Читать книгу Britta und die Pferde - Lisbeth Pahnke - Страница 9

Ich habe Freunde gefunden

Оглавление

Der Wagen holperte über das Kopfsteinpflaster und hielt vor dem Haupteingang.

Doktor Södergren hatte den Hof erst vor kurzem gekauft. Die Nacht verschluckte das Haus, nur hinter den Fenstern leuchtete es hell und einladend. In der Diele roch es nach Kerzen und gebratenen Äpfeln. Lasses Onkel und Tante saßen in der Küche. Es war eine große, altmodische, urgemütliche Küche. Tisch und Stühle standen in der Mitte. An der Wand lud eine lange, weißgestrichene Bank mit rotweiß-karierten Baumwollkissen zum Sitzen ein. Kaffeeduft stieg in unsere Nasen.

„Euch treibt wohl der Hunger endlich nach Hause“, begrüßte uns Lasses Tante freundlich. „Setzt euch. Der Kaffee ist gerade fertig. Und Bratäpfel gibt es auch.“

„Ich wußte nicht, daß es so weit zur Reitschule ist“, sagte Doktor Södergren mit gespielter Überraschung und schaute von seiner Zeitung auf. „Gestern nachmittag kam mir der Weg ziemlich kurz vor.“

Lasse und ich blickten uns verstohlen an. Wie konnten wir ihm möglichst schonend von dem Unfall berichten?

„Ja …“, begann Lasse vorsichtig, „die Sache ist nämlich so … Wir wurden aufgehalten … Aber wir haben etwas mitgebracht …“

„Es liegt im Kofferraum und braucht dringend Hilfe.“

In meiner Stimme lag die Aufregung der letzten Stunde, und vor allem die Angst um das verletzte Reh.

Lasses Onkel legte sofort seine Zeitung zur Seite, stand auf und sah mich mit ernsten Augen an.

„Mir ist ein Reh ins Auto gelaufen“, erklärte Lasse. „Es lebt, aber …“

„Lasse konnte nichts dafür“, unterbrach ich ihn schnell. „Er drosselte nach dem Warnschild das Tempo und fuhr wirklich ganz langsam …“

„Und das soll ich euch glauben?“ fragte Doktor Södergren und schaute uns über den Rand seiner Brille mißtrauisch an. „Warum ist das Reh dann verletzt? Ihr hättet doch bremsen oder ausweichen können.“

„Das habe ich ja auch versucht“, erwiderte Lasse. „Aber der Wagen kam ins Rutschen, als ich auf die Bremse trat. Spiegelndes Glatteis.“

„Also doch zu schnell gefahren“, entschied der Tierarzt.

Er hatte natürlich recht.

Weitere Erklärungen waren zwecklos. Wir machten ein zerknirschtes Gesicht und gingen gemeinsam hinaus. Lasse und sein Onkel trugen das arme Reh behutsam in die Praxis.

„Die Wunde muß ich gleich nähen“, stellte Doktor Södergren fest, während er das Reh untersuchte. „Ihr habt die Arterie gut abgebunden. Auch die gebrochenen Läufe sind fast perfekt geschient. Unter den gegebenen Umständen hätte ich es nicht besser machen können. Wer von euch beiden war denn der Wunderdoktor?“

Ich errötete, als Lasse mich lobte, und murmelte etwas wie: … doch ganz einfach … selbstverständlich …

„Wird das Rehlein wieder laufen können?“ fragte ich dann und streichelte den kleinen, zitternden Körper.

„Das hoffe ich. Die beiden Brüche sind unkompliziert. Das Tier ist nur durch den Blutverlust ziemlich geschwächt. Aber wenn es Nahrung annimmt, kann es in zwei bis drei Monaten wieder durch die Wälder springen.“

Lasses Onkel zog zwei Spritzen auf. „Die eine ist gegen Wundstarrkrampf und die andere ist eine Betäubungsspritze“, erklärte er. „Und nun macht, daß ihr verschwindet. Ich kann euch hier nicht gebrauchen. Und nehmt vor allem Goldie mit.“

Goldie protestierte heftig, als Lasse sie am Halsband auf den Hof hinauszog.

„Komm, Goldie. Komm mit in den Stall“, sagte Lasse. „Ich muß Cayenne füttern.“

„Was für ein riesiger, alter Stall“, staunte ich. Ich erwartete mindestens zwanzig Pferde darin zu finden. Aber nur eine einzige Box war bewohnt. Cayenne wieherte zur Begrüßung. Ich sprach mit ihm und klopfte ihn freundlich, während Lasse Futter holte.

„Onkel Jonas hat sein ganzes Leben davon geträumt, auf dem Land zu leben“, erzählte Lasse und öffnete einen Ballen Heu. „Jetzt möchte er sich gern Pferde anschaffen. Er findet es jammerschade, daß der Stall so leer steht. Wer weiß, vielleicht kauft er im Frühjahr ein paar Stuten.“

Ich setzte mich auf einen alten Hocker und dachte wieder an Siboney, meine kleine Stute. Würde ich je ein eigenes großes Pferd besitzen?

„Was hast du, Britta?“ fragte Lasse besorgt und legte eine Hand auf meine Schulter. „Geht es dir nicht gut?“

„Doch, doch“, antwortete ich ausweichend. „Ich bin nur ein bißchen müde.“

„Wir gehen gleich zu meiner Tante und stärken uns mit Kaffee“, schlug Lasse vor.

„Wie alt ist eigentlich das Rehlein?“ fragte ich, um mich abzulenken und nicht mehr an Siboney zu denken.

„Soviel ich weiß, werden Rehe Anfang Juni geboren“, überlegte Lasse. „Es muß also ungefähr ein halbes Jahr alt sein.“

„Es sah noch so klein und hilflos aus“, seufzte ich. „Ich möchte oft kommen und euch bei der Pflege helfen.“

„Darüber wird sich mein Onkel bestimmt freuen. Ich natürlich auch“, lachte Lasse. „Und das Rehlein hat sich sowieso schon an dich gewöhnt.“

„Sicher gibt es eine Unmenge alter, aufregender Dinge auf diesem Hof“, überlegte ich.

„Und ob“, versicherte Lasse und brachte Cayenne frisches Wasser. „Du solltest nur den Wagenschuppen sehen. Er quillt über von abenteuerlichem Gerümpel. Ich zeige ihn dir mal bei Tageslicht.“

Das brachte mich auf eine Idee.

„Habt ihr vielleicht auch irgendwo einen alten Schellenkranz? So einen, wie man ihn früher den Pferden umhängte? Wir hätten so gern einen für unseren Luciazug.“

„Schon möglich“, meinte Lasse. „Ich werde morgen ein bißchen kramen. Vielleicht haben wir Glück …“

Der dampfende Kaffee erweckte uns zu neuem Leben, und die Bratäpfel schmeckten köstlich. Für einen Augenblick vergaßen wir sogar die Frage, die die ganze Zeit in unseren Köpfen spukte: Was würde Dr. Södergren zu seinem zerbeulten Auto sagen? Selbst im Stall hatten wir es vermieden, über dieses Thema zu sprechen.

In diesem Augenblick trat Lasses Onkel in die Küche. Er sah abgespannt aus und bat um eine Tasse Kaffee. Wir versuchten, in seinem Gesicht zu lesen, aber er verzog keine Miene. Er setzte sich zu uns an den Tisch und schwieg. Erst nachdem er einen kräftigen Schluck Kaffee getrunken hatte, begann er seinen Bericht.

„Das Reh schläft noch. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Die Wunde war nicht so schlimm, wie sie aussah.“

Ich atmete erleichtert auf.

„Und nun zu dir, Lasse“, fuhr Dr. Södergren fort. „Ich habe mir gerade mein Auto angesehen. Der linke Kotflügel läßt sich vielleicht ausbeulen. Aber der rechte muß ausgewechselt werden. Und eine neue Stoßstange ist auch fällig. Ich kann nur hoffen, daß sich bei der Vermessung kein Achsenbruch herausstellt. Dann kann ich mir für die Reparaturkosten schon fast ein neues Auto kaufen.“ Er machte eine kurze Pause und sah Lasse in die Augen. „Wie willst du für den Schaden aufkommen?“

„Ich würde dir jeden Monat mein ganzes Taschengeld geben“, murmelte Lasse. „Aber dann müßte Cayenne verhungern …“

„Typisch Mann“, mischte sich jetzt Lasses Tante energisch dazwischen. „Statt dankbar zu sein, daß die beiden noch leben und sie nach dem schweren Schock in die Arme zu nehmen und zu trösten, denkst du nur an dein Auto. Dabei fährt es sogar noch. Auf ein paar lächerliche Beulen mehr oder weniger kommt es doch wirklich nicht an.“

Lasses Onkel schmunzelte. „Kennst du mich nach so vielen Ehejahren immer noch nicht? Ich bin völlig deiner Meinung. Ich wollte dem Jungen nur eine Lehre erteilen.“

Lasse und ich schauten uns fassungslos an. Wir trauten unseren Ohren nicht.

„Bilde dir nur nicht ein, daß du völlig ungeschoren davonkommst“, warnte Dr. Södergren. Er versuchte, sehr streng zu wirken, aber in seinen Augen lauerte ein vielsagendes Lächeln. „Du wirst morgen hinter dem Stall ein kleines Gehege für das Reh bauen. Maschendraht mußt du kaufen und von deinem Taschengeld bezahlen, aber alte Bretter findest du sicher genug im Schuppen. Das Reh braucht eine Futterkrippe und vor allem eine Hütte, in der es warm und sicher liegt. Außerdem wirst du für seine Verpflegung aufkommen. Ich glaube nicht, daß Cayenne deshalb verhungern muß“, meinte Lasses Onkel, der ein verschmitztes Lächeln jetzt nicht mehr verbergen konnte.

Nach diesem unerwartet glücklichen Ausgang schmeckte der Kaffee noch mal so gut. Wir saßen noch lange um den Tisch und plauderten über alles mögliche.

„Meinen Wagen kann ich dir vorläufig wohl nicht mehr anvertrauen“, bemerkte Dr. Södergren und sah Lasse leicht strafend an. „Also werde ich die junge Dame nach Hause fahren.“

„Was meinst du?“ fragte Lasse seine Tante augenzwinkernd. „Können wir ihm Britta mit ruhigem Gewissen überlassen?“

Ich verabschiedete mich und bedankte mich herzlich bei Lasse und seiner Tante. Als Dr. Södergren mich nach Hause fuhr, kam mir die Welt nicht mehr so schwarz und traurig vor: Ich hatte Freunde gefunden. Ich war mit meinen Problemen nicht mehr allein.

Silber stand nun schon zwei Tage allein im Stall. Seit Siboney weg war, hatte er keinen Hafer mehr angerührt. Dabei war er sonst das verfressenste Pferd, das ich kannte. Er schlang den Hafer in sich hinein und hob den Kopf erst wieder, wenn auch das letzte, kleinste Haferkorn in seinem großen Bauch verschwunden war. Jetzt zertrampelte er den Hafer und verstreute ihn wütend über den ganzen Boden. Er sprang ungeduldig in der Box vor und zurück, wieherte laut und bäumte sich gegen die Boxtür auf. Er ließ sich durch nichts besänftigen.

Ich verstand sehr gut, wie Silber zumute war. Er vermißte Siboney genauso wie ich. Schließlich wußte ich mir keinen Rat mehr. Ich bat Hasse und Thomas um Hilfe. Die beiden trugen die Verantwortung für den Reitstall und bestimmten alles. Sie schlugen mir vor, Billy aus dem großen Stall zu holen und in Siboneys Box zu stellen, damit Silber nicht so allein sei. Tatsächlich. Silber beruhigte sich und begann wieder zu fressen. Ich freute mich auch darüber, daß Billy jetzt in meinem Stall stand. Es war nicht gerade angenehm gewesen, jeden Morgen zum Ausmisten und Füttern in den Stall zu kommen und immer wieder auf die leere Box neben Silber zu starren …

Am Tag vor dem Luciafest kam Lasse. Er erzählte vom Rehlein, dem es mit jedem Tag besser ging. Es entwickelte schon einen recht beachtlichen Appetit.

„Goldie ist immer noch verrückt nach ihm“, berichtete Lasse. „Die beiden sind unzertrennlich. Goldie gab keine Ruhe, bis ich ihre Hundehütte ins Gehege stellte, damit sie auch nachts auf ihren neuen Freund aufpassen konnte.“

„Und das Auto?“ fragte ich.

„Zum Glück kein Achsenbruch“, antwortete Lasse erleichtert.

„Zwei gute Nachrichten auf einmal“, freute ich mich. „Ein Glück kommt selten allein.“

„Oder: Alle guten Dinge sind drei“, lachte Lasse. „Ich habe euch nämlich noch etwas mitgebracht: Einen Schellenkranz!“

„Du hast tatsächlich einen richtigen Schellenkranz gefunden“, rief ich begeistert. Am liebsten hätte ich ihn vor Freude umarmt. „Thomas! Sieh mal! Diesen wunderbaren Schellenkranz können wir morgen Rauhbein umhängen.“

Alle liefen herbei, um den Schellenkranz zu schütteln und den Klang seiner Glocken zu bewundern.

„Was hast du dir da für einen netten Jungen geangelt“, hänselte mich Kicki später.

„Wieso geangelt“, murmelte ich mit hochrotem Kopf. „Lasse kenne ich schon seit vielen Jahren.“

„Verdammt“, sagte Thomas. „Jetzt hätte ich beinahe etwas Wichtiges vergessen.“

„Was denn?“ wollten Kicki und ich gleichzeitig wissen.

„Ich muß Lasse noch fragen, ob er morgen mitreitet. Dann hätten wir zwei Füchse an der Spitze des Zuges und Kicki kann auf Lord Peter neben Patrik hinter dem Schlitten reiten …“

„Ich soll Lord Peter reiten? Und wen willst du reiten?“

Kicki sah aus wie ein lebendes Fragezeichen.

„Ich wollte mir die große Ehre zuteil werden lassen, den Schlitten mit Lucia zu lenken“, grinste Thomas. „Du kannst natürlich auch Agnetas Pferd reiten …“

„Niemals“, protestierte Kicki.

„Also abgemacht“, entschied Thomas. „Dann brauche ich nur noch Lasses Zustimmung.“

„Hoffentlich fällt bis morgen noch etwas Schnee“, meinte ich besorgt. „Sonst wird es für Rauhbein schwer, den Schlitten zu ziehen.“

„Dafür muß Thomas sorgen.“ Kicki war immer noch ziemlich sauer. „Er kann doch sonst alles so vorzüglich organisieren.“

In diesem Augenblick kam Hasse zu uns in den Stall.

„Ich habe die Fackeln für morgen“, berichtete er. „Und für diejenigen, die auf den großen Pferden reiten, weiße Zottelpelze.“

„Ich als Kutscher kann meinen grauen Pelz anziehen“, schlug Thomas vor. „Britta und die Ponyreiter sollten nach Möglichkeit rote Jacken tragen.“

„Damit wir wie Heinzelmännchen aussehen“, lachte ich. „Aber das läßt sich machen. Die meisten haben rote Jacken und die anderen können sich welche ausleihen.“

„Apropos Heinzelmännchen. Wir brauchen einen starken Heinzeimann, der Billy am Zügel führt.“

„Pah“, widersprach Martin bockig. „Wieso darf ich plötzlich nicht allein reiten?“

Hasse und Thomas hielten an ihrer Meinung fest. Ich stimmte ihnen auch zu.

„Wenn du nicht einverstanden bist, bleibt Billy im Stall“, bestimmte Hasse. „Wir wissen alle nur zu gut, wie unberechenbar Billy ist. Wenn er Lust hat, brennt er plötzlich in Richtung Stall durch und reißt die anderen Pferde mit sich. Den Luciazug können wir dann streichen.“

Martin murrte zwar, aber er mußte sich fügen.

„Ich fahre schnell zu Dr. Södergren und spreche mit Lasse“, erklärte Thomas. „Kommst du mit, Kicki?“

Britta und die Pferde

Подняться наверх