Читать книгу Und wenn du nicht die Wahrheit sprichst - Lisa Scott - Страница 13

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Mary stieg in der zehnten Etage der Colonial Hill Towers aus dem Aufzug und betrat einen eleganten, schiefergrau gestrichenen Flur mit platinfarbenen Wandleuchten im Artdéco-Stil. Sie zog den Zettel mit der Nummer von Paige Newlins Eigentumswohnung aus ihrer Jackentasche und entzifferte ihn, wobei sie beinahe mit einem hochgewachsenen, jungen Mann in zerrissenen Jeans zusammenstieß, der es offenbar sehr eilig hatte. Sein schwarzer Rucksack schlug gegen ihre Schulter.

Mary entschuldigte sich automatisch, während der Junge wortlos an ihr vorbei zum Aufzug drängte. »Hat deine Mutter dir keine Manieren beigebracht?«, rief sie ihm nach, aber er blieb stumm und verschwand hinter der silbrigen Fahrstuhltür.

Sie sah auf ihren Zettel. Neben der Nummer des Apartments stand Paiges Telefonnummer. Sie hatte sich angemeldet, bevor sie hinaufgefahren war, weil es die Vorschriften des Sicherheitspersonals in der Eingangshalle so verlangten. Nun ging sie den Flur entlang, fand die richtige Tür und dachte schweren Herzens an die bevorstehende Aufgabe. Sie kam aus einer italienischen Familie, die eng zusammenhielt und eine zuverlässige Quelle des Trostes und der Geborgenheit darstellte, so anstrengend und entnervend sie manchmal auch sein mochte. Wie sollte sie einem jungen, allein lebenden Mädchen diese Hiobsbotschaft überbringen? Hör mal, dein Papa hat deine Mama umgebracht?

Mary klopfte zögerlich an die Tür. Sie hasste die langweiligen Seiten des Anwaltsberufs, aber noch mehr hasste sie es, wenn es aufwühlend und tragisch wurde. Sie brauchte einen Job, der sie emotional weniger in Anspruch nahm. Ärztin in der Notaufnahme vielleicht. Oder Krebsspezialistin für Kinder.

Paige Newlin, eingehüllt in einen blauen Chenillebademantel mit einem Muster aus übergroßen Kaffeetassen, kauerte schluchzend auf dem weißen Sofa. Den Kopf mit dem leuchtend roten Pferdeschwanz hatte sie in Marys Armen vergrabe, und ihre knochigen Schultern bebten beim Weinen, Sie war sehr groß, aber dünn und feingliedrig und war sofort in Tränen ausgebrochen, als Mary ihr mitgeteilt hatte, dass ihre Mutter ermordet worden war.

»Ich kann es nicht fassen. Meine Mutter tot?«, heulte Paige.

Mary zog sie an sich, und das Mädchen brach in ihrer Umarmung zusammen, so dass beide in den daunenweichen Polstern des Sofas versanken. Sie konnte Paiges Kummer nachempfinden. Sie selbst hatte bereits den Verlust ihres Mannes verkraften müssen. Jetzt, zwei Jahre später, war sie gerade dabei, sich wieder aufzurichten, ihrem Beruf nachzugehen und ein halbwegs normales Leben zu führen, ohne ständig an ihn zu denken. Sie sah sich im Zimmer um, um ihre berufliche Distanz wiederzugewinnen.

Die ganze Wohnung war in einem warmen Cremeweiß gehalten, sogar der Couchtisch und das große Hi-Fi-Regal hinter dem Sofa bestanden aus weiß gebeiztem Holz. Das Regal war gut bestückt mit CDs und einer erstklassigen Stereoanlage. Bücher waren keine zu sehen, mit Ausnahme einiger dekorativ verteilter, glänzender Bildbände. Die gesamte Einrichtung ließ auf Mittel schließen, die die der meisten Teenager – und auch mancher Anwälte – bei weitem überstiegen. Mary stellte sich Paiges luxuriöses Singledasein vor und wusste sofort, dass sie nicht mit ihr tauschen wollte, trotz aller materiellen Vorteile.

»Ich sollte zu ihnen kommen ... zum Abendessen«, stammelte Paige zwischen zwei Schluchzern. »Ich bin nicht hingegangen. Wäre ich doch nur gegangen ...« »So darfst du nicht denken. Es ist nicht deine Schuld. Du kannst nichts dafür.«

»Ich habe sie doch gestern noch gesehen ... beim Shooting.«

»Was für ein Shooting?«

»Eine Fotosession in der Innenstadt, für die Zeitung. Meine Mutter hatte mich für das Kaufhaus Bonner gebucht, und dort war auch der Termin. Sie war auch dort.«

Eine Fotosession? Nicht gerade der Stoff, aus dem ein normales Teenagerleben bestand, soweit Mary sich erinnerte. Mit sechzehn hatte sie lateinische Verben konjugiert und den Bund ihres Schuluniformrocks umgeschlagen, um ihn kürzer zu machen. Sie war ins Büro der Mutter Oberin gerufen worden, wo man sie aufgefordert hatte, niederzuknien. Nicht um zu beten, sondern damit festgestellt werden konnte, ob ihr Rocksaum den Boden berührte.

»Wer tut so etwas? Wer?« Paige begann zu zittern, und Mary fühlte tiefes Mitleid mit ihr.

»Es kommt noch schlimmer, Paige. Ich muss dir etwas sehr Ernstes sagen.«

»Hm?« Paige sah auf, ihr Pferdeschwanz war zerzaust und ihre Augen vom Weinen geschwollen. Mary sah den Schmerz in ihrem makellosen Gesicht und die roten Flecken, die sich über dem V-Ausschnitt des Bademantels gebildet hatten. Sie bekam diese Flecken auch, wenn sie sich aufregte, und das Jucken unter ihrer Seidenbluse sagte ihr, dass es in diesem Moment wieder so weit war. Vergeblich versuchte sie, sich vorzustellen, wie sie selbst auf das reagieren würde, was sie Paige mitzuteilen hatte.

»Du solltest wissen, dass dein Vater wegen Mordes an deiner Mutter verhaftet worden ist. Er beabsichtigt, sich schuldig zu bekennen«, sagte Mary schlicht.

Paige schnappte nach Luft, ihr Mund formte ein entsetztes O.

»Was ... was haben Sie gesagt?«

»Dein Vater will sich schuldig bekennen, und wir werden ihn vor Gericht vertreten. Er konnte nicht selbst kommen und es dir sagen, weil er in Untersuchungshaft sitzt, aber er lässt dir ausrichten, dass er dich liebt.«

»Mein Vater? Mein Vater?« Paiges tränenglänzende Augen blickten wild umher. »Er hat gestanden? Er sitzt in Untersuchungshaft? Das ist unmöglich.«

»Es ist ein Schock, ich weiß.«

»Er hat es nicht getan. Er könnte so etwas nicht tun. Niemals.«

Paige schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr Pferdeschwanz schlenkerte.

»Was hat er genau gesagt?«

»Er will sich schuldig bekennen, mehr darf ich dir nicht sagen.«

Marys Augen wurden feucht angesichts der Qual des Mädchens, und sie gab es auf, die kühle Professionelle zu spielen.

Italienerinnen hatten ein Recht auf ihre Gefühlsausbrüche.

»Das verstehe ich nicht.« Paige sackte wieder in sich zusammen, und Mary schlang einen Arm um ihre schmale, bebende Gestalt.

»Ich kann es dir leider nicht erklären. Aber wenn du möchtest, bringe ich dich zu deinem Vater, und du kannst ihm alle Frage selbst stellen.«

»Mein Vater ist wirklich ... im Gefängnis?«

»Ja, im Roundhouse. Wahrscheinlich wird noch heute Nacht oder morgen früh Anklage gegen ihn erhoben. die Zeitungen werden morgen voll davon sein, und er macht sich deswegen große Sorgen um dich.«

»Oh Gott, mein Vater.« Paiges Gesicht verschwand hinter ihren kindlichen Händen, und ihr Kopf schwankte auf einem Hals, der so zart und schwach wirkte wie ein Grashalm. Sie weinte herzzerreißend. Mary schwor sich wieder einmal, den Beruf zu wechseln.

»Könnte ich bitte ein Glas Wasser haben?«, fragte Paige schließlich mit erstickter Stimme.

»Natürlich«, antwortete Mary, froh darüber, dass sie etwas Praktisches tun konnte. Sie durchquerte das Wohnzimmer zu der nebenan liegenden Küche. Als sie das Licht anknipste, erstrahlte vor ihr eine ultramoderne Einbauküche, die so perfekt ausgestattet und so sauber war wie in einem Musterhaus: Arbeitsflächen aus schwarzem Granit, eine polierte Edelstahlspüle und nirgends ein Krümel Essbares. Noch nie hatte Mary eine solche Küche gesehen, außer in Katalogen, und sie empfand eine spontane Abneigung gegen diese Umgebung. Sie öffnete den weißen Hängeschrank über der Spüle, in dem sich lauter passende Gläser befanden, und füllte eines mit Wasser. Neben der Spüle entdeckte sie ein kleines Foto in einem herzförmigen Silberrahmen, das sie neugierig in die Hand nahm.

Es war im Sommer aufgenommen und zeigte Paige, wie sie in abgeschnittenen Jeans und T-Shirt in die Kamera grinste. Hinter ihr stand ein junger Mann, der seine gebräunten, muskulösen Arme um sie geschlungen hatte. Paiges Hals und ihre langen Haare verdeckten sein Gesicht, er schien ihren Nacken zu küssen. Das musste der Freund sein, den Newlin erwähnt hatte.

»Bitte, mein Wasser«, ließ sich Paiges schwache Stimme vernehmen, und Mary schnappte Glas und Foto und eilte zurück ins Wohnzimmer. Sie reichte das Wasser dem erschöpften Mädchen, dessen Schluchzen allmählich in eine Art Schluckauf überging und dann ganz aufhörte.

»Ich habe dieses Foto von dir und deinem Freund gefunden. Möchtest du ihn nicht anrufen? Es würde dir vielleicht helfen, ihn um dich zu haben.«

»Was? Mein Freund?«

»Ist er das nicht? Dein Vater hat mir von ihm erzählt.« Mary hielt Paige das Foto hin.

»Ja, das ist er.«

»Wie heißt er? Er scheint nett zu sein.«

»Trevor. Trevor Olanski.«

Mary sah sich das Bild noch einmal an. »Komisch. Er erinnert mich an den Jungen, dem ich vorhin draußen im Flur begegnet bin.«

»Nein, das kann nicht sein.« Paige trank einen Schluck Wasser.

»Trevor war heute Abend nicht hier.«

»Nicht?« Mary blinzelte. »Ich könnte schwören, dass er vor dem Aufzug mit mir zusammengestoßen ist.«

»Trevor war heute Abend nicht bei mir.« Paige wischte sich die Augen. »Ich glaube ... ich würde jetzt gern zu meinem Vater gehen.« Sie strich eine Haarsträhne zurück, stand auf und zog den Bademantel um ihren mageren Körper zusammen. Gesicht und Brust waren mit flammend roten Flecken übersät, die ihre äußerliche Gefasstheit Lügen straften. »Ich ziehe mir nur schnell was an.«

»Klar«, nickte Mary, sah dem Mädchen nach, als es in seinen Frotteeslippern davonschlurfte, und ließ sich verwirrt in einen Sessel sinken.

Sie starrte auf das herzförmige Foto. Das Gesicht des Freundes war wirklich nicht zu erkennen. Warum glaubte sie dann so sicher, dass es sich um den Jungen aus dem Flur handelte? Sie fuhr mit der Fingerspitze über das Bild und blieb bei einem Riss in seinen Jeans hängen, der neben Paiges schlanker Hüfte zu sehen war. Der Riss verlief längs über seinen Oberschenkel.

Mary sah genauer hin. Heutzutage trugen viele zerrissene Jeans, manche kauften sie sogar extra so. Dann fiel es ihr ein. Der Junge im Flur hatte auch einen länglichen Riss in seiner Hose gehabt. Merkwürdig. Wenn Marys Jeans abgetragen waren, rissen sie immer quer auf, nicht längs. Dieser Schnitt musste also mit Absicht hineingemacht worden sein. Wie viele Kids schnitten ihre Jeans auf diese Weise ein? Manche vielleicht, aber nicht viele. Zudem hatten der Junge aus dem Flur und der auf dem Foto schätzungsweise die gleiche Größe und Statur.

Das gab ihr zu denken. Log Paige? War ihr Freund vorhin doch bei ihr gewesen? Nein, bestimmt nicht. Warum sollte sie lügen? Na gut, vielleicht war es etwas Persönliches. Vielleicht hatte Paige sie angelogen, weil Mary nicht wissen sollte, dass sie Besuch von Jungs bekam. Mit sechzehn war sie dafür auch noch viel zu jung, und Mary kannte dreiunddreißig Nonnen, die das sofort durch eine eidesstattliche Erklärung bestätigen würden. In dieser Hinsicht war sie ausnahmsweise mal mit ihrer Kirche einer Meinung. Plötzlich ging eine Tür in der Wohnung auf, und Paige erschien in einfacher Freizeitkleidung. Mary stellte das Foto ab, konnte aber die Nonnen nicht ganz aus ihren Gedanken verbannen.

Und wenn du nicht die Wahrheit sprichst

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