Читать книгу Und wenn du nicht die Wahrheit sprichst - Lisa Scott - Страница 9

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Paige Newlin hatte endlich aufgehört zu weinen und schmiegte sich an die Brust ihres Freunds Trevor, genauer gesagt an seinen grauen Abercrombie-Pullover. Er war kratziger als ihr eigenes Kaschmir-Twinset, aber sie brauchte den Trost körperlicher Nähe. Paige zitterte und zuckte immer noch und versuchte, von ihrem Drogentrip herunterzukommen. Sie hatte zum ersten Mal Crystal probiert und nicht erwartet, davon so auszuflippen. Sie fühlte sich wie ein überladener Akku oder als wären elektrische Stromstöße durch sie hindurchgejagt worden. Dabei hatte sie nur gehofft, mit Hilfe des Pulvers das Abendessen bei ihren Eltern besser durchzustehen. Ein Fehler. Ihr schwirrte immer noch der Kopf. Auf dem Flachbildfernseher auf der anderen Seite des Wohnzimmers lief MTV, aber Paige konnte sich kaum auf die Bilder konzentrieren.

Sie fröstelte, obwohl das elegante Apartment gut geheizt und das weiße Sofa mit weichen Gänsedaunen gepolstert war. Ihr Körper, gertenschlank in einem schwarzen Twinset und schwarzen Stretchjeans, die ihre langen Beine wie Lakritzstangen aussehen ließen, war perfekt für ein junges Model. Sie hatte außergewöhnlich schmale Hüften und hohe, kleine Brüste. Nach ihrem Heulanfall glänzten ihre azurblauen Augen vor Tränen, die kleine Stupsnase glänzte rosa, und der weiche, übergroße Mund hatte sich nach unten verzogen.

»Du zitterst immer noch ein bisschen«, sagte Trevor, der sie auf dem Sofa in seinen Armen hielt. Trevor Olanski war ein großer, muskulöser Junge mit dicht gewelltem, schwarzem Haar, grünlichen Augen und hoher Stirn, die in diesem Moment besorgt in Falten gezogen war. Seine Jeans hatten einen länglichen Schlitz über einem Oberschenkel, und er trug braune Doc-Martens-Schuhe. »Soll ich die Heizung noch mehr aufdrehen oder eine Decke holen?«

»Es dauert zu lange, bis ich wieder runterkomme, Trev.« Paige spielte nervös mit ihrem langen Pferdeschwanz, granatrot und schnurgerade. Dieser Pferdeschwanz war ihr Markenzeichen, ein unverwechselbarer Look, der sie nach Meinung ihrer Mutter an die Spitze bringen würde. Ihre Mutter. Was war passiert? Paiges Kopf dröhnte. »Ich brauche keine Decke. Ich brauche mehr Special K.«

»Nein, du hast schon zu viel genommen. Kuschel dich lieber an mich.« Trevor zog sie enger in seine Arme. Das gefiel ihr, obwohl sie immer noch zu seinem schwarzen Jansport-Rucksack auf dem Couchtisch schielte. Aus dem mittleren Fach ragten sein Algebrabuch, ein Taschenrechner mit Kurvendisplay und ein durchsichtiges Fläschchen mit Special – K.-Ketamin heraus, ein Betäubungsmittel, das sie von dem aufputschenden Crystal herunterholen sollte.

»Mehr K. würde mir helfen, Trev. Neben dem Kuscheln. Als Beilage, sozusagen.«

»Du musst Geduld haben, Schatz. Du warst so high, dass es seine Zeit braucht, bis du wieder unten bist. So ist Crystal eben.«

»Das hättest du mir vorher sagen sollen.«

»Hab ich auch. Du wolltest es trotzdem nehmen, weißt du nicht mehr?«

»Ja, ja, vielleicht hast du mich gewarnt. Ich kann mich nicht erinnern.« Paiges Gedanken purzelten durcheinander wie farbige Glassplitter in einem Kaleidoskop, aber ihre Muskeln entspannten sich allmählich durch das K. »Ich komme einfach nicht klar mit dem, was passiert ist. Mit meiner Mutter.«

»Denk jetzt nicht daran. Du hast zu viel durchgemacht heute Abend, viel zu viel.« Trevor wiegte sie in seinen Armen.

»Möchtest du etwas trinken? Wasser?«

»Nein.«

»Soll ich den Fernseher ausschalten? Oder den Ton lauter machen?«

Trevor zeigte auf den Bildschirm, aber Paige konnte ihren Blick immer noch nicht klar einstellen. Da war etwas, das aussah wie die Jungs von Smashmouth mit »Dancing on the Sun«, aber es hätten auch irgendwelche anderen herumhüpfenden Kids mit Strickmützen sein können.

»Nee, lass nur.«

»Hast du vielleicht Hunger? Ich kann überbackene Käsesandwiches machen.«

»Zu viele Kalorien.«

Paige schüttelte den Kopf und merkte, wie das K. sie allmählich beruhigte. Der Streit mit ihrer Mutter war der schlimmste seit ihrem Auszug gewesen. Sie war furchtbar wütend geworden und hatte ihre Mutter angeschrien. Dann hatte sie nach dem Messer auf dem Tisch gegriffen. Nein. Sie konnte die Bilder einfach nicht aus ihrem Kopf bekommen. Ihr war kalt bis ins Mark.

»Trev, kann ich bitte noch eine Ladung bekommen?«

»Ich halte das für keine gute Idee, Baby.«

»Aber ich. Ich glaube, ich brauche zwei.«

»Warum entspannst du dich nicht und machst ein Schläfchen? Ich kann dir etwas zu trinken bringen.«

»Komm schon.« Paige verdrehte die Augen. »Nur noch eine, ja? Sei nicht so knauserig.«

Trevor seufzte und lehnte sie sanft gegen das Sofa. »Na schön, aber eine ist genug. Ich will nicht, dass du es übertreibst.«

Er beugte sich über den Couchtisch, nahm das Fläschchen aus der Tasche und schraubte den schwarzen Deckel ab. Dann wühlte er in seinem Stiftemäppchen nach einem billigen Kuli mit Kappenverschluss und füllte damit das Pulver aus dem Fläschchen ab. »Nur noch eine. Dann ist Schluss.«

Paige nickte, aber sie konnte nicht klar denken. Es war alles so furchtbar. Sie hatte gewusst, dass das Treffen zum Abendessen eine Katastrophe werden würde, doch es war noch schlimmer gekommen – ihre Mutter tot, das blutige Messer heiß und schlüpfrig in ihrer eigenen Hand. Sie hatte es fallen gelassen und angefangen zu weinen.

»So, hier«, sagte Trevor und reichte ihr die Kulikappe mit dem K. Sie führte sie an ihre Nase und sog das Pulver ein, erst in ein Nasenloch, dann in das andere, und atmete tief durch. Ihr Gehirn vernebelte sich sofort, sie ließ die Kappe fallen. Sie wollte ihn fragen und auch wieder nicht.

»Trev, habe ich ... habe ich es ... wirklich getan?«

»Süße, warum fragst du mich das?« Seine grünlichen Augen blickten verwirrt. »Weißt du es nicht mehr?«

»Nein, ich kann mich irgendwie nicht erinnern. Das Crystal. An manches erinnere ich mich, aber nicht an alles.« Paige fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Es konnte nicht wahr sein, und doch ... Sie hasste ihre Mutter. Sie hatte ihr schon unzählige Male den Tod gewünscht. »Ich erinnere mich an das Messer und an ihr Schreien.«

»Lass uns jetzt nicht darüber sprechen. Sonst bekommst du noch eine Migräne.«

»Nein, ich will es wissen.«

»Also gut.« Trevor seufzte erneut und rieb beruhigend ihre Schultern. »Also, sie fing wieder an, auf dir herumzuhacken, dass du nicht zunehmen dürftest und all das, irgendwas mit Wasseransammlungen im Körper oder so ’n Zeug. Dann hast du sie angeschrien, und sie hat dich geschlagen und getreten. Das weißt du doch noch, oder?«

»Ja.« Paige versuchte, sich an die Szene zu erinnern. Sie sah sich selbst auf dem Boden des Esszimmers, wie sie vor den Tritten ihrer Mutter wegrollte. »Sie hat mich getreten, ja, und mich angeschrien. Sie hat einfach nicht aufgehört.«

»Ich wollte sie zurückhalten, aber ich habe es nicht geschafft. Dann ... na ja, dann bist du irgendwie durchgedreht. Du bist auf sie losgegangen.« Trevors Stimme wurde leise. »So habe ich dich noch nie erlebt. Du warst vollkommen außer Kontrolle. Du hast getobt. Es war, als würde alles auf einmal auf dich einstürzen, und dann hast du zum Messer gegriffen. Erinnerst du dich an das Messer vom Tisch?«

»Ja.« Paige schloss die Augen. Das Messer. Es war dasjenige, das sie immer zum Aufschneiden von Filet benutzten. Wie hatte sie das bloß tun können? Ihre eigene Mutter zu töten. War sie verrückt? War sie ein Monster? Sie hätte das Crystal nicht nehmen dürfen. Sie brach wieder in Tränen aus, und Trevor drückte sie an sich, als sie schluchzte: »Oh Gott, ich kann das nicht glauben. Meine eigene Mutter. Ich habe sie umgebracht.«

»Denk jetzt nicht daran. Entspann dich.« Seine Arme schlossen sie in einen warmen, wolligen Kokon ein. »Es ist nicht deine Schuld. Sie war immer so gemein zu dir. Du kannst nichts dafür.«

Paige lauschte seinen tröstlichen Worten, während das K. seine Wirkung tat. Ihr Atem ging langsamer. Die Überdrehtheit, die das Crystal ausgelöst hatte, ließ nach. Ruhe breitete sich in ihrem Körper aus. Ihre Gefühle gingen auf Abstand, als würden sie nicht zu ihr gehören, doch ihre Augen brannten noch vom Weinen, und sie konnte nicht durch die Nase atmen. Bestimmt sah sie fürchterlich aus. Sie hatte ihr Gesicht studiert, wie andere Mädchen Französisch studierten. Trevor massierte ihre Schultern, lockerte die Muskeln, verminderte den Druck auf ihren Kopf. Einmal hatte er eine drohende Migräne verhindert, indem er sie so massierte. Er kümmerte sich besser um sie als ihre Mutter es je getan hatte.

»So ist’s gut«, sagte er und knetete weiter.

Paige hörte ihn, aber ihre Aufmerksamkeit war auf die Bilder gerichtet, die nach und nach in ihr Bewusstsein drangen. Keine Kaleidoskopsplitter mehr, sondern vollständige Fotos, eines nach dem anderen, als würde sie durch ihre Model-Mappe blättern. Ihr Gesicht in weichem Licht. Mit Hintergrundbeleuchtung. Nach zu wenig Schlaf oder zu vielen Drogen. Sie schwebte jetzt.

»Alles in Ordnung?« Trevors Hände bewegten sich über ihren Nacken, fuhren unter ihre Haare. »Geht’s dir besser?«

»Viel besser«, hörte Paige sich flüstern. Die Fotos in der Mappe ihres Kopfs zeigten nun ihre Mutter. Ihre Mutter in Perlen von Mikimoto. In einer DKNY-Sonnenbrille. Mit einer Augenfältchencreme von Estée Lauder. Ihre Mutter war eine einzige Ansammlung von Markennamen. Paige lächelte in sich hinein, ließ sich treiben. Sie sah ihrer Mutter sehr ähnlich, das sagten alle. Die Augenfältchencreme löste sich auf, und die blauen Augen der Mutter wurden zu Paiges blauen Augen. Dann wurde das Gesicht ihrer Mutter immer jünger und färbte sich schwarz.

»Hey Baby, bist du noch da? Hörst du mich?«

Paige nickte und entspannte ihre Wangen, um sie zu glätten, wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte. Ihre Mutter war nie Model gewesen, dafür eine Debütantin in der feinen Gesellschaft von Philadelphia. Sie hatte Paige zum Model geformt. Schon als Baby wurde sie für Windelwerbung fotografiert, später für Zeitungsbeilagen und Modekataloge. In diesem Jahr wollte ihre Mutter sie ins YM-Magazin bringen.

Eine plötzliche Angst stoppte Paiges Gedanken. »Vielleicht ist die Polizei schon hinter mir her! Ich meine, sie werden doch nach mir suchen, oder?«

»Nein, keine Angst.« Trevor presste sie an sich. »Sie wissen noch nicht einmal, dass du existierst. Du wohnst ja nicht mehr dort. Wie sollen sie dich finden?«

»Du hast Recht.« Paige drückte seinen Arm, der sich stark wie der Ast einer Eiche anfühlte. Was würde sie ohne ihn tun? Sie verspürte leichten Schwindel gepaart mit Lust auf Sex, eine Wirkung, die das K. manchmal bei ihr hatte. »Ich liebe dich, Trev.«

»Ich liebe dich auch. Wir werden das zusammen durchstehen.«

Paige sah dankbar zu ihm auf. Sie erinnerte sich, wie er dafür gesorgt hatte, dass sie sich an einer Tankstelle auf dem Nachhauseweg wusch. Er hatte ihr gesagt, sie solle das Messer mitnehmen, aber sie hatte es vergessen, und er hatte noch nicht einmal mit ihr geschimpft. »Ich mache mir Sorgen wegen des Messers, Trev. Können sie meine Fingerabdrücke darauf erkennen, wie im Fernsehen?«

»Nein, das glaube ich nicht. Sie müssen sie mit Abdrücken in ihrer Kartei vergleichen oder so, und deine Abdrücke haben sie nicht, weil du noch nie verhaftet worden bist.«

»Was machen wir, wenn die Bullen kommen?«, fragte sie, aber es klang, als hätte ein anderer gesprochen. Etwas in ihr stellte die Frage, dasselbe Prinzip, das auch die Atmung in Gang hielt. Ihr Privatlehrer für Naturwissenschaften hatte es ihr vor den Weihnachtsferien erklärt. Das autonome Nervensystem.

»Was soll ich denen sagen? Ich war zum Abendessen bei meinen Eltern verabredet.«

»Das wissen die Bullen aber nicht, und falls doch, sagst du einfach, du wärst nicht hingegangen. Du kannst ja behaupten, du hättest Migräne gehabt.«

»Aber wenn mich jemand gesehen hat, als ich aus dem Haus ging?« Paige schloss die Augen und lehnte ihren Kopf gegen das weiche Polster, während die Droge ihre Angst vertrieb. »Dieser picklige Typ am Empfang oder einer meiner Nachbarn?«

»Heute saß der alte Typ am Empfang, und der war schon wieder eingeschlafen. Ich habe mich nicht in das Besucherbuch eingetragen, und bei dem Wetter ist auch niemand ausgegangen. Außerdem gibt es dreihundert Apartments in diesem Gebäude. Kein Mensch achtet darauf, wann wir kommen und gehen.«

»Was ist, wenn sie mich verhaften?« Paige sprach die Worte aus, ohne zu glauben, dass so etwas wirklich passieren könnte. Ihr doch nicht. Ihr konnte nichts passieren. Sie schwebte über den Wolken. »Was ist ... wenn sie mich ins Gefängnis stecken?«

»Warum sollten sie dich überhaupt verdächtigen? Soweit die Bullen wissen, hast du deine Mutter den ganzen Tag nicht gesehen. Zuletzt bist du ihr gestern begegnet, bei dem Shooting. Sie hatte wieder getrunken, hast du mir erzählt.«

»Heute auch.« Ihre Mutter war schon blau gewesen, als Paige nach Hause kam. Dann dieses Schreien, die Schläge. Als Paige nach dem Messer gegriffen hatte, hatte ihre Mutter ihr Glas fallen lassen. Scotch war in einem goldenen Bogen herausgeflossen, wie in Zeitlupe. Plötzlich fiel Paige etwas ein.

»Warte mal. Was ist mit meinem Vater?«

»Deinem Vater?«

»Ja. Er muss sie gefunden haben, als er nach Hause kam. Er sollte zum Abendessen zu Hause sein.«

Paige hatte ihn beinahe vergessen, weil er bis zum vergangenen Jahr keine große Rolle in ihrem Leben gespielt hatte. Ihre Mutter hatte sie gemanagt, und ihr Vater war seiner Arbeit nachgegangen. Er war immer nur in der Kanzlei gewesen und hatte sich um die Vermögensangelegenheiten der Familie gekümmert, bis Paige ihm erklärt hatte, sie habe genug von ihrer Mutter und wolle ausziehen. Das hatte ihn aufgerüttelt.

»Ich habe ihn heute im Büro angerufen, und er hat gesagt, er würde abends da sein. Er meinte, ich soll dich zu Hause lassen und allein zum Essen kommen, und ich habe es versprochen. Er sagte, er würde mich dann um sieben sehen.«

»Dein Vater kommt also nach Hause und findet deine Mutter auf dem Boden. Was wird er tun?«

»Keine Ahnung, woher soll ich das wissen?« Paige merkte, wie ihre Stimme ganz hoch wurde, wie die eines kleinen Mädchens. Wegen dieser Piepsstimme wurde sie nicht für Fernsehspots gecastet, und auch ihrer Stimmtrainerin war es nicht gelungen, ihr eine tiefere Lage anzugewöhnen. Das hatte ihre Mutter fast zum Wahnsinn getrieben.

»Wird er denken, dass du es getan hast?«

»Vielleicht«, sagte sie zögernd.

Trevor machte ein besorgtes Gesicht. »Wird er dich bei der Polizei verraten?«

Paige kannte ihren Vater nicht sehr gut, aber sie wusste die Antwort auf diese Frage. »Niemals.«

Und wenn du nicht die Wahrheit sprichst

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