Читать книгу Und wenn du nicht die Wahrheit sprichst - Lisa Scott - Страница 14

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Brinkley stieg aus dem Chrysler und ließ seinen Blick über die nächtliche Szene im Nieselregen wandern. Streifenwagen, Übertragungswagen des Fernsehens und die schwarzen Fahrzeuge von der Gerichtsmedizin verstopften die schmale Straße mit den Millionen Dollar teuren Stadtvillen im Kolonialstil, von denen viele die eiserne Tafel des Denkmalschutzamtes trugen. Polizisten standen um die Streifenwagen herum, ihr Atem bildete Dampfwölkchen in der Kälte. Das gelbe Absperrband wurde unter dem Andrang der Medienleute zum Zerreißen gedehnt, wie Brinkley mit Unmut registrierte.

Er wusste, worauf sie scharf waren: die Leichensack-Aufnahme. Sie wollten ein Foto von der Leiche, wie sie in einem schwarzen Plastiksack auf einer Tragbahre aus dem Haus und in den bereitstehenden Leichenwagen transportiert wurde. Dieses Bild bedeutete höhere Einschaltquoten und Auflagen. Der extrastarke Reißverschluss des Leichensacks würde zwar wie immer fest geschlossen sein, doch diese Diskretion regte nur die schmutzige Fantasie des Publikums an.

Brinkley knallte die Wagentür zu, und Kovich tat es ihm nach. Die Detectives wechselten einen Blick über das regennasse Autodach, weil sie den gleichen Gedanken hatten. Wenn diese Idioten wüssten, wie ein Mord wirklich aussah, würden sie dem Leichensack nicht mit freudiger Erwartung entgegensehen, als handelte es sich um einen Geburtstagskuchen. Ihnen würde wie Brinkley übel werden, eine Übelkeit, die sich jedes Mal einstellte, wenn er den an neue Autos erinnernden Geruch des schwarzen Kunststoffmaterials einatmete.

Er biss die Zähne zusammen, als er die Schaulustigen beiseite drängte, zeigte dem uniformierten Polizisten an der Tür überflüssigerweise seine Marke und betrat das Haus der Newlins.

Kovich trug sie beide in die Anwesenheitsliste ein und ließ sich Zeit dabei, weil er das Protokoll schreiben musste und verantwortlich dafür war, dass jede Einzelheit festgehalten wurde. Brinkley hatte den Fall zugeteilt bekommen und würde die Ermittlungen leiten. Er ging mit schnellen Schritten in den Hausflur und fand sich unversehens im Auge eines Spurensicherungs-Hurrikans wieder. Experten wirbelten um ihn herum, staubten Telefon und Möbel zur Abnahme von Fingerabdrücken ein, steckten routinemäßig Gegenstände von einem Beistelltisch in durchsichtige Beweismitteltüten und saugten den wertvollen Orientteppich nach Haaren und Stofffasern ab. Hinter dem Eingangsbereich zuckten die Blitzlichter der Fotografen.

Brinkley nahm sein Notizbuch und folgte den Blitzen ins Wohnzimmer. Dabei musste er wieder an den Rat eines erfahrenen Kollegen denken: Ein guter Cop muss ein Hirn wie eine Toilette haben. Wenn du an den Tatort kommst, vergiss all deine Vermutungen und vorgefassten Meinungen. Drück einfach die Toilettenspülung.

Etwas derb, aber anschaulich, und Brinkley hatte seitdem keinen Tatort mehr betreten, ohne eine Toilettenspülung in seinem Kopf zu hören. Ein sinnvolles Hilfsmittel, vor allem in diesem Fall, in dem der Ehemann verhaftet worden war und gestanden hatte, bevor der verantwortliche Detective überhaupt einen Blick auf den Ort des Geschehens werfen konnte.

Brinkley ließ den Raum auf sich wirken. Er war für städtische Verhältnisse ziemlich groß und hatte zwei Kamine an gegenüberliegenden Wänden. Verschnörkelter Stuck zierte die hohe weiße Decke. Wie in einem Museum. Er notierte sich, was er sah, und fertigte dann eine gewissenhafte Skizze an. Zwar würden die Experten von der Spurensicherung maßstabsgetreue Zeichnungen des Raums erstellen, aber er hatte gern zusätzlich etwas Eigenes in der Hand.

Er skizzierte das graue Sofa und die zwei dazu passenden Sessel vor dem gläsernen Couchtisch, der nun allerdings von Fingerabdruckspulver geschwärzt war. Noch etwas anderes fiel Brinkley auf. Er kniff die Augen zusammen und ging mit gezücktem Bleistift darauf zu. Mitten auf der Glasplatte, halb verborgen von einem Kristallaschenbecher, der einen einzigen Zigarettenstummel mit rosa Lippenstift daran enthielt, lag ein kleiner Haufen aus schwarzem Dreck. Möglicherweise hatten ihn die Spurensicherungsleute wegen des Aschenbechers nicht bemerkt, oder sie waren noch gar nicht fertig mit dem Tisch. Jedenfalls war der Dreck zu dunkel für Zigarettenasche.

Brinkley schätzte die Entfernung von der Sofalehne bis zu dem Dreckhäufchen ab, dann setzte er sich und streckte ein Bein aus. Der Absatz seines Schuhs, an dem nasser Straßenschmutz hing, schwebte über den Dreckspuren auf dem Tisch. Sobald der Schmutz antrocknete, würde er genau auf diese Stelle bröseln.

Jemand hatte vor kurzem seine Füße auf den Couchtisch gelegt, jemand, der zwischen einem Meter achtzig und einem Meter fünfundachtzig groß war. Brinkley stand auf, schnappte sich einen vorbeikommenden Spurensicherungsmann und wies ihn an, die Dreckspuren zu fotografieren, sie einzutüten und das Sofa abzusaugen.

»Ziemlicher Palast hier, was? Riecht alles nach Geld«, sagte Kovich und trat neben ihn.

»Hm?« Brinkley blieb in der Nähe, während der Techniker Polaroidfotos von dem Dreckhäufchen auf dem Tisch machte. Er wollte keinen Pfusch bei dieser Arbeit. Deshalb hatte er die Spuren auch nicht selbst eingesammelt. »Werd bloß nicht neidisch. Du hast doch auch Geld.« »Aber nicht so viel.« Kovich gestikulierte mit dem dünnen Block in seiner Hand. »All diese Bilder, Möbel, das Kristallzeugs. Das dort sind frische Blumen in der Vase. Echte Rosen, ich hab daran gerochen. Die haben richtig Schotter hier.«

»Wenn du richtig Schotter haben willst, kannst du ihn auch bekommen. Das Geld dieser Leute nimmt dir nichts weg. Hat überhaupt nichts mit dir zu tun.«

»Schon gut, Mick.« Kovich gab kopfschüttelnd nach. »Ich habe uns eingetragen. Der Staatsanwalt ist auch schon hier.«

»Mist. Wer hat den Fall bekommen?«

»Dreimal darfst du raten. Davis.«

»Der Wunderknabe. Und wir treffen als Letzte bei dieser Party sein.« Brinkley sah zu, wie der Beamte den Schmutz in eine Beweismitteltüte kratzte.

»Was ist das in der Tüte?«

»Dreck vom Tisch.«

»Gute Arbeit, Kollege. In einem so feinen Haus ist Dreck auf dem Tisch natürlich ein Verbrechen«, lachte Kovich.

»Blödmann«, sagte Brinkley, musste aber gegen seinen Willen grinsen, während er die Skizze von den Möbeln zu Ende brachte.

Er zeichnet den Couchtisch, um seine Füße-auf-dem-Tisch-Theorie zu stützen, und bemerkte dabei, dass die Oberfläche glänzte, wo kein Pulver hingelangt war. Wann war der Tisch zuletzt poliert worden? Er machte sich eine Notiz, wobei ihm noch etwas auffiel. Es standen keine Fotorahmen darauf. Er sah sich um. Kein einziges Foto im ganzen Zimmer. Noch nicht einmal von der Tochter, dem Model?

»Kovich, du hast doch Kinder.«

»Soweit ich mich erinnere.«

»Hast du Bilder von ihnen im Wohnzimmer?«

»Klar. Katie stellt sie überall auf. Die meisten sind aus der Schule.«

»In diesem Wohnzimmer sind keine Fotos.«

»Na und?«

»Ich bin wirklich froh, dass du hier bist, Kovich. Du bestärkst meinen Glauben an die Arbeit der Polizei.« Brinkley beendete die Zeichnung, und Kovich spähte über seine Schulter.

»Das ist hübscher als meine Notizen, Mick. Ich glaube, du bist ein Künstler.«

»Verpiss dich«, sagte Brinkley gutmütig und marschierte ins Esszimmer. Er hatte schon gehört, dass die Leiche sich dort befand, wäre aber auch von selbst darauf gekommen. Der Raum war bereits von einem durchdringenden Geruch erfüllt. Nicht nach Verwesung, dazu war es noch viel zu früh, sondern nach Blut. Frisches Blut hatte ein süßliches Aroma, bevor es gerann und streng roch. Er achtete nicht weiter darauf, sondern sah sich um und begann zu zeichnen.

Noch ein großes Zimmer, noch ein steingemauerter Kamin, und in der Mitte ein edler Mahagonitisch mit acht hochlehnigen Stühlen. Zwei Plätze waren gedeckt: Hausherr und Hausherrin. Zwei Champagnerflöten neben weißen Tellern. Appetizer auf einer Designerplatte. Sonst nichts. Keine Bücher, keine Fotos, kein Krimskrams. Kein Stapel mit Post und Rechnungen, keine Zeitungen. Nichts, das Brinkley etwas hätte sagen können. Andererseits sagte ihm auch dieses Nichts etwas. Es gab kein Leben in diesem Haus – schon bevor sich ein gewaltsamer Tod in ihm ereignet hatte.

»Mick, wir sollten weitermachen«, sagte Kovich, der eine weitere Seite mit Notizen vollgekritzelt hatte. »Der Gerichtsmediziner und Davis sind beim Kadaver.«

»Lass mir noch eine Minute Zeit.«

Brinkley überhörte den kaltschnäuzigen Polizeiausdruck. Er wollte mit der Leiche bewusst bis zum Schluss warten. Sorgfältig skizzierte er die Umgebung: den ost-westlich ausgerichteten Tisch, die hohe, makellos weiße Decke. Die Wände waren mit einem dünnen, rosafarbenen Stoff bespannt, der glänzte und wellenartig gemustert war. Er hatte einen bestimmten Namen, Sheree würde ihn bestimmt kennen. Brinkley nahm sich vor, sie danach zu fragen, ehe ihm wieder einfiel, dass sie nicht mehr mit ihm zusammenlebte.

»Mick, bist du fertig?«, drängte Kovich.

Brinkley nickte und machte ein paar Schritte, konnte aber die Leiche immer noch nicht sehen, weil der Staatsanwalt und der Pathologe ihm die Sicht versperrten. Weitere Spurensicherungsexperten schwirrten um den Kreideumriss der Leiche auf dem Boden herum, vermaßen, fotografierten und saugten eine Brücke ab. Brinkley machte auf sich aufmerksam, indem er einfach hoch aufragend und schweigend dastand. Die Spurensicherungsleute verzogen sich, der Staatsanwalt stand auf, und der Gerichtsmediziner schloss seine Tasche und erhob sich ebenfalls.

Davis schüttelte Brinkleys Hand über die Leiche hinweg.

»Na, Reg, macht die Arbeit Spaß?«

»Aber immer, Dwight.«

Der Staatsanwalt hatte seine Krawatte gelockert und ein gelber Anwaltsblock ruhte in seiner Armbeuge wie ein Neugeborenes. »Wie ich höre, haben Sie schon Erstklassiges bei dem geständigen Ehemann geleistet.«

Brinkley wusste nicht, ob das sarkastisch gemeint war. »Er hat sein Geständnis nicht unterschrieben.«

»Ich meine es ernst, ihr Jungs habt eure Arbeit wieder mal großartig gemacht. Ich brauche keine Unterschrift. Er hat gestanden, und wir haben das Video, mehr ist nicht nötig. Ich brauche nicht noch einen Dokumentarfilm über seine Tat.« Davis nickte beiden Detectives zu. »Wollen Sie mir kurz berichten, was der Gatte gesagt hat?«

Brinkley schwieg beharrlich, so dass Kovich mit einer genauen Wiedergabe der Vernehmung begann. Davis machte sich Notizen und nickte die ganze Zeit, wobei er immer zufriedener dreinsah, und Brinkley dachte bei sich, dass er noch nie einen so verdammt glücklichen Staatsanwalt gesehen hatte. Kovich brachte seine Geschichte zu Ende, und Davis klappte den Block zu. »Klingt gut, meine Herren«, lobte er. »Reichlich Material, mit dem ich arbeiten kann.«

»Dann lasst uns jetzt mal hier fertig werden, ja?«

Der Pathologe, Aaron Hamburg, drehte sich um und blinzelte durch seine zweigeteilte Brille. Hamburg war einer der besseren Gerichtsmediziner, ein verschrumpelter, glatzköpfiger Mann nicht weit entfernt vom Rentenalter. Brinkley kam gut mit ihm aus, doch an diesem Abend wirkte er müde und erschöpft und wollte offenbar bald Feierabend machen. Die Detectives sollten die Leiche untersuchen, damit er sie etikettieren, in den Leichensack stecken und einen blutlosen, Y-förmigen Autopsieschnitt in ihre Brust ritzen konnte.

»Tut mir Leid, dass ich so spät dran bin, Aaron«, sagte Brinkley und meinte es aufrichtig.

»Schon gut. Ist heute einfach nicht mein Tag.« Hamburg war einen Kopf kleiner als Brinkley und trug einen zerknitterten grauen Anzug, eine dunkle Krawatte und ein blaues Gebetskäppchen, das schief an einer unnachgiebigen Haarklemme hing. »Ich weiß, dass du zuerst mit dem Ehemann reden musstest. Das Eisen schmieden, solange es heiß ist, stimmt’s?«

Kovich nickte bestätigend, während Brinkley auf den Kreideumriss um die Leiche deutete. Er hasste es, wenn irgendein Trampel die Fundstelle markierte. Dabei konnten wichtige Spuren verfälscht oder zerstört werden. »Wer hat sie markiert?«

»Dodgett«, schnaubte Hamburg. »Er macht das immer. Gibt ihm das Gefühl, ein echter Cop zu sein.«

Brinkley fand das nicht komisch. »Wenn ich diesen Schwachkopf das nächste Mal sehe, werde ich ihm sagen, wohin er sich seine Kreide stecken kann. Also, was hast du gefunden, Aaron?«

»Du hast Glück, endlich mal eine eindeutige Sache. Ich sage dir jetzt, was ich Davis gesagt habe. Die noch inoffizielle Todesursache sind mehrfache Stichverletzungen. Wenn ich die Leiche sauber gemacht habe, weiß ich Genaueres, aber es sieht nach fünf Stichen aus. Der tödliche hat die Lungenarterie durchtrennt. Der Temperatur und der Gesichtsverfärbung nach zu urteilen ist der Tod zwischen achtzehn Uhr dreißig und zwanzig Uhr dreißig eingetreten. Ganz klarer Fall.«

»Ist dir etwas Ungewöhnliches aufgefallen, Aaron?«, fragte Brinkley, worauf Davis ihn stirnrunzelnd ansah.

»Warum fragen Sie, Brinkley? Gibt es irgendwelche Unklarheiten?« Davis sah besorgt aus. »Erzählen Sie’s mir.«

Brinkley seufzte innerlich. Er sprach nicht gern über seine Zweifel. Im Grunde sprach er mit niemandem gern, außer mit Kovich, und manchmal sprach er noch nicht mal gern mit dem. »Ich bin mir nicht ganz sicher in Bezug auf Newlin, das ist alles.«

»Warum nicht?« Davis legte den Kopf schräg. Hinter ihm schlossen die Spurensicherungsleute ihre Arbeit ab. Die Party neigte sich dem Ende zu. »Er hat gestanden, oder? Gleich am Tatort und dann noch einmal bei Ihnen, richtig?«

»Ein Geständnis ist nicht automatisch die Lösung.«

»Seit wann das denn nicht? Wie heißt es immer so schön in den Prüfungstests: ›Erläutern Sie Ihre Antwort‹.«

Davis grinste, und Kovich musste lachen.

»Wie ich das immer gehasst habe«, scherzte er mit. »Erläutern Sie Ihre Antwort. Vergleichen Sie und arbeiten Sie die Unterschiede heraus. Ich habe diesen Scheiß verflucht.«

Davis grinste immer noch. »Beschreiben Sie den Sachverhalt. Führen Sie Ihre Begründung aus.«

Brinkley ignorierte das Geplänkel. Er konnte nie über eine Leiche hinwegsehen und machte deshalb keine Witze am Tatort.

»Es ist einfach noch zu früh, um etwas Endgültiges zu sagen. Seine Geschichte schien mir nicht ganz stimmig.«

»Warum?«

»Ich glaube ihm eben nicht.« Brinkley hasste es, ausgequetscht zu werden. »Ich habe den Verdacht, dass Newlin lügt.«

»Tatsächlich?« Davis verschränkte seine Arme samt Anwaltsblock vor der Brust. »Warum sollte der gute Mann lügen?«

»Ich weiß nicht, es ist nur so ein Gefühl. Er machte den Eindruck, als würde er lügen. Möglicherweise deckt er jemanden, nur weiß ich nicht, wen.«

»Haben Sie einen Beweis dafür? Irgendwelche Anhaltspunkte?«

»Nein, aber wie gesagt, es ist noch zu früh.« Brinkley merkte, dass Kovich auf seine Füße sah. Er war ein zu loyaler Partner, um über ihn zu lachen.

Hamburg kniff skeptisch die Augen zusammen. »Ich bin ja nur der Leichendoktor, Jungs, aber ich kann hier nichts Zweifelhaftes erkennen. Sie hat Stichwunden, die meisten Blutungen sind innerlich. Ein paar Wunden an den Fingern, Kampfspuren. Vermutlich hat sie versucht, das Messer zu packen, aber sie kann sich nicht sehr stark gewehrt haben. Sie war sturzbetrunken. Man riecht es noch durch die Poren.« Hamburg verzog das Gesicht. Als religiöser Mensch missbilligte er so etwas.

»Ich werde es erst im Autopsiesaal sicher wissen, aber ich glaube, ihr habt kein Glück, Jungs. Manchmal sind die Dinge so einfach, wie sie scheinen.«

»Und manchmal scheint es nur so«, sagte Brinkley, aber Davis versetzte ihm mit seinem Block einen Klaps auf den Arm.

»Kopf hoch, Mann. Sie haben den Fall im Griff. Ich sage, er ist eine Ente, aber ich habe Ihren Einwand registriert. Wenn Sie etwas Konkretes haben, lassen Sie es mich wissen. Zur Sicherheit werde ich mir erst einmal das Videoband ansehen. Ich schicke Ihnen noch heute Nacht jemanden, der eine Kopie abholen soll.«

Davis sprach von dem Video, als handelte es sich um den neuesten Hollywood-Reißer, fand Brinkley. Anwälte! »Ich werde sehen, was ich tun kann.«

»Lassen Sie sich nicht allzu lange Zeit, mein Freund. Der Ehemann wird morgen wegen Mordes angeklagt, und Sie wissen, was darauf steht.«

»Gleich die Todesstrafe? Warum das?« Es ging Brinkley auf die Nerven, dass der Staatsanwalt in fast jedem Fall die Todesstrafe forderte. Das war vollkommen unverhältnismäßig, aber im gegenwärtigen politischen Klima fand es die Zustimmung der Öffentlichkeit. Den Detectives gefiel dieses Vorgehen nicht; schließlich kannte das Gesetz nicht umsonst Abstufungen bei der Schwere der Tat und sah unterschiedliche Strafmaße vor. »Nach Newlins Aussage haben wir es noch nicht einmal mit Vorsätzlichkeit zu tun.«

»Brutaler Mord. Viele Stichwunden. Hinweis auf Folterung.«

»Er hat sie doch nicht gefoltert«, widersprach Brinkley

»Die Zahl der Stichwunden ist entscheidend, das wissen Sie. Warum sollte Newlin mit einer leichteren Anklage davonkommen als jeder Durchschnittsbürger?«

Brinkley antwortete nicht. Alle wussten, dass der Durchschnittsbürger in der Todeszelle schwarz war.

»Warum nehmen Sie dieses Schwein in Schutz, Brinkley? Einen kaltblütigen Mörder, der seine eigene Frau umgebracht hat? Er ist mit einem Fleischermesser auf eine hilflose Frau losgegangen, die zu betrunken war, um sich zu wehren.«

»Ich nehme ihn nicht in Schutz«, entgegnete Brinkley. »Ich halte ihn für einen Lügner.«

Hamburg gähnte. »Diese Diskussion überlasse ich jetzt euch Experten. Ich gehe nach Hause ins Bett.«

Er nahm seine Tasche und trottete davon, einen Assistenten im Schlepptau. Davis folgte ihm, nachdem er sich verabschiedet hatte, und Brinkley sah ihn nicht ungern ziehen.

»Beeilt euch, Leute! Und dann raus mit euch«, sagte er brüsk, worauf sich die restlichen Spurensicherungsexperten zerstreuten. Eine Frau warf ihm einen empörten Blick zu, und Kovich bemerkte das.

»Was mein Partner meint, ist: Danke für eure großartige Arbeit. Gute Nacht, schönen Heimweg und morgen sehen wir uns wieder in alter Frische.«

Zu Kovichs Freude lachte die Frau, doch Brinkley dachte nicht daran, sich zu entschuldigen. Er kniete sich mit einem Bein neben die sterbliche Hülle von Honor Newlin. Sie lag auf dem Rücken, ihr schräg geneigter Kopf von der blöden Kreide umrahmt, doch ihre feinen Züge waren auch im Tod noch schön. Ihr dunkelblondes Haar bildete ein weiches Kopfkissen, die Arme hatte sie hochgerissen, so dass man die Handflächen sah, die mit Schnittwunden übersät waren. Das Blut von den Schnitten war über ihre Finger gelaufen und hatte sich in den Handflächen gesammelt, so dass es aussah, als würde sie im Tod ihr eigenes Blut auffangen.

Brinkley untersuchte die Häufung von klaffenden Wunden unter der weißen Seidenbluse. Hamburg hatte gesagt, die meisten Blutungen seien innerlich, und er konnte sich nun mit eigenen Augen davon überzeugen. Er zog seinen Stift aus der Tasche, beugte sich vor und drückte damit eine der Wunden seitlich auseinander, ohne auf den Gestank aus Blut, Zigaretten und Alkohol zu achten, der von der Leiche ausging. Die Tiefe der Stiche betrug seiner Schätzung nach zehn bis fünfzehn Zentimeter, und sie waren in einem schiefen Winkel von oben nach unten ausgeführt worden. Das sagte ihm, dass der Täter stark war, aber nicht ungewöhnlich stark, und größer als Mrs Newlin. Zwischen eins achtzig und eins fünfundachtzig? Er dachte an die Schmutzspuren auf dem Couchtisch. Würde Newlin seine Füße auf den Tisch legen? Vielleicht, nachdem er ein paar Drinks intus hatte, aber bestimmt nicht während eines Streits mit seiner Frau.

»Meine Güte, kannst du diesen Typ verstehen?«, sagte Kovich von der anderen Seite der Leiche her. »Schönes Haus, schöne Frau, massenhaft Geld. Und er hat nichts Besseres zu tun, als sie umzubringen.«

Brinkley hörte nicht auf ihn, sondern widmete sich weiter der Toten, die keine anderen Verletzungen zeigte. Er schätzte ihr Gewicht auf gut 60 Kilo bei einer Größe von knapp einssiebzig. Außer der Seidenbluse trug sie eine schwarze Stretchhose, die ihre schlanken Beine betonte und kurz über den Knöcheln endete. Ihre Schienbeine verjüngten sich zu schmalen Fesseln und Füßen, an denen pinkfarbene Schuhe saßen. Er musste zweimal auf diese Schuhe sehen. Sie waren hinten offen, hatten einen flachen Absatz und vorne ein schmales, elastisches Riemchen, das allerdings beim rechten Schuh gerissen war.

»Der eine Schuh ist kaputt«, bemerkte er und begann zu skizzieren.

Kovich nickte. »Ist wahrscheinlich gerissen, als sie nach hinten gefallen ist.«

»Komisch, dass er nicht einfach abgefallen ist. Er ist hinten offen. Alberne Schuhe.«

»Aber sexy. Machen mich richtig an. Weißt du, welche ich auch richtig geil finde? Diese Sandaletten mit den dicken Sohlen – wie heißen die noch? Plateausohlen, genau. Die sie immer in Pornofilmen tragen. Ich mag die weißen mit den hohen Absätzen. Oder die roten. Die roten sind richtig scharf.«

»Du bist wirklich ein anspruchsvoller Typ, Kovich.«

»Ich habe einen ganz einfachen Geschmack.« Kovich kniete nieder und stützte sich mit einer Hand ab. Sein Hintern ragte in die Höhe und seine Kartoffelnase berührte fast den Boden, so dass er einem großen Hund beim Spielen ähnelte. »Gleich kannst du dich bei mir bedanken, Mick.«

»Wieso?«

»Guck mal.« Kovich zeigte auf einer Stelle hinter der Leiche, auf Brinkleys Seite. Etwas Winziges, Goldenes schimmerte im Weg des Staubsaugers eines Spurensicherungsmannes. Es hatte sich in der dicken Wolle der gemusterten Brücke verfangen, weshalb Brinkley es aus seiner Position nicht sehen konnte. Kovich bedeutete dem Techniker mit dem Staubsauger, sich zu entfernen, und beide Detectives beugten sich dicht über den Gegenstand.

»Komisches kleines Ding«, sagte Brinkley Golden funkelnd saß es in einem der Paisley-Augen des Perserteppichs. Es sah aus wie ein winziges Schmuckstück. Brinkley betrachtete es forschend, wollte es aber nicht anfassen, bevor es fotografiert worden war.

»Was ist das?«

»Ein Ohrringstecker. Meine Tochter Kelley verliert sie auch dauernd.«

»Was ist ein Ohrringstecker?«

»Der Verschluss, mit dem Ohrringe hinter dem Ohrläppchen befestigt werden. Trägt Sheree so etwas nicht?«

»Nein«, antwortete Brinkley kurz angebunden. Eines Tages würde er Kovich erzählen, dass er und Sheree sich getrennt hatten. Doch jetzt blickte er gleichzeitig mit seinem Kollegen auf Honor Newlins Kopf. Sie hatte noch beide Ohrringe an, eine einzelne, große Perle an jedem Ohrläppchen. Er beugte sich tiefer und spähte hinter das linke Ohr. Der Stecker war noch dran. »Der hier ist noch da. Sieh auf der anderen Seite nach.«

Kovich beugte seinen Kopf wie ein Automechaniker unter ein Fahrgestell. »Der hier auch.«

»Also ist es nicht ihr Stecker.«

»Falsch.« Kovich richtete sich auf. Die Leiche lag zwischen ihnen wie eine Grenzlinie. »Es könnte ihrer sein, nur eben nicht von diesen Ohrringen.«

»Stimmt.«

»Siehst du, du bist nicht der einzige Schnüffler in diesem Raum.«

Brinkley lachte und stand auf. Ein letztes Mal ließ er die Augen prüfend über die Leiche wandern. Es wurmte ihn, dass die Leute von der Spurensicherung das Messer schon eingepackt hatten. Konnten sie die Tatwaffe nicht ein Mal an Ort und Stelle lassen? Nein, sie müssten sie sofort ins Labor bringen. Das war das Problem bei diesen gottverdammten eiligen Jobs. Alle rannten herum wie aufgescheuchte Hühner und veranstalteten ein einziges Chaos. Bei wichtigen Fällen sollte man besonders langsam vorgehen, nicht besonders schnell. Frustriert sah er sich um.

Am anderen Ende des Esszimmertischs waren die beiden gedeckten Plätze nach wie vor unberührt. Das Geschirr bestand aus feinstem, weißem Porzellan mit einem schmalen, schwarzen Rand, und vor jedem Teller standen Weinkelche und Wassergläser aus geschliffenem Kristall. Brinkley winkte eine Technikerin mit einer Fingerabdruck-Ausrüstung herbei. »Hier sollte irgendwo ein Scotchglas sein. Nein, zwei.« »Da waren auch zwei, Detective. Sie sind schon eingetütet worden. Rick dort« – sie zeigte auf einen rothaarigen jungen Mann – »hat Polaroids gemacht.«

»Na toll.« Brinkley hätte am liebsten laut geschrien. Er marschierte auf den Rothaarigen zu, ließ sich die Fotos geben und studierte sie nacheinander. Aufnahmen von der Toten, aus jedem grausigen Blickwinkel. Wo waren die Gläser?

Da. Ein Whiskyglas lag auf der Seite neben der Leiche, der herausgeflossene Inhalt sah aus wie eine dunkle Schlange. Drei verschiedene Ansichten. Ein weiteres Foto von einem gleichen Whiskyglas, zerbrochen auf dem Parkettboden. Fünf Aufnahmen davon. Brinkley sah automatisch auf den Boden. Er war sauber gefegt.

»Verdammter Mist!«, explodierte er schließlich.

»Was ist los?«, fragte Kovich und trat zu ihm.

»Sie haben das zerbrochene Glas eingesammelt! Ich wollte sehen, wohin es gefallen war!«

»Du hast doch die Fotos, und sie werden alles untersuchen. Du weißt das. Wir bekommen sicher bald den Bericht.«

»Hätten sie nicht warten können?« Brinkley blätterte wutschnaubend durch die Polaroids. Sie waren unscharf und sagten ihm nichts. »Wir werden wichtige Details übersehen, verdammt!«

»Es gibt nichts zu übersehen, Mick.« Kovich breitete seine fleischigen Arme aus, als gehörte ihm das Esszimmer. »Wir haben den Täter. Was gibt es da zu übersehen?«

»Wann hat Newlin sein Geständnis ausgespuckt?«

»Wen kümmert’s?«

»Mich! Verbrecher gestehen nicht gleich nach der Tat.«

»Reg dich ab, Bruder. Okay, wir haben es hier nicht mit einem durchschnittlichen Verbrecher zu tun, das würde ich auch sagen. Da gebe ich dir Recht. Aber jetzt hör auf rumzunerven. Ich sag dir, wie es meiner bescheidenen Ansicht nach war.«

Kovich schob ungeduldig seine Pilotenbrille nach oben.

»Wir haben hier einen anständigen Bürger vor uns, einen reichen anständigen Bürger, der durchgedreht ist. Einen Anwalt, der keine andere Möglichkeit sah. Er ist kein Krimineller, also stellt er sich. Beziehungsweise er stellt sich, als er merkt, dass er keine Chance hat, wie er selbst sagt. Er ist nicht von der Rolle, weil er es getan hat, sondern weil er in den Knast wandern wird. Wie du schon so richtig bemerkt hast, er ist eben Anwalt.«

Brinkley dachte darüber nach. »Du hältst ihn also auch nicht für den Typ, der einen Mord begeht.«

»Er ist nicht unser typischer Mörder, das stimmt.« Kovich trat näher heran. »Aber wie typisch er ist, ist scheißegal, Mick, das weißt du genau. Newlin hat es getan, so viel steht fest. Bloß weil es ihm hinterher Leid tut oder er Angst bekommt oder ihm schlecht wird, heißt das nicht, dass er unschuldig ist. Mag sein, dass er zum ersten Mal in seinem Leben das Gesetz gebrochen hat, dass er noch nicht mal eine Ampel bei Rot überquert hat, bevor er seine Frau erstach. Ich mag ihn, Mick, wirklich. Er ist unser Mann, und alles hier spricht dafür.«

Brinkley betrachtete wortlos den Tatort. Er musste einräumen, dass Kovich möglicherweise Recht hatte. Es passte alles zusammen. Der für zwei Personen gedeckte Tisch. Die Scotchgläser. Die unberührte Vorspeisenplatte. Kaltes Filet Mignon, ihr Lieblingsfleisch. Das Fleisch war außen kohlschwarz und innen zartrosa und saftig. Man hatte es kalt aufgeschnitten serviert, zusammen mit einem grobkörnigen Senf und goldbraun glänzenden Brötchen.

Kovich folgte dem Blick seines Partners. »Herrje, so einen Braten hab ich schon seit einem Jahr nicht mehr gegessen, nicht mehr seit Billys Ruhestandsparty. Weißt du noch, wie wir mit ihm in die Stadt gefahren sind, ins ›Palm‹? Köstlich, ich liebe dieses Restaurant.«

»Nein.« Brinkley starrte auf die Servierplatte. Neben dem Senf befand sich ein großer Klecks einer weichen, klumpigen Pampe von hellbrauner Farbe. Es sah nicht nach einer Bratensoße aus.

»Sieh dir das an, Kovich. Das ist Hummus.«

»Was für’n Ding?«

»Hummus.« Brinkley kannte das Zeug von Sheree. Als sie Muslimin wurde, hatte sie begonnen, allen möglichen Mist zu fressen. Good bye Schweinekoteletts mit grünem Gemüse, hallo Bohnensuppe und Vollkornfladen. »Das ist so eine Art Dip, aus Kichererbsen und Tahin.«

»Tahin? Ist das nicht so eine tropische Insel, wie Hawaii?«

»Nein, eine Paste. Aus Sesamkörnern.«

»Sieht aus wie Babykacke.«

»Schmeckt auch wie Babykacke.«

»Und du isst so was?«

»Nur, um meine Ehe zu retten.«

Sie lachten, dann bemerkte Brinkley: »Nicht gerade eine Vorspeise, wie sie bei den meisten Leuten auf den Tisch kommt.«

»Wie Käsebällchen, zum Beispiel.«

»Genau.« Brinkley wusste nicht, was Käsebällchen waren, verzichtete aber darauf nachzufragen. Kovich aß eine Menge Müll. Ring-Dings und Hot Dogs. »Wie Käsebällchen.«

»Schön, na und?«

»Warum tischen sie Hummus zum Fleisch auf? Die Frau hat den Appetizer vorbereitet und wartet darauf, dass Newlin nach Hause kommt.« Brinkley schob die Polaroids in seine Jackentasche, deutete unbestimmt auf die Servierplatte und dachte laut nach. »Newlin sagt, seine Frau mag Filet. Wir wissen außerdem, dass sie Scotch trinkt. Also Leute, die auf Fleisch und Whisky stehen, kapiert?«

»Schätze schon, Bill.«

Brinkley ließ sich nicht beirren. Er hatte das Gefühl, auf etwas gestoßen zu sein, wenn er auch nicht wusste, ob es wichtig war oder nicht. »Warum haben sie dann dieses Hummus-Zeug auf der Platte? Fleischliebhaber essen kein Hummus. Es ist ein Fleischersatz. Entweder isst man Hummus oder Fleisch.«

»Verstehe. Das eine oder das andere. Du glaubst also, Newlin isst Hummus?«

»Quatsch. Kein Mann isst Hummus. Es sei denn, er will seine Ehe retten.« Brinkley scherzte nicht. »Leute, die Fleisch essen, essen kein Hummus. So läuft das nicht.«

»Woher zum Teufel weißt du das, Mick?«

»Weiß ich eben.«

Er wollte nicht darüber reden. Sherees Bekehrung zum Islam. Der weiße Schleier, den sie auf einmal trug, mit dem sie ihren schönen Körper verhüllte. Der Koran, in dem sie die ganze Zeit las. Es war der Anfang vom Ende gewesen für sie beide.

»Das Zeug war für jemand anderen. Es sollte noch jemand anders zum Essen kommen heute Abend.«

»Was?« Kovich schob seine Brille hoch, wobei rote Druckstellen auf seiner Nase sichtbar wurden.

»Du hast mich schon verstanden. Sehen wir uns den Rest des Hauses an.«

Brinkley und Kovich gingen in die Küche, wo ein großer bunter Salat mit einem rosafarbenen Dressing wartete, und sahen sich dann das Bad an. Sie registrierten die blutbeschmierten Handtücher und die Toilette, in die sich Newlin übergeben hatte. Der Geruch war unverkennbar, doch die Detectives machten sich gewissenhaft Notizen, fertigten Skizzen an und gingen dann hinauf in den ersten Stock. Das Schlafzimmer wirkte steril, die Kleiderschränke waren aufgeräumt und wohlbestückt. Auf dem weißen Toilettentisch stand ein Hochzeitsfoto, das die Hausherrin in einem weißen Kleid mit einer bauschigen, wolkenartigen Schleppe zeigte. Die beiden getrennten Badezimmer waren ordentlich und ließen nichts Besonderes erkennen. Brinkley machte sich ein paar kurze Notizen und gab Anweisung, die Toilettengegenstände in Labortüten zu versiegeln.

Alle Zimmer waren perfekt eingerichtet und aufgeräumt, selbst die Bibliothek und das Arbeitszimmer der Frau, das eine Menge Fotos von ihr selbst, ihrem Mann, Pferden und einem Boot enthielt, aber nur ein einziges von der Tochter. Es war ein gestelltes Foto für eine Anzeige, auf dem das Mädchen zwar wunderschön aussah, das aber nichts Persönliches hatte.

Brinkley brachte Aufkleber an den Aktenordnern an, damit sie in Kisten verpackt und beschlagnahmt wurden, und hörte die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter ab, alles Routine. Nichts, was er fand, war auch nur annähernd so interessant wie der Ohrstecker.

Schließlich gelangte er in das Zimmer der Tochter, das Zimmer eines Kindes, das alles hatte. Ein großes Himmelbett, einen Schreibtisch voller Bücher und ein Regal mit hübschen, weißen Porzellanpuppen. Er ließ seinen Blick über die drei Regalreihen schweifen, doch die Puppen starrten nur mit leeren Gesichtern zurück. Der Ohrstecker ging ihm nicht aus dem Kopf. Brinkley näherte sich dem Toilettentisch und suchte ihn nach einem Schmuckkästchen ab. Vor dem Spiegel waren Parfümfläschchen, Haarschmuck und ein Kästchen aus einem knotigen Holz aufgereiht. Er versuchte, den Deckel mit seinem Stift anzuheben, doch es war verschlossen. Irgendwo musste der Schlüssel sein. Brinkley durchstöberte die Schubladen mit Hilfe des Stifts. Seidenhöschen, T-Shirts und Pullis in allen Farben des Regenbogens, säuberlich zusammengefaltet. Kein Schlüssel für das Kästchen, nichts. Er würde ihn schon finden, nachdem es beschlagnahmt worden war.

Den Schubladen den Rücken kehrend sah er unterm Bett nach, auch unter der Matratze, und ging dann ins Badezimmer. Es war üppig ausgestattet, aber nichts wirkte auffällig, außer einer Plastikpackung mit kreisförmig angeordneten, rosa Anti-Baby-Pillen. Brinkley sah so etwas zum ersten Mal, denn Sheree hatte keine gebraucht. Er wandte sich ab und ging hinaus, um Kovich zu suchen.

»Ich muss immer wieder an dieses Steckerteil denken«, sagte er zu seinem Partner, als sie gemeinsam die breite, mit Teppich ausgelegte Treppe hinuntergingen. »Etwas, das leicht verloren geht, liegt neben der Leiche. Naheliegender Schluss wäre, dass es dem Mörder beziehungsweise der Mörderin gehört und sich während des Kampfs gelöst hat.«

»Gib’s auf, Mick. Ich hab dir doch gesagt, dieser Ohrstecker könnte schon vor langer Zeit verloren gegangen sein.«

»Vielleicht. Vielleicht hat ihn aber auch die Person fallen lassen, die Newlin zu decken versucht. Eine Person, die Hummus isst und ihre Füße auf den Tisch legt.«

Sie erreichten das untere Ende der Treppe, wo die Spurensicherungsexperten mit den letzten Aufgaben beschäftigt waren. Eine niedrige Stahlbahre wurde hereingerollt, deren Räder über die dicken, wertvollen Teppiche quietschten. Einer der Gerichtsassistenten machte eine fragende Geste, und Brinkley nickte geistesabwesend.

»Ohrringe, Vegetarier und schmutzige Schuhe auf dem Tisch? Ich bin kein Experte, aber für mich klingt das nach Teenager.«

»Meinst du das ernst?«

»Todernst. Ich will mit der Tochter sprechen.«

»Mein Gott, Mick.« Kovichs Augen weiteten sich hinter den großen Fenstern seiner Brille. »Sie ist so alt wie Kelley.«

»Kelley verliert auch immer ihre Ohrstecker, wie du mir gerade erzählt hast«, erwiderte Brinkley, würde aber von den Eins-zwei-drei-Rufen der Gerichtsassistenten abgelenkt, denen das Geräusch eines sich schließenden Metallreißverschlusses und das erneute Quietschen der Räder auf den Teppichen folgten. Die Bahre mit dem schwarzen Leichensack ratterte an den Detectives vorbei.

»Der Horrorfilm zur Mitternacht«, flapste Kovich, doch Brinkley gab Honor Newlin ein stummes Versprechen.

Ich werde deinen Mörder finden, sagte er zu ihr. Er wusste, dass sie ihn hören konnte, irgendwo in einer anderen Welt.

Und wenn du nicht die Wahrheit sprichst

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