquollenen Augen, aber lächelnd, und ihm wurde leichter ums Herz. Es überwältigte ihn, wie groß die Kraft der Liebe war, selbst in den schwierigsten Zeiten. Besonders in den schwierigsten Zeiten.

»Dad, das ist nicht komisch.«

»Man muss auch das Positive sehen. Keine Anzüge und Krawatten mehr, die ich hasse wie die Pest. Und ich bekomme mein Essen fertig serviert. Du weißt doch, was für ein miserabler Koch ich bin. Erinnerst du dich an das Truthahnsteak aus Tofu, das ich einmal für dich gemacht habe? Und an dieses Hummus, das du so gern magst? Bei mir sah es aus wie Spucke.«

»Das ist auch nicht komisch.« Doch Paige kicherte, und Jack strahlte.

»Soll auch nicht komisch sein. Väterwitze sind nie komisch, das weiß jeder.«

»Du bist aber nicht so ein Vater.«

»Und ob ich das bin!«, sagte Jack mit gespielter Beleidigung. »Erst recht, wenn es um lahme Witze geht. Erinnerst du dich an den mit der Avocado?«

»Nein, erzähl.«

»Okay, was sagte die Avocado, als sie den Sellerie heiratete?«

Jack spürte einen Kloß im Hals, als seine Tochter antwortete: »Bis dass das Salatbesteck uns scheidet.«

»Richtig«, sagte er mit belegter Stimme. »Das ist doch ein ziemlich schlechter Witz, oder?«

»Schrecklich schlecht.« Sie wischte sich die Augen.

»Du würdest sagen, ein krass schlechter Witz.«

»Ein megakrass schlechter Witz«, lachte Paige, und dieser Klang berührte Jack so tief, dass er schnell weiterredete und hoffte, der Kloß in seinem Hals werde sich dabei auflösen.

»Betrachte es einmal so, Schatz. Mich trifft die meiste Schuld an dem, was geschehen ist. Es hat sich zusammengebraut seit dem Tag, als deine Mom und ich geheiratet haben. Du kennst nicht alle Ursachen, und du sollst nicht dafür bezahlen müssen.«

»Aber du hast es nicht getan.« Paige knetete ihre Stirn, die immer noch vor Angst und Sorge gerunzelt war. »Mein Kopf bringt mich um. Ich sollte der Polizei die Wahrheit sagen. Ich sollte es sein, die ein Geständnis ablegt.«

»Tu das nicht! Das darfst du noch nicht einmal denken. Ich verbiete es dir«, sagte er streng.

Paige sah erschrocken auf. »Ich könnte ihnen alles sagen, weißt du. Du kannst mich nicht aufhalten.«

»Ich würde behaupten, dass du lügst, um mich zu decken. Sie würden mir glauben und nicht dir.«

»Warum?« Paiges Blick durchbohrte ihn, und Jack wusste, dass es jetzt darauf ankam, überzeugend zu sein. Sie überlegte ernsthaft, sich zu stellen, das sah er. Er hätte darauf vorbereitet sein müssen, sie hatte schon immer ein weiches Herz.

»Aus mehreren Gründen. Zum einen, weil ich ihnen eine Geschichte erzählt habe, die nur mich belastet. Zum anderen, weil sie eindeutige Beweise gegen mich haben.«

»Wie das?«

»Das brauchst du nicht zu wissen.«

»Ist ja auch egal. Ich könnte ihnen die Wahrheit sagen.«

»Nein, bitte nicht. Wen würdest du eher ins Kittchen schicken: ein hübsches, junges Mädchen oder einen Anwalt? Darüber braucht man doch gar nicht nachzudenken.«

»Ich weiß nicht.« Paige schüttelte den Kopf. Ihre Haut , zeigte Stressflecken. »Gott, mein Kopf wird gleich explodieren ...«

»Paige, lass mich einmal in deinem Leben etwas für dich tun.«

»Du hast schon etwas für mich getan. Du hast gearbeitet und Geld verdient.«

»Das habe ich nicht in erster Linie für dich getan. Und was ich verdient habe, war nur ein Taschengeld im Vergleich zum Vermögen deiner Mutter, das weißt du.«

»Du warst da, Dad.«

»Stimmt, ich war da. Ich war anwesend.«

»So habe ich das nicht gemeint ...«

»Aber ich. Ich habe es so gemeint.« Jack beugte sich über den Tisch. »Ich war da, mehr nicht. Ich habe alles deiner Mutter überlassen, war nur irgendein Typ im Hintergrund. Gut, bei deinen Geburtstagspartys habe ich mich gezeigt. Ich war wie ein Schauspieler, der die Vaterrolle spielt. Aber ich war dir kein richtiger Vater, nicht so, wie es sein sollte.«

»Und wie sollte ein Vater sein?« Paige blinzelte, ihre Augen glänzten. »Ein Held?«

»Nein, kein Held. Nur ein ganz normaler Mann«, erwiderte Jack, und seine Gedanken klärten sich auf einmal beim Reden. »Ich werde das hier für dich tun, ich habe es schon getan. Aber es gibt auch etwas, das du für mich tun musst. Du musst mir erzählen, was wirklich mit deiner Mutter passiert ist.«

Paige senkte die Augen und seufzte tief auf. »Was passiert ist? Schwer zu sagen. Ich meine, ich weiß es irgendwie nicht.«

»Was soll das heißen, du weißt es nicht?« Jack hörte, wie Ärger sich in seine Stimme schlich. »Du warst doch dabei, oder?«

»Ja.«

»War Trevor auch da?«

»Nein, er ist zu Hause geblieben, wie du es wolltest.«

»Stimmt das auch?«

»Dad.« Paige funkelte ihn empört an. »Ich hab’s dir doch gesagt.«

»Gut.« Jack rutschte auf seinem kalten Stuhl nach vorn und beobachtete, wie Paiges Hand erneut zitterte, als sie sich über die Haare strich. »Ich weiß, es ist schwer für dich. Was auch zwischen dir und deiner Mutter passiert ist, es fällt bestimmt nicht leicht, darüber zu reden.«

»Du kannst dir das gar nicht vorstellen.« Sie ließ den Kopf hängen und klang so gequält, dass Jack sich fragte, warum er darauf bestand. Er wollte seine Geschichte mit der Wirklichkeit abgleichen, falls sie ihn noch einmal verhörten, aber vor allem wollte er, dass Paige Rechenschaft ablegte, wenigstens vor ihm. So viel waren sie Honor schuldig. Er unterdrückte seinen Unmut, als Paige von neuem zu weinen begann.

»Es tut mir Leid, es tut mir so Leid«, schluchzte sie. »Es ist so schwer ... Ich weiß noch nicht einmal, wo ich anfangen soll.«

»Am besten am Anfang.« Jack dachte an ihren Anruf im Büro am Nachmittag. Er hatte gerade am Schreibtisch gesessen und einen Brief aufgesetzt und war hocherfreut gewesen, dass Paige ihn bei der Arbeit anrief. Sie hatte gesagt, sie werde zum Abendessen nach Hause kommen, und hatte ihm auch den Grund verraten und dass sie beabsichtige, Honor die Neuigkeit abends ebenfalls mitzuteilen. Sie sagte, sie brauche seine Hilfe, Um es ihrer Mutter beizubringen. Sie konnte nicht wissen, wie sehr sie Hilfe nötig haben würde.

»Oh, nein.«Paige sah auf ihre Hände, die schlaff in ihrem Schoß lagen, und blinzelte ihn dann durch die Tränen hindurch an.

»Ich glaube ... ich bekomme eine Migräne. Eine schlimme. Dad.«

»Oh Gott.«Jack war betroffen. Paige würde schon seit ihrer Kindheit von Migräneanfällen geplagt, lähmenden Kopfschmerzen, die meist in Stresssituationen auftraten und sie für Stunden in ein abgedunkeltes Zimmer verbrannten.

»Hast du die Aura gesehen?«, fragte er besorgt. Er meinte das Doppeltsehen oder die Lichtfunken, die immer als Warnung vorausgingen,

»Ich glaube, ja. Warte.«

Paige hob eine Hand, drehte sie langsam und betrachtete sie mit einem seltsam defokussierten Blick. Jack hatte sie schon oft dabei beobachtet. Wenn sie eine Aura sah, war die Migräne im Anzug, und sie hatte nur noch wenige Minuten, um in ihr Bett zu flüchten. Die einzige andere Möglichkeit war, Duadrin zu schlucken, ein Schmerzmittel, das die schlimmsten Symptome abwehrte, wenn es rechtzeitig eingenommen wurde.

»Hast du deine Medizin dabei?«

»Nein.« Es kam wie ein leiser Klagelaut heraus. »Als die Anwältin mir sagte, dass du hier bist, habe ich mich nur schnell angezogen. Ich konnte an nichts anderes denken. Ich habe noch nicht einmal eine Tasche dabei.« Ihre Hand fiel wieder in ihren Schoß. »Oh je. Es geht los.«

»Ach du lieber Himmel, keine Tabletten?« Dann konnten die Schmerzen nicht aufgehalten werden, sie rasten wie ein Güterzug mit Volldampf auf seine Tochter zu. Jack hatte schon oft genug miterlebt, wie schnell sie hereinbrachen. Innerhalb von fünf bis zehn Minuten würde Paige nur noch ein stöhnendes, gepeinigtes Etwas sein. Das konnte er ihr nicht antun. »Schatz, geh nach Hause und leg dich sofort hin. Die Anwältinnen sind noch oben. Geh zu ihnen und lass dich nach Hause fahren.«

»Nein, nein, ich will mit dir reden.« Sie hob eine Hand an ihre Stirn und betastete sie vorsichtig. »Ich will dir sagen, was mit Mom passiert ist.«

»Du solltest besser gehen.« Jack brannte darauf zu hören, was geschehen war, aber er konnte sein Kind nicht dieser Folter aussetzen, ihren Kopf quasi eigenhändig in den Schraubstock spannen. »Bitte, Paige, wir sprechen ein anderes Mal darüber. Geh nach Hause. Ich lauf dir bestimmt nicht davon.«

»Nein, nein ... es geht ... ich schaff es schon.« Sie rieb sich die Stirn. »Mom und ich waren allein. Ich wollte mit euch essen ... Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.«

»Du warst gekommen, um mit uns zu Abend zu essen«, half Jack nach. »Eigentlich hätte ich auch schon da sein sollen, aber ich wurde aufgehalten. Es tut mir so Leid.«

»Es ist nicht deine Schuld.« Wieder traten Tränen in ihre Augen, aber sie wischte sie mit dem Handrücken weg. »Ich war zu früh. Es würde schlecht laufen, das wusste ich schon. Also – ich kam nach Hause, und sie war da. Ich wollte warten, bis du kommst ... um es ihr zu sagen, aber sie fing an, auf mir herumzuhacken. Sagte, ich hätte zugenommen.« Paiges Tränen versiegten, ihre Stimme wurde bitter. »Ich würde dick aussehen. Würde zu viel Wasser im Körper haben. Oh Gott, mein Kopf.« Paige knetete die Stelle zwischen den Augenbrauen. »Verdammt.«

»Du musst gehen. Bitte geh.«

»Nein.« Sie machte eine abwehrende Handbewegung. »Sie nörgelte die ganze Zeit an mir herum. Ich dürfte nicht zunehmen, müsste mich mehr beherrschen. Müsste mehr darauf achten, was ich esse, jetzt, wo meine große Chance gekommen wäre.«

Jack stöhnte innerlich auf. Als Paige heranwuchs, hatte Honor begonnen, ihr ständig wegen ihrer Figur zuzusetzen. Er hatte gesagt, sie solle damit aufhören, sie werde Paige noch in die Magersucht treiben, aber keine von beiden hatte auf ihn gehört. Als wäre er nur eine Stimme hinter den Kulissen gewesen in einem Drama, das sich zwischen Mutter und Tochter abspielte.

»Ihr habt euch also gleich gestritten, kaum, dass du da warst.«

»Ja. Sie hat mich so wütend gemacht. Ich meine, ich wusste, warum ich zunehme ... und sie nicht. Und dann dachte ich, Scheiße, wer ist sie eigentlich, mir zu sagen, was ich tun soll, ich bin kein Kind mehr ... ich erwarte selbst ein Kind.«

Jack überkam ein komisches Gefühl bei diesen Worten. Paige hatte es ihm zwar schon am Telefon gesagt, aber von Angesicht zu Angesicht wurde es zu einer unleugbaren Tatsache. Sein Kind erwartete ein Kind. Ihr gemeinsames Kind erwartete ein Kind.«

Was für alle Eltern ein Schock wäre, war für ihn und Honor eine Katastrophe, in Anbetracht ihrer Vergangenheit. Er konnte sich nur allzu gut vorstellen, wie Honor die Neuigkeit aufgenommen hatte.

»Oh, nein. Das wird ein ganz übler Anfall.« Paiges Stirn zog sich vor Schmerz zusammen, vergeblich von ihrer Hand massiert.

»Hör zu ... ich dachte, sie kann mir jetzt nichts mehr sagen, weil ich selbst eine Mutter sein werde. Nicht nur sie. Ich. Auf einmal war ich total glücklich darüber. Richtig glücklich, und ich wollte es ihr sagen. Das habe ich dann auch getan.«

Jack sah die Szene im Geiste vor sich. Paige, wie sie voll Freude eine Nachricht verkündete, die für Honor der schlimmste Albtraum war.

»Ich habe gesagt: ›Mom, ich bin schwanger. Deshalb habe ich dauernd so einen Hunger. Ich muss essen und niemand kann etwas dagegen tun. Weil ich ein Baby bekomme.‹« Paige unterbrach sich. »Die Migräne fängt an. Ich muss schneller sprechen. Ja, und dann habe ich ihr Gesicht gesehen und ich konnte es nicht glauben. Ihre Augen, sie wurden riesig und starrten mich wütend an. Sie sah aus wie eine Hexe.«

Jack wollte sich diesen Gesichtsausdruck noch nicht einmal vorstellen.

»Dann hat sie mich geschlagen.« Neue Tränen schossen in Paiges Augen. »Sie schlug mich direkt ins Gesicht, eine richtig harte Ohrfeige. Sie hat mich schon oft beschimpft, aber noch nie geschlagen. Noch nie. Sie schlug mich so fest, dass ich vom Stuhl fiel. Sie hat mich einfach vom Stuhl geworfen, auf den Boden. Ich konnte es nicht fassen.«

Jack dagegen glaubte es ohne weiteres. Honor war zwar keine gewalttätige Frau, doch diese Neuigkeit konnte sie schon zur Gewalt getrieben haben. Sie hatte darüber den Verstand verloren und sie alle miteinander ins Verderben gestürzt. Am liebsten hätte er Paige auf der Stelle die Wahrheit gesagt, er verspürte den Drang, ihr alles zu erklären, aber er hielt sich zurück. Das war weder der richtige Ort noch der richtige Zeitpunkt. In wenigen Minuten würde die Migräne mit voller Wucht zuschlagen. Dann würde sie noch nicht einmal mehr sprechen können.

»Dann habe ich mich aufgerappelt. Mein Gesicht tat weh, und ich fing an zu weinen. Sie hat mich gepackt und mich wieder zu Boden geworfen und mich getreten. Sie hat mich getreten, Dad, immer wieder. In meinen Bauch.«

Paige schluchzte, und Jacks Magen knotete sich zusammen.

»Sie hatte ihre Mules an, diese ganz spitzen, und sie zielte damit auf meinen Bauch. Sie trat ganz fest zu, mit der Spitze. Wegen dem Baby. Als ob sie es aus mir heraustreten wollte.«

Nein! Jack schüttelte nur den Kopf. Nein! Er wusste nicht, ob er es laut ausgerufen hatte.

»Sie fing an zu schreien: ›Entweder machst du es weg, oder ich mach es weg! Du machst es weg, oder ich mach es weg!‹ – Dad ... mein Kopf. Ich kann nicht mehr.« Paige bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und brach schluchzend über dem Tisch zusammen. »Ich weiß nicht mehr, was als Nächstes geschah. Wirklich nicht, Dad. Ich schwöre es.«

Sturzbäche flossen aus Paiges Augen, aber sie versuchte weiterzusprechen. »Es tat weh, ich hatte Schmerzen, im Bauch und in der Brust ... es tat furchtbar weh. Ich habe mich von ihr weggerollt, ihr gesagt, ich würde nicht abtreiben. Aber sie ist immer wieder auf mich losgegangen und hat nicht aufgehört, mich zu treten.«

Nein. Er wollte nichts mehr hören. Paige sollte das alles nicht noch einmal durchmachen.

»Ich hatte solche Angst ... und solche Schmerzen. Ich konnte nichts mehr sehen. Weißt du, ich habe nicht wirklich geglaubt, dass sie mich umbringen würde, aber ich bin sehr wütend geworden, weil sie mir wehtat, mir und meinem Baby. Es war ... als wäre ich schon sehr lange wütend, mein ganzes Leben lang. Dann bin ich irgendwie aufgestanden, glaube ich, und habe das Messer genommen.« Paige sah auf, ihr schmerzverzerrtes Gesicht war nass vom Weinen. »Ich kann nicht mehr denken.«

Jack zwinkerte seine eigenen Tränen weg. Es war alles seine Schuld. Er war nicht da gewesen. Nicht nur an diesem Abend, sondern während ihrer ganzen Kindheit. Ihm war zwar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie gelitten hatte, aber das war keine Entschuldigung. Er hätte es wissen müssen, das war seine Aufgabe als Vater. Er hatte seine eigene Tochter im Stich gelassen, und als ihm das endlich klar geworden war, war es zu spät. Schuldgefühle überkamen ihn, überrollten ihn wie eine Welle.

»Ich bin irgendwie total durchgedreht. Ich habe geschrien und geweint, ich meine, ich wusste, dass ich wütend auf sie war, aber ich habe einfach die Kontrolle verloren. Und dann habe ich zugestochen, und dann ... und dann lag sie auf einmal auf dem Boden. Ich ließ das Messer fallen, es war ganz blutig. Das hatte ich nicht gewollt ... Ich habe sie einfach dort liegen lassen und bin weggerannt. Ich bin gerannt wie verrückt. Es tut mir Leid, Dad. Es tut mir so schrecklich Leid.«

Paiges Worte lösten sich in Tränen auf, und ihre Schultern sackten zusammen wie die Wände eines Puppenhauses.

Jack konnte nicht anders, er musste seine gefesselten Hände an die Trennwand aus Plexiglas heben und sie mit den Fingerspitzen berühren. Sie fühlte sich kalt, hart und leblos an, so ganz anders als das warme, seidige Haar seines kleinen Mädchens. Wie oft hatte er Paiges Kopf gestreichelt? Nicht oft genug. Deshalb musste er sie jetzt retten.

»Paige«, sagte er, »was hast du der Anwältin gesagt?«

»Ich habe gesagt, dass ich nicht bei euch war.« Paige wurde von Schluchzern geschüttelt. »Dass ich nicht hingegangen bin.«

»Gut, du warst also überhaupt nicht bei uns heute Abend. Du bist nie hingegangen. Bei dieser Geschichte musst du bleiben, hast du verstanden?«

»Es ist eine Lüge. Gott, mein Kopf. Diese Lichter.«

»Natürlich ist es eine Lüge. Das ist mir egal.« Jack nahm seine Hände von der Trennscheibe und beugte sich beschwörend vor. »Du darfst nie ein Wort sagen, Paige, hörst du? Zu niemandem. Sonst bist du verloren und dein Baby auch.«

»Mein Baby?« Paige sah ihn tränenblind an. Ihre Augen waren rot und geschwollen, Gesicht und Hals mit Flecken bedeckt.

»Was ist mit meinem Baby?«

»Denk an dein Kind, Paige. Wir haben noch nicht einmal darüber gesprochen, was aus ihm werden soll. Was hast du vor?«

»Ich weiß es noch nicht genau.« Paige wurde ruhiger, »Heiraten wahrscheinlich. Trevor möchte es.«

Jack schauderte bei dem Gedanken. »Was ist mit dem College? Du hast mir gesagt, du würdest das Modeln zurückstellen, um aufs College zu gehen.«

»Ich werde später gehen, nach dem Baby.«

Jack biss sich auf die Zunge. »Okay, nehmen wir für den Moment an, dass diese Entscheidung richtig ist. Aber wenn du dich stellst und der Polizei die Wahrheit sagst, wer soll dann das Kind aufziehen? Trevor etwa? Nie im Leben. Du musst jetzt an das Baby denken, nicht an mich. Bitte kümmere dich nicht um mich. Wenn die Polizei dich verhört, sagst du, dass du nicht bei uns warst. Sag, meine Tat hätte dich vollkommen überrascht. Geh nicht zur Anklageerhebung oder irgendeinem anderen Gerichtstermin. Lass mich tun, was ich tun muss.«

»Das kann ich nicht.«

»Leg deine Hand auf deinen Bauch, Paige. Tu es.« Jacks Stimme war derart gebieterisch, dass sie in seinen eigenen Ohren fremd klang. Etwas geschah mit ihm. Er hatte das Gefühl, als käme er gerade zu sich, als würde er endlich er selbst. Vielleicht war er sogar dabei, sich rein zu waschen. »Leg deine Hand auf deinen Bauch.«

Paige gehorchte und legte ihre schmale, blasse Hand auf das weiche Leder ihrer Jacke. Jack sah, dass sie ihm zuhörte.

»Das ist dein Baby dort drin. In deinem Bauch. Diesem Baby gelten jetzt in erster Linie deine Verpflichturigen, nicht mir. Du wirst bald eine Mutter sein. Du bist eine Mutter. Sei eine Mutter.«

»Ist gut, Dad«, flüsterte Paige, und Jack erkannte an ihrem Blick, dass sie sich erst noch an diese Rolle gewöhnen musste. Aber sie würde auf ihn hören, würde tun, was er gesagt hatte. Sie trug jetzt Verantwortung für einen anderen Menschen, genau wie er.

In dieser entsetzlichen regnerischen Nacht war sie zur Mutter geworden.

So wie er endlich zum Vater geworden war.

Und wenn du nicht die Wahrheit sprichst

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