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Mit Lasse und Goldie auf vier Rädern

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Am nächsten Nachmittag kurz nach vier Uhr klopfte es an meiner Tür.

„He“, sagte Kicki und steckte vorsichtig ihren Kopf herein. „Wie geht es dir?“

Meine Wohnung bestand aus einem gemütlichen Zimmer, einer riesengroßen Küche und einem winzigen Bad. Nebenan befand sich der Stall für meine Pferde – das heißt, jetzt besaß ich nur noch ein Pferd.

„Wie soll es mir schon gehen“, antwortete ich. Ich lag auf meinem Bett und starrte an die Decke.

„Hast du etwas gegessen?“ wollte Kicki wissen.

„Ich habe keinen Hunger.“

Kicki setzte sich auf einen Stuhl neben mich: „Soll ich deinen Reitunterricht heute abend übernehmen?“

„Wieso? Ach ja, Reitunterricht …“ Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Ich hatte auch nichts vorbereitet. „Willst du das? Das ist sehr lieb von dir“, sagte ich dankbar. „Das Reitbuch mit den Namen liegt auf dem Küchentisch.“

Kicki schloß die Tür hinter sich. Ich war wieder allein.

Ich hörte Autos, die ankamen und wieder wegfuhren: Eltern brachten ihre Kinder. Abends wimmelte es immer von Menschen in der Reitschule. Ich dachte an meine kleinen Schüler, deren Reitunterricht jetzt begann. Ich stellte mir vor, wie sie anschließend sorglos und glücklich ihre Lieblingspferde verwöhnten …

Wieder knarrte meine Tür. Ehe ich aufstehen konnte, sprang Lasses Schäferhündin herein und leckte mir vor Freude das Gesicht.

„Hör auf! Das kitzelt.“

Lasse stiefelte in die Küche.

„Aufstehen! Wir wollen etwas Eßbares für dich machen!“

„Sieh mich bitte nicht an“, murmelte ich verlegen und flüchtete ins Badezimmer. Meine Haare waren zerzaust und meine Augen rotgeweint.

„Ich kann nichts essen“, rief ich und bürstete meine Haare.

„Unsinn“, widersprach Lasse. „Ich brate jetzt Eier, Wurst und Kartoffeln mit Kümmel. Dazu trinken wir Hagebuttentee.“

„Ist das meine oder deine Küche?“ brummte ich.

„Jemand muß sich schließlich um dich kümmern“, meinte Lasse und stellte die Bratpfanne auf den Herd.

Es schmeckte herrlich. Erstaunlicherweise fühlte ich mich viel besser, nachdem ich etwas gegessen hatte.

„Du kannst richtig gut kochen“, gab ich neidvoll zu.

„Ich habe eine Idee“, antwortete Lasse. „Wir fahren jetzt zu mir. Dann kannst du Cayenne näher kennenlernen.“

„Meinetwegen“, sagte ich. Es war wunderbar, daß Lasse sich so um mich kümmerte. Aber das könnte ich ihm nie sagen. „Heißt dein Fuchs Cayenne? Hatte dein Bruder nicht vor ein paar Jahren ein braunes Vollblut, das so hieß?“

„Ja“, nickte Lasse. „Das wird jetzt auf Jägersruh trainiert. Mir gefiel der Name so gut.“

Draußen war es kalt und stürmisch.

„Ist das dein Auto?“ fragte ich.

„Nein“, Lasse schüttelte entrüstet den Kopf. „Glaubst du vielleicht, ich bin über Nacht Millionär geworden? Ich verbrauche fast mein ganzes Geld für Cayenne. Das Auto gehört meinem Onkel. Er wollte es mir eigentlich nicht geben. Ich mußte ihm versprechen, so schnell wie möglich zurückzukommen. Hoffentlich hat inzwischen niemand angerufen, daß ein Schwein niest, eine Kuh kalbt oder ein Schaf sich nicht scheren lassen will. Komm, wir müssen uns beeilen. Ich habe nur einen uralten Volkswagen. Aber der hatte heute keine Lust anzuspringen.“

Goldie kletterte auf den Rücksitz, und ich setzte mich neben Lasse.

„Warum heißt sie Goldie?“ wollte ich wissen. „Das klingt so sanft für einen Schäferhund.“

„Schäferhunde sind sanft“, wandte Lasse ein. „Natürlich gibt es Ausnahmen. Aber leider glauben viele Menschen, alle Schäferhunde seien unzuverlässig und bissig.“

„Ich mag Schäferhunde sehr“, antwortete ich und kraulte Goldie hinter den Ohren.

Wir bogen in eine Allee mit alten knorrigen Bäumen ein. Ich konnte nicht erkennen, was es für Bäume waren. Es war dunkel und die Äste waren laublos.

Rechts vor uns tauchte im Scheinwerferlicht ein Warnschild auf: „Vorsicht Wildwechsel!“

Lasse fuhr langsamer. Die mächtigen Baumstämme zogen wie stumme, geisterhafte Zeugen einer längst vergangenen Zeit an uns vorüber.

„Im Sommer muß die Allee wunderschön aussehen“, sagte ich verträumt zu Lasse.

Ehe Lasse antworten konnte, versuchte plötzlich etwas Dunkles unmittelbar vor uns über die Straße zu laufen. Lasse trat voll auf die Bremse. Aber der Asphalt bot den Reifen keinen Widerstand: Der beißende Wind mußte die nasse Straße in eine spiegelglatte, verhängnisvolle Eisbahn verwandelt haben. Der rechte Straßengraben schien drohend auf uns zuzukommen. Plötzlich traf ein dumpfer Schlag den rechten, vorderen Kotflügel, und der Wagen wurde in die andere Richtung geschleudert. Ich klammerte mich verzweifelt an das Armaturenbrett, um mich irgendwo festzuhalten. Im gleichen Augenblick stieß ich mit dem Kopf gegen eine kalte und harte Kante.

Das Auto wurde zu einem Karussell, das sich in wahnsinniger Geschwindigkeit um die eigene Achse drehte. Es drehte sich immer schneller, bis es vom Boden abhob und sich den Baumkronen näherte, über sie hinausstieg und schließlich – langsamer werdend – über den Wald schwebte.

„Britta! Britta! Ist dir etwas passiert?“

Was war das für eine Stimme? Befand sich noch jemand in meinem Karussell?

„Bitte, liebe Britta, mach doch endlich die Augen auf!“

So ein Unsinn. Meine Augen waren doch offen: Ich sah ganz deutlich den dunklen Wald tief unter mir. Warum klang die Stimme eigentlich so aufgeregt?

„Nicht doch! Was soll denn das?“ schimpfte ich. Etwas Nasses und Kaltes bedeckte plötzlich mein Gesicht. Dieses nasse und kalte Etwas hüllte auch mein Karussell ein, so daß es die Balance verlor und zur Erde stürzte.

Ich schrie und – schlug die Augen auf. Lasse beugte sich über mich und rieb mein Gesicht mit einem Stückchen Eis ab …

„Lasse“, flüsterte ich.

„Britta! Gott sei Dank! Du lebst!“

„Ich friere. Warum hast du mich denn mit Eis eingerieben?“ fragte ich verwundert.

„Weil du ohnmächtig warst“, erklärte Lasse. „Oder wäre es dir lieber gewesen, ich hätte dir ein paar Ohrfeigen verabreicht, um dich wieder zur Besinnung zu bringen?“

Wir mußten beide lachen.

„Was ist denn eigentlich passiert?“ wollte ich wissen und richtete mich auf.

„Ich mußte plötzlich scharf bremsen“, berichtete Lasse. „Ich hatte keine Ahnung, daß die Straße hier vereist war, und kam ins Schleudern. Ich habe natürlich durch Gegenlenken versucht, das Schlimmste zu verhüten. Aber viel konnte ich nicht ausrichten. Es war spiegelglatt. Der Wagen drehte sich im Kreis und rutschte schließlich auf einen dicken Baumstamm zu, der ihn zum Stehen brachte. Du bist offenbar mit dem Kopf aufgeschlagen. Hast du Kopfschmerzen?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht. Aber mir ist schrecklich kalt“

Während Lasse auf dem Rücksitz nach einer Decke suchte, hörte ich plötzlich ein leises Winseln und eine warme, feuchte Zunge leckte mein kaltes Gesicht.

„Goldie“, rief ich glücklich und kraulte sie hinter den Ohren. „Wie geht es dir?“

„Sie scheint den Unfall gut überstanden zu haben“, antwortete Lasse und hüllte mich in eine warme Wolldecke ein. „Ist es so besser?“

„Wunderbar“, nickte ich dankbar. Ich kuschelte mich in die Decke und versuchte, meine Gedanken und die vielen Eindrücke der letzten Minuten zu ordnen. Lasse, Goldie und ich schienen wohlauf zu sein. Das war das Wichtigste.

„Was ist mit dem Wagen?“ fragte ich erschrocken. „Er gehört doch deinem Onkel und …“

„Du darfst dich jetzt nicht aufregen“, unterbrach mich Lasse. „Ich hoffe, das Auto ist noch fahrtauglich. Ich sehe gleich einmal nach.“

Nachdem Lasse den Wagen mit Hilfe einer Taschenlampe gründlich untersucht hatte, kam er wieder herein und setzte sich neben mich auf den Fahrersitz.

„Sieht schlimmer aus, als ich dachte“, berichtete er und runzelte die Stirn. „Hinten ist alles in Ordnung. Aber die beiden vorderen Kotflügel … Der linke ist so eingedrückt, daß er das Rad blockiert. Wir können nicht fahren.“

Ich stellte mir das Auto als total verbeultes Wrack vor, und vor meinen Augen erschien Lasses Onkel überlebensgroß: er schimpfte wild und drohte wütend mit dem Zeigefinger.

Ich mußte ein ziemlich entsetztes Gesicht machen, denn Lasse fragte: „Siehst du Gespenster?“

„Nein, nur deinen Onkel“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

„Tja, erfreut wird er nicht gerade sein“, seufzte Lasse. „Ich muß eben versuchen, die Reparaturkosten von meinem Taschengeld abzustottern.“

„Dabei helfe ich dir“, erklärte ich sofort. „Reich bin ich nicht, aber …“

„Kommt gar nicht in Frage“, protestierte Lasse. „Schließlich habe ich den Unfall verursacht. Du kleines Küken besitzt ja noch nicht einmal den Führerschein“, hänselte er mich.

„Aber du hast den Unfall doch gar nicht verschuldet.“ Ich erinnerte mich wieder ganz genau an die Minuten vor dem Unfall. „Du hast das Warnschild beachtet und fuhrst langsam, als überraschend irgend etwas Dunkles über die Straße wollte …“

„Natürlich“, rief Lasse erschrocken. „Daran habe ich gar nicht mehr gedacht. Wir müssen sofort nachsehen, ob jemand verletzt ist. Komm, Goldie.“

Wir kletterten alle drei aus dem Auto, und während Lasse und ich mit der Taschenlampe die Straße ableuchteten, rannte Goldie schnüffelnd und zielstrebig zum Straßenrand. Plötzlich blieb sie stehen und bellte ganz aufgeregt. Wir eilten zu ihr. Im Licht der Taschenlampe erblickten wir ein Rehkitz, das verzweifelt darum kämpfte, sich auf seine kleinen Läufe zu erheben. Nach kurzer Anstrengung sank es erschöpft zu Boden und sah uns aus großen, ängstlichen Augen hilfesuchend an.

„Ruhig, Goldie“, sagte Lasse und beugte sich über das Reh. „Die Hinterläufe sind blutig. Und wahrscheinlich auch gebrochen“, stellte er fest. „Es muß mit ihnen unter die Räder gekommen sein.“

Das Reh unternahm einen weiteren hoffnungslosen Versuch aufzustehen.

„Na, na, schon gut“, sagte Lasse mit sanfter Stimme und strich dem armen Tier beruhigend über das Fell. „Wir müssen es so schnell wie möglich zu meinem Onkel bringen. Aber wie? Mit bloßen Händen schaffe ich es unmöglich, den verbeulten linken Kotflügel so weit zurechtzubiegen, daß er das Rad nicht mehr behindert.“

„Liegt nicht vielleicht irgendein Stock oder eine Zange im Kofferraum?“ überlegte ich.

„Britta, du bist ein Genie“, lobte Lasse. „Warum bin ich darauf nicht selbst gekommen? Mit dem Wagenheber müßte es gehen.“

„Halt“, rief ich Lasse nach, der schon zum Auto zurücklaufen wollte. „Erst müssen wir uns um das Kitz kümmern. Oder hast du alles vergessen, was du im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hast?“

„Britta, du hast schon wieder recht“, staunte Lasse. „Ich hole schnell den Verbandskasten und versuche, das Auto etwas näher heranzuschieben, damit wir im Scheinwerferlicht besser sehen können.“

Ich kniete mich neben das Reh und streichelte den kleinen, hilflosen Körper. Dabei spürte ich, wie sein Herz unter meinen Händen noch aufgeregter klopfte.

„Du brauchst doch keine Angst zu haben“, flüsterte ich. „Ich bin nicht dein Feind. Ich tue dir nichts.“

Goldie schlich näher.

Zuerst beschnupperte sie das fremde Wesen neugierig, dann winselte sie leise und stupste es ganz vorsichtig. Als das Kitz daraufhin vor Schreck wieder zu entkommen versuchte, leckte Goldie es zart und sanft mit ihrer Zunge, um es zu beruhigen. Das kleine Reh hatte Goldies Mutterinstinkte geweckt.

Lasse traute seinen Augen nicht, als er im Scheinwerferlicht des Autos, das er auf der glatten Straße ohne allzugroße Mühe näherschieben konnte, diese zärtliche Hilfsbereitschaft erblickte.

„Ist Goldie nicht wunderbar?“ strahlte ich. „Sie hat das Kleine in wenigen Minuten so beruhigt, daß es nicht mehr zittert und beinahe eingeschlafen ist.“

„Dann wird es dir ja nicht mehr schwerfallen, deine Erste-Hilfe-Kenntnisse sachkundig und perfekt wie eine richtige Krankenschwester anzuwenden“, neckte Lasse mich und überreichte mir den Verbandskasten.

„Spotte nicht, sondern bring mir lieber vier kräftige Zweige, damit ich die Läufe schienen kann“, erwiderte ich.

Während Lasse gehorsam mit seiner Taschenlampe in den Wald stapfte, zerschnitt ich zwei Mullbinden in mehrere gleichlange Stücke.

Dank Goldie hatte sich das Kitz so weit entspannt, daß es sich kaum noch wehrte, als wir seine Läufe notdürftig schienten. Ich bildete mir ein, fast so etwas wie Zutrauen und Dankbarkeit in seinen immer noch ängstlichen Augen zu sehen.

„Ich messe jetzt meine Kräfte mit dem verbeulten Kotflügel“, meinte Lasse. „Gehe ich als Sieger hervor, betten wir das Reh in den Kofferraum und transportieren es so schnell wie möglich zu meinem Onkel.“

„Ich setze auf Sieg“, sagte ich zuversichtlich. Ich ging ebenfalls zum Wagen und richtete im Kofferraum ein behelfsmäßiges, aber weiches Lager ein. Goldie bewachte unterdessen unseren kleinen Patienten.

Lasse wurde rasch mit dem Kotflügel fertig. Aber als wir das Reh gemeinsam hochhoben, erwartete uns eine böse Überraschung: Das Tier blutete heftig aus einer offenbar tiefen Wunde am Oberlauf. Bisher hatte das Reh nur auf einer Seite gelegen und deshalb hatte ich diese Verletzung nicht gesehen. Vielleicht blutete die Wunde auch nur durch die Bewegung stärker.

„Desinfizieren und abbinden“, schlug Lasse vor. „So können wir nicht fahren.“

„Desinfizieren?“ rief ich entrüstet. „Man sollte nicht glauben, daß du der Neffe eines Tierarztes bist. Falls die Wunde so tief ist, daß sie genäht werden muß, kann der Arzt das nach Verwendung eines Desinfektionsmittels unter Umständen nicht mehr tun. Aber bring bitte schnell noch eine Mullbinde, und laß uns sicherheitshalber den Lauf oberhalb der Wunde abbinden.“

Endlich hatten wir es geschafft: Das Rehkitz lag in eine alte Decke gehüllt im Kofferraum. Neben ihm saß Goldie, die das Kleine nicht aus den Augen lassen wollte.

„Und nun?“ fragte ich ratlos. „Wir können den Kofferraum nicht offen lassen. Aber wir können ihn auch nicht schließen, weil die beiden Tiere dann keine Luft mehr bekommen.“

„Daran habe ich längst gedacht“, antwortete Lasse. „Wir ziehen das Abschleppseil einfach durch die beiden halb geöffneten Seitenfenster und schlingen es um den Kofferraumdeckel, damit er beim Fahren nicht zuklappen kann.“

„Diesmal bist du das Genie“, lobte ich ihn anerkennend.

Lasse und ich kletterten auf unsere Sitze.

„Wie viele Stunden sind eigentlich seit dem Unfall vergangen?“ fragte ich und merkte erst jetzt, wie erschöpft ich war.

Lasse sah auf die Uhr und grinste: „Genau zwanzig Minuten. Mit deinem Zeitgefühl scheint es nicht weit her zu sein.“

Ich schüttelte verwundert den Kopf. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, aber ich war zu müde, um noch weiter darüber nachzudenken.

Der Wagen rollte langsam und vorsichtig durch die Dunkelheit. Das leise, gleichmäßige Surren des Motors schläferte mich ein. Aber immer wieder zogen die Aufregungen der letzten Minuten an mir vorüber.

Wie hoch würde der Schaden am Auto wohl sein …? Wenigstens kein Totalschaden, es fuhr ja wieder. Und Lasses Onkel …? Wie würde er reagieren …? Mußte Lasse die Reparaturen von seinem Taschengeld bezahlen …? Wovon sollte er dann noch Cayenne ernähren …?

Britta und die Pferde

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