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6.

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Horst Griebsch war in Hochstimmung, nachdem das Interview in der Frankfurter Zeitung erschienen war. Sein Name war jetzt der eines Experten. Sogar aus dem Ministerium rief man ihn an, man interessierte sich für seine Meinung. Hellman hatte es sich nicht verkniffen, in einer Runde mit Arnold und Krantz über ihn zu lästern, aber Krantz schien Griebsch das Interview nicht weiter übel zu nehmen und kommentierte es auch nicht. Arnold, der ein Gespür für Machtfragen hatte, hielt sich an Krantzens Linie.

Krantz schien ihn endlich zu respektieren, dachte Griebsch. Er fühlte sich ermutigt, seinen eingeschlagenen Weg weiter zu gehen. Bald ergab sich eine neue Gelegenheit dazu. Anfang Februar erhielt Griebsch eine Einladung zu einem Vortrag bei einer internationalen Konferenz, veranstaltet von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD. Das Thema über Bioterrorismus schien genau auf ihn zugeschnitten: The bioterrorist threat as a challenge to the modern society. Die Liste der Referenten war beeindruckend. Tagungsort war die alte Kaiserstadt Kyoto in Japan. Genau seine Kragenweite. Allerdings musste er sich seine Teilnahme noch von Krantz absegnen lassen. Er rief im Sekretariat des Direktors an und bekam zu seiner Überraschung sofort einen Termin.

Nachdem er Krantz die Einladung vorgelegt hatte, schaute ihn dieser etwas spöttisch an, um zu bemerken: „Und Hellman, ist der nicht eingeladen?“

Griebsch riss seine Augen auf. Es klang, als ob Krantz Hellman und nicht ihn zu dieser Tagung schicken wollte. Krantz räusperte sich, schwieg und schien durch die Einladung, die er immer noch in der Hand hielt, hindurchzublicken. Griebsch hatte sich gerade einige Worte zurechtgesetzt, mit denen er Krantz bearbeiten wollte, als dieser ihn ansah und sagte: „Gut, einverstanden. Ich gehe davon aus, dass Sie das IEI bei dieser wichtigen Tagung entsprechend vertreten, Herr Kollege! Einige der Teilnehmer kenne ich persönlich, also machen Sie uns keine Schande.“

Bevor Griebsch noch etwas sagen konnte, hatte Krantz schon seinen Antrag auf Dienstreise unterschrieben, ihm die Hand gegeben und damit das Gespräch beendet. Griebsch stand vor der Tür des Präsidialbüros und schlug vor Freude seine Hände zusammen. „Herr Kollege!“, hatte Krantz gesagt. Arnolds Sekretärin, Frau Schupelius, lief im Flur an ihm vorbei und schaute ihn erschreckt an. Beschwingt wie auf Flügeln eilte Griebsch zurück in sein Büro.

Jetzt galt es, Nägel mit Köpfen zu machen, und zwar sofort. Die Konferenz sollte schon in drei Wochen stattfinden. Horst Griebsch ließ sich von der Institutsverwaltung seine Reise organisieren und bestellte Beatrix Nagel umgehend zu sich. Von der Tagung erzählte er ihr nichts, sondern erbat sich von ihr eine Präsentation zu den Rizinarbeiten. Beatrix akzeptierte das, ohne nach dem „Warum und wofür“ zu fragen. Sie hatte ihn auch nie auf das Interview angesprochen, denn sie war der Überzeugung, dass er sich auf diese Weise für die AG-Toxine einsetzte. Vier Tage später übergab sie ihm die Präsentation. Als Griebsch die Folien am Computer betrachtete, empfand er sie als zu nüchtern. Sie enthielten zu viel Fachchinesisch und erschienen ihm nicht brisant genug. Er gestaltete sie um, sodass sie zu seinen eigenen Ausführungen passten und seine führende Rolle bei den Arbeiten betonten. Jetzt hatte er die Präsentation so stark verändert, dass er Beatrix Nagel nicht weiter erwähnen musste, und setzte stattdessen nur sich selbst als Verfasser ein.

Die Konferenzsprache war Englisch und Griebsch hatte den Titel seines Vortrags schon vor Augen: Ricin as a potential bioterrorist weapon, new vaccination strategies (1). Er schaute zufrieden auf die Titelfolie mit der fetten Überschrift, der Hintergrund war dunkelblau gehalten. Das hatte doch Stil! Horst Griebsch summte zufrieden vor sich hin.

Er wollte es sich auch nicht nehmen lassen, Hellman persönlich von seiner Einladung in Kenntnis zu setzen. Unter einem Vorwand ging er in dessen Büro und bat darum, ihn während seiner Abwesenheit zu vertreten. Hellman lächelte säuerlich, als Griebsch ihm von der Einladung berichtete. Es schien ihn aber auch nicht sonderlich zu überraschen, wahrscheinlich hatte Krantz ihn bereits darüber in Kenntnis gesetzt. Hellman schob sich ein Stück Schokolade in den Mund und komplimentierte Griebsch mit ein paar Floskeln wieder hinaus.

Die Tage bis zum Abflug vergingen schnell. Die Konferenz sollte zwei Tage dauern und am Freitagmittag, den 4. März, beendet sein. Seinen Rückflug hatte Griebsch so organisiert, dass er am Samstag für einen Tag Aufenthalt in Singapur hatte. So hatte er noch Zeit, Kyoto anzuschauen, um danach in Singapur shoppen zu gehen.


Am 1. März saß Griebsch im Flugzeug von Frankfurt nach Singapur. Er war froh, das verschneite Berlin zu verlassen, um in Kyoto berühmt zu werden. In seiner Aktentasche steckte sein Vortrag, er holte die Papiere heraus und blätterte immer wieder in den Folien. Sein Sitznachbar schielte herüber, schien beeindruckt, wahrscheinlich hatte er Worte aus dem Vortrag mitgelesen. Griebsch driftete ab in seine Gedankenwelt. Sein Ansehen würde wachsen und seine Position im IEI endgültig zementiert werden. Hellman konnte dann auch nicht mehr darum herumkommen. Wie säuerlich der geguckt hatte, als er in sein Büro kam. Und Krantz? Der konnte ihn jetzt auch nicht mehr übergehen, so wie bei der letzten Pressekonferenz. Dem schien es ja plötzlich ganz recht zu sein, dass Horst Griebsch so viel Eigeninitiative entfaltete. Vielleicht war er von Hellman enttäuscht? So ist Krantz, dachte Griebsch, er spielt die Leute gegeneinander aus. Aber ich habe ihn durchschaut und ihn dazu gebracht, das zu machen, was ich möchte. Bei diesem Gedanken war er richtig mit sich zufrieden und bestellte sich, als die Stewardess vorbeilief, ein Glas Sekt.


Nach fast zehn Stunden Flug landete die Maschine in Singapur, Changi Airport. Horst Griebsch fühlte sich wie gerädert. Es war schon eine Zumutung, dass vom Institut nur Economy Tickets erstattet wurden. Business Class wäre für ihn als Vertreter Deutschlands bei so einer wichtigen Konferenz angemessen gewesen. Sein Vordermann hatte die Rückenlehne während des Fluges weit zurückgeklappt und Griebsch in seiner Bewegungsfreiheit fast völlig eingeschränkt. Als er mit steifen Schritten aus dem Flugzeug ins Freie trat, kam ihm ein Schwall tropischer Luft entgegen, 28 °C. In Berlin hatte das Thermometer 3 °C über null angezeigt. Das Wetter brachte ihn in eine bessere Stimmung. In Singapur hatte er zwei Stunden Aufenthalt bis zu seinem Weiterflug nach Osaka. Er schlenderte durch die mit Palmen bepflanzte, lichtdurchflutete Halle des Flughafens. Erstaunlich, wie günstig es hier Elektronik zu kaufen gab. Gut, dass er für den Rückflug einen Tag Aufenthalt in dieser Stadt eingeplant hatte. Griebsch war müde und es lagen noch sechs Stunden Flugzeit bis Japan vor ihm. Und dann musste er noch den Schnellzug von Osaka bis Kyoto nehmen.

Bei der Landung in Osaka war es früh am Morgen. Durch die neun Stunden Zeitdifferenz fühlte er sich wie am späten Abend. Er musste noch den ganzen Tag durchhalten, um sich an den neuen Tagesrhythmus zu gewöhnen und zu Konferenzbeginn fit zu sein. Zum Glück war der Bahnhof nicht weit vom Flughafen. Der Haruka Express, die Zugverbindung nach Kyoto, war zum Glück in Englisch ausgeschildert. In der Bahn döste Griebsch in seinem Sitz am Fenster und ließ die Stadtlandschaft von Osaka an sich vorbeiziehen. Die futuristisch anmutenden Hochhäuser und die mehrstöckigen Autobahnen, die sich durch die Stadt schlängelten. Platz war hier Mangelware, auf den Hochhausdächern gab es Sportplätze, selbst die Flächen unter Eisenbahnbrücken und Autobahnunterführungen wurden landwirtschaftlich genutzt. Zwischen Osaka und Kyoto fuhr der Zug durch eine zersiedelte Vorortlandschaft. Freies Land gab es auch hier nicht, dafür Einfamilienhäuser mit Gärten, in denen Kohl und anderes Gemüse angepflanzt waren.

Hai!“ (2). Ein lauter Schrei ließ Griebsch aufschrecken. Er schob sich aus seinem Sitz hoch und drehte sich um. Im Durchgang zwischen zwei Waggons stand ein uniformierter Fahrkartenkontrolleur, der sich noch einmal mit einem militärisch zackigen „Hai“ und einigen Verbeugungen ankündigte, um dann seinen Gang durch den Großraumwagen anzutreten. Jeder Fahrgast wurde mit so einem „Hai“ und einer schnellen Verbeugung begrüßt und das alles nur, um den Fahrschein zu kontrollieren. Griebsch wurde munterer. Das zackige Auftreten des Mannes und die Beflissenheit der Fahrgäste flößten ihm Respekt ein. Zum Glück hatte er gleich seine Fahrkarte parat. Was würde dieser Samurai mit ihm anstellen, wenn nicht? Als der Zug im Hauptbahnhof von Kyoto hielt, sah Griebsch beim Aussteigen das gesamte Zugpersonal auf dem Bahnhof Spalier stehen, um die Fahrgäste mit lauten Rufen und vielen Verbeugungen zu verabschieden. Griebsch winkte den Männern und Frauen gönnerhaft zu, hielt aber inne, als er sah, wie ihn die anderen Fahrgäste erstaunt ansahen.

So müssten die Abteilungsleiter im IEI begrüßt und verabschiedet werden. Auch Schneider müsste dann für ihn Spalier stehen. Diese Vorstellung brachte ihn zum Lachen. Aber Krantz war zu sehr Leisetreter, als dass ihm so etwas gefallen würde. Der Herr Direktor bevorzugte Diskretion.


Auf dem Platz vor dem Bahnhof stieg er in ein Taxi. “Kyoto Royal Hotel“, rief er dem Fahrer zu. Als sie losfuhren, bekam er einen Schreck, aber in Japan galt Linksverkehr und der schon befürchtete Unfall fand nicht statt. Das Hotel war mitten im Stadtzentrum gelegen, ein klotziger, achtstöckiger Neubau. Der Fahrer entließ ihn unter der überdachten Einfahrt. Beim Einchecken ärgerte sich Horst Griebsch, weil die Hotelangestellten seinen Namen nicht richtig verstanden. Sein Englisch war doch gut! Als er anfing, ihn mit lauter Stimme zu buchstabieren, bemerkte er, wie sich in der Mimik der Hotelangestellten eine Mischung aus Entsetzen und Faszination widerspiegelte. Schließlich bekam er ein Zimmer im 6. Stock.

Nachdem er seine Sachen verstaut hatte, schaute er auf den Stadtplan. Der war auf Englisch und somit lesbar für ihn. Das Hotel lag dicht an der Untergrundbahn, der Tozai-Line. Morgen musste er diese Bahn nehmen, um zum KICH, der Kyoto International Conference Hall zu gelangen, wo die Konferenz stattfinden sollte.

Inzwischen war es schon Mittag und Griebsch, der im Flugzeug eingepfercht zwischen seinem Sitznachbarn und der Rückenlehne seines Vordermannes kaum zum Schlafen gekommen war, fühlte vor Müdigkeit jede Muskelfaser in seinem Körper. Er wollte aber bis zum Abend wach bleiben und verbrachte seine Zeit mit Sightseeing. Sein erstes Ziel war das Nijo-Castle, eine alte Burg aus der Shogunzeit. Faszinierend fand er den langen Flur, der das Gebäude umgab. Der Flurboden war mit Dielenbohlen versehen, in die unsichtbar Nägel eingelassen waren. Die Nägel knarrten, wenn man darüber lief, und sollten damit dem Burgherren anzeigen, an welchem Ort sich gerade jemand befand. Solche Erfindungen gefielen Griebsch und regten seine Fantasie an.

Er schlenderte weiter durch die Innenstadt von Kyoto und geriet in der Nähe des Bahnhofs in eine Pachinko-Halle (3), die er zunächst für ein Warenhaus hielt. Als Horst Griebsch durch die gläserne Tür trat, gelangte er in eine lärmumtoste Halle, die durch schmale Gassen, welche links und rechts von Spielautomaten umsäumt waren, unterteilt war. Vor den Automaten sitzend, sahen die Spieler wie hypnotisiert dem Fall Hunderter kleiner Stahlkugeln nach, die sich an Stahlstiften vorbei, wie in einem Hindernislauf, durch den Automaten bewegten. Die englische Aufschrift Million schien zu besagen, dass man etwas gewinnen konnte. Als ein lächelnder Angestellter auf ihn zukam, sich verbeugte und ihn auf Japanisch ansprach, trat Griebsch den Rückzug an. Er verließ das vermeintliche Kaufhaus fluchtartig. Auf der Straße ließ er sich weiter treiben. Es gab so viele Radfahrer hier, das hatte er in Japan nicht erwartet. Die Leute auf der Straße blickten ihn nicht an, schenkten ihm anscheinend keine Aufmerksamkeit, obwohl nur wenige Ausländer in dieser Stadt zu sehen waren. Als er sich einmal zufällig umdrehte, bemerkte er, dass sie dem großen und massiven Gaijin (4) neugierig hinterher schauten, sobald er an ihnen vorbei gegangen war.

Inzwischen war sein Hunger so groß geworden, dass sich ein Restaurantbesuch nicht mehr aufschieben ließ. Auf dem Weg kam er an einer kleinen Gaststätte vorbei, an deren Fensterscheibe Fotos der dort angebotenen Speisen zu sehen waren. Das gab ihm den notwendigen Mut, hier Essen zu gehen. Als er die Tür öffnete, begrüßten ihn die Angestellten im Chor mit einem vielstimmigen Konnichiwa (5) und Irasshaimase (6), als wäre er der lang ersehnte, einzige Gast. Dabei war das Restaurant, das sich von innen als kleiner Imbiss entpuppte, voller Menschen. Griebsch dachte an das Personal des Haruka Express. Wie die Leute sich hier um ihre Kunden bemühten. In Berlin wäre er bei solchen Anlässen je nach Tageszeit höchstens mit einem schnoddrigen „Morjen, Tach“, oder „n ‘Abend“, begrüßt worden.

Er deutete mit seinem Finger auf eines der abgebildeten Gerichte und bekam nach kurzer Zeit eine Schüssel, die mit Reis, auf dem dünne Streifen von Rindfleisch lagen, gefüllt war. Auf dem rechteckigen Tablett befand sich außerdem noch eine Tasse Misosuppe, eine Schale grüner Tee und ein paar Essstäbchen. Horst Griebsch beobachtete die übrigen Gäste, die in einer Reihe neben ihm an dem u-förmigen Tresen saßen. Wie sie sich hemmungslos Soßen auf ihre Gerichte kippten und mit ihren Stäbchen rosafarbene Ingwerscheiben auf den Reis platzierten. Griebsch kam nicht gut mit den Essstäbchen zurecht, man bot ihm aber kein Besteck an. So hatte er Mühe, überhaupt satt zu werden und der Gedanke an die nächsten Gäste, die geduldig auf einer Bank am Eingang auf einen Platz am Tresen warteten, beunruhigte ihn. Ob sie ihn dabei beobachteten, wie schlecht er mit den Stäbchen zurechtkam? Nachdem er seine Schüssel erst zur Hälfte leer gegessen hatte, steckte er die Stäbchen tief in den restlichen Reis, eine Geste, die in Japan traditionell dem letzten Reis für Verstorbene vorbehalten ist. Griebsch wusste das nicht und wunderte sich über das entsetzte Gesicht des Angestellten, der dieses Symbol des Todes mit missbilligendem Ausdruck schnell vom Tresen entfernte.

Inzwischen war es bereits Nachmittag. Mit dem Stadtplan in der Hand lief er langsam zu seinem Hotel zurück. Viele der der jungen Leute, die ihm begegneten, hatten ihre Haare hell gebleicht, was manchem einen gespenstischen Ausdruck verlieh. Noch ein paar Hundert Meter und Griebsch gelangte auf die Sanjo, eine Straße, die dicht an seinem Hotel vorbeiführte. Er ging auf sein Zimmer, da er sich vor Müdigkeit kaum mehr auf den Beinen halten konnte. In dem ästhetisch eingerichteten Raum fiel er auf das Bett. Schwindel überkam ihn. Er dachte an den morgigen Tag, seinen Vortrag und holte die Folienausdrucke aus seiner Aktentasche. Im Bett drehte er sich auf den Rücken, streckte beide Arme mit den Papieren nach oben, und versuchte gegen seine Müdigkeit, sich auf die Übergänge zwischen den Folien zu konzentrieren. Aber es war vergeblich. Zum Glück hatte er die Folien so gestaltet, dass er sie nur ablesen musste, wenn eine nach der anderen den Zuhörern projiziert werden würde.

Nach dem vergeblichen Kampf gegen die Müdigkeit schlummerte Griebsch ein, um mitten in der Nacht plötzlich hochzuschrecken. Sein Bett schwankte leicht hin und her, als würden sich zwei Menschen darin vergnügen. Aber er war allein, stand auf und ging verschlafen zum Fenster, um in die neonerleuchtete Nacht von Kyoto zu schauen. Nichts Auffälliges war zu sehen oder zu hören und doch schien etwas passiert zu sein. Griebsch bemerkte, dass die Papprolle mit einem Kunstdruck, den er am Nachmittag gekauft und wie einen Turm in die Mitte des Zimmers aufgestellt hatte, umgefallen war und auf dem Boden lag.

Er legte sich wieder hin. Vom Fenster her war die Sirene eines Polizei- oder Krankenwagens zu hören, die dann abflaute, um bald zu verstummen. Jetzt konnte er nicht mehr einschlafen. Die Zeitverschiebung! Er grübelte über den Vortrag und seinen morgigen Auftritt bei der Konferenz. Aus seinem Halbschlaf holte ihn die Klingel des Weckdienstes, und als Griebsch zum Fenster blickte, war es bereits Tag. Er beeilte sich und war nach zehn Minuten schon im Foyer des Hotels. Von einem Angestellten ließ er sich den Weg zum Restaurant zeigen, dort war ein Frühstücksbuffet aufgebaut. In der Schlange vor dem Endlostoaster reihte er sich hinter einem Paar ein. Sie sprachen Englisch und Griebsch konnte aus ihren Worten entnehmen, dass in der Nacht ein Erdstoß Kyoto erschüttert hatte. Das war es also gewesen, was ihn geweckt hatte! Anscheinend war aber weiter nichts passiert, im Hotel hatte er jedenfalls nichts bemerkt.

Sein Vortrag fiel ihm wieder ein. Er durfte nicht zu spät kommen, denn er wusste noch nicht, wann genau er dran war. Mit seinen zwei Toasts, Butter, Rührei und Schinken lief er in den Frühstücksraum und hatte es eilig, die Sache hinter sich zu bringen. Der Kaffee zeigte schnell seine Wirkung und Griebsch konnte jetzt wacher in die Runde der Anwesenden schauen. Da waren in schwarzen Anzügen gekleidete Japaner neben ein paar westlich aussehenden Gästen. Er selbst trug einen blauen Anzug. Würde er damit nicht zu sehr auffallen? Mit hektischer Aktivität stand er auf und beeilte sich in sein Zimmer zu kommen, um die Ledertasche mit den Unterlagen zu holen. Dann verließ er das Hotel in Richtung Untergrundbahn. Auf der ersten Kreuzung hatte er beinahe einen Unfall mit einem Abbieger, weil er zuerst nach links und dann nach rechts geschaut hatte. Schnell eilte er die Stufen zur Station Shiyakusyo-Mae hinunter, um dort unten überrascht die Obdachlosen zu sehen, die am Boden kampieren, jedoch weder bettelten noch die Fahrgäste ansprachen.

Fahrscheine gab es nur am Automaten, nach einigen Versuchen und vielen eingeworfenen Münzen löste er ein Ticket und erreichte den Zug. Während der Fahrt wuchsen seine Zweifel. Er kannte keinen der Kongressteilnehmer persönlich, nur ein paar Namen. Würde man ihn akzeptieren? Wenn sie merkten, dass vieles in seinem Vortrag nur seine eigene Annahme war? Aber dann kam ein anderer Gedanke hoch. Er würde sich einen international bekannten Namen als Experte machen, Professor Horst Griebsch, the famous ricin expert, derlei Gedanken schwirrten ihm bis zum Umsteigebahnhof durch den Kopf.

In der unterirdischen Zentralstation mit den hell erleuchteten Geschäften stieg Griebsch in eine andere U-Bahn Linie um. Nach ein paar Stationen konnte er die U-Bahn verlassen. Auf der Straße war das nahe gelegene KICH ohne Mühe zu finden. Zum Glück war er pünktlich. In der Eingangshalle des Kongresszentrums standen Tische in einer Reihe und bildeten eine Art Barriere. Auf den Tischen lagen Listen, Anstecker mit Namensschildern und dahinter saßen lächelnde weibliche Angestellte in blauen Kostümen, die für die Registrierung der Teilnehmer zuständig waren. Griebsch stellte sich in eine Reihe hinter zwei anderen Neuankömmlingen. Vor ihm stand eine jüngere Frau. Als sie sich umdrehte, bemerkte er, wie hübsch sie war. Während sie ihre Unterlagen und das Namensschild erhielt, hörte er, dass sie aus Warschau war und Anna Sozanska hieß. Als Anna mit ihrer Tasche fortgehen wollte, stand Griebsch ihr im Weg und lächelte sie an. „Griebsch“, sagte er, „from Germany.“ Anna schaute ihn erstaunt an und war verlegen. Vielleicht sollte man den kennen, dachte sie, gab ihm die Hand und stellte sich vor, bevor sie weiterlief.

Jetzt war Horst Griebsch an der Reihe. Die in Blau gekleidete Japanerin ihm gegenüber lächelte und fragte nach seinem Namen. Sein knappes „Grippsch“, verstand sie nicht, ein hilfloses Lächeln umspielte ihren Mund, während sie mit ihren schlanken Fingern über die Teilnehmerliste wanderte. Nach einer Weile sah sie zu ihm hoch und schaute ihn mit einer Miene des Bedauerns an. Griebsch durchfuhr ein Schreck. War er möglicherweise gar nicht angemeldet? Er hatte sich doch auf das Sekretariat von Arnold verlassen, auf diese Frau Schupelius! Das Blut schoss ihm in den Kopf und der Satz: „Du kannst nach Hause gehen …“, war unausgesprochen präsent. Nachdem er wiederholt seinen Namen aufgesagt und schließlich aufgeschrieben hatte, fand sie ihn doch auf der Namenliste und ebenso ihr Lächeln wieder. Mit einer Verbeugung händigte sie ihm den Anstecker mit seinem Namen und die Tasche mit den Kongressunterlagen aus.

Griebsch hängte sich die Tasche um. Er musste sich beeilen. Im Gehen befestigte er sich das Namensschild mit der Sicherheitsnadel an sein Hemd und stach sich dabei in den Finger. Das Schild wollte einfach nicht gerade hängen. Neben seinem Namen stand ein roter Punkt, der ihn als Vortragenden auswies. Hinter der Eingangskontrolle übergab er den USB-Stick mit seiner Präsentation einem Angestellten im schwarzen Anzug.

Thank you very much, Professor Griebsch.” Kannte der Mann ihn, oder hatte er nur seinen Namen gelesen? Mit einem Gefühl der Erleichterung ging Griebsch in den Hörsaal. Dort befanden sich schon einige Teilnehmer, standen und diskutierten, andere saßen auf ihren Stühlen und blätterten in den Unterlagen. Es blieben noch ein paar Minuten bis zum offiziellen Beginn. Horst Griebsch schaute sich in dem großen Saal um, durch die geöffnete Flügeltür strömten noch mehr Delegierte herein, aber Griebsch kannte keines der Gesichter und niemand schien seins zu kennen. Bevor es dafür zu spät war, setzte er sich in eine strategisch günstige Position. Ein Platz am Gang, in der dritten Stuhlreihe vor der Tribüne, die mit Tischen und einem Stehpult bestückt war. Im Hintergrund hing eine große Leinwand als Projektionsfläche für die Vorträge, jetzt war dort aber nur der Titel der Konferenz zu lesen. The bioterrorist threat as a challenge to the modern society, organized by the OECD section A/3547.

Mit einer Bewegung, die wichtig wirken sollte, öffnete Griebsch seine Tasche und zog das Kongressprogramm heraus. Tagungsbeginn war um 8:30 mit der Begrüßungsrede des Vorsitzenden der OECD-Sektion. Danach sollte der Bürgermeister von Kyoto Willkommensworte sprechen und anschließend war die Einführungsrede des Vorsitzenden des wissenschaftlichen Komitees vorgesehen. Inzwischen war der Saal schon mehr als zur Hälfte besetzt, fast hundert Teilnehmer aus achtundvierzig Staaten standen auf der Liste, die Griebsch in der Hand hielt. Er überflog die Namen und war zufrieden, nachdem er sich dort gefunden hatte. Dann kreuzte er die Namen der Teilnehmer an, die er für wichtig hielt und mit denen er Kontakt aufnehmen wollte. Wieder kämpfte er gegen die hochkriechende Müdigkeit, als er die lange Rede des Bürgermeisters von Kyoto über sich ergehen ließ. Griebsch verstand nicht ein Wort davon, denn er hatte vergessen, am Eingang Kopfhörer für die Simultanübersetzung mitzunehmen. Schließlich wechselte die Sprache wieder zu Englisch, als der Vorsitzende O’Reilly, ein knorriger Schotte mit gerötetem Gesicht und wirren Haaren, seine Einführungsrede hielt. Griebsch lehnte sich erwartungsvoll in seinen Stuhl zurück und hörte zu.

Zum Schluss seiner Ausführungen kündigte O’Reilly den Plenarvortrag an. Bei Griebsch stieg die Spannung. Die berühmte Sarah Deborah Ferguson aus Fort Detrick, Maryland, USA, betrat mit hochhackigen Schuhen die Tribüne und begann mit ihren Ausführungen zum Thema: Future aspects of the war on bioterrorism. Diese Frau musste er kennenlernen, das hatte er sich fest vorgenommen, sie war der Schlüssel zu den Kreisen, in die Griebsch gerne gelangen wollte. „Wenn ich diesen Kontakt in der Tasche habe, kann Hellman einpacken“, murmelte er vor sich hin.

Zudem sah Sarah attraktiv aus, Griebsch starrte für einen Moment zu lange auf ihre Bluse. Dr. Ferguson war eine zierliche, gut proportionierte Amerikanerin, mit langen blonden Locken und selbstsicherem Auftreten. In ihrem Vortrag machte sie allen Teilnehmern klar, welche Nation die führende Rolle im Kampf gegen den Bioterrorismus spielte. Sie lud die Vertreter aller Staaten ein, sich hinter den amerikanischen Vorschlägen zu positionieren. Griebsch nahm sich vor, Sarah kurz vor dem Lunch anzusprechen. Vielleicht ergab es sich, dass sie dann beim Mittagessen beisammensaßen. Nachdem Miss Ferguson einige Fragen aus dem Auditorium unter viel Applaus beantwortet hatte, gab sie das Rednerpult für den nächsten Vortragenden frei. Chris William Smith, aus dem Londoner Botulinum Centre, referierte zu Botulinumtoxinen. Griebsch mochte diesen distanziert auftretenden Engländer nicht, musste aber neidisch eingestehen, das Botulinum Centre war personell und apparativ viel besser ausgestattet, als seine AG-Toxine und brachte offenbar auch mehr zustande.

In London war man schon dabei, Impfstoffe gegen Botulinumtoxin zu entwickeln und Griebsch machte sich dazu schnell einige Notizen: „Bislang haben wir uns da weitgehend rausgehalten. Es könnte hierbei wichtig sein, den impact von BoNT Impfstoffen auch für unsere Belange mit zu verfolgen.“ Das wollte er nach seiner Rückkehr im Gespräch mit Krantz vorbringen. Die Formulierung klang gut und es interessierte ihn nicht mehr, wie die Engländer das mit den Impfstoffen zustande brachten, aber dem Schneider würde er ein paar Takte dazu erzählen. So transusig durfte es in der AG-Toxine nicht mehr weitergehen.

Da er Smiths Vortrag nicht mehr folgen konnte, machte er sich weitere Notizen, die Schneider betrafen. „Mir war bisher an einer weitgehend von allen Beteiligten akzeptierten und nachvollziehbaren Lösung gelegen, daher habe ich nicht einfach über die Köpfe hinweg entschieden, aber das wird Konsequenzen haben.“ Nachdem er diesen Satz zu Papier gebracht hatte, nickte er zufrieden. Aus Beatrix konnte er noch mehr herausholen, bisher hatte sie ja mitgespielt. Der Vortrag des Engländers war an ihm vorbeigerauscht, aber das spielte keine Rolle. Er war schließlich der Abteilungsleiter! Beatrix Nagel und der Schneider mussten das machen!

Der dritte Redner war ein Japaner namens Shomatsu aus einem Institut in Osaka. Griebsch kannte weder den Mann noch das Institut. Dazu hatte er Mühe, Shomatsus Englisch zu verstehen. Es ging um giftige Naturstoffe, die als potenzielle neue Biowaffen infrage kamen. Öfter glaubte Griebsch etwas wie Soy Soss, zu verstehen. Meinte der Soja Soße? Aber was machte das schon! Seine Gedanken schweiften zum IEI. Schneider würde er kaltstellen, am besten nur noch mit ungeliebten Verwaltungsaufgaben beschäftigen. Im Geist entwarf er das Schreiben an Krantz: „Wir haben in der Leitungsrunde bei der Zuordnung von verantwortlichen Aufgaben mit Allgemeinwirkung sorgsam abgewogen und sind bezüglich der Gefahrstoff Klassen Einstufung und der Gefahrstofftransport Registrierung zu der Erkenntnis gelangt, dass nur ein Mitarbeiter mit langjähriger Erfahrung und großem Überblick bei unseren vielfältigen Tätigkeiten die Aufgabe dieses Beauftragten übernehmen sollte. Hierzu benennen wir Herrn Dr. Schneider aus der AG-Toxine, der mir seine große Bereitschaft zur Übernahme erklärt hat!“ Bei dem Gedanken gluckste Griebsch vor sich hin, woraufhin ihn sein Sitznachbar erstaunt ansah. Schneider würde müssen, ob er wollte oder nicht. Als er aus seinem Tagtraum erwachte, redete der Japaner immer noch. Griebsch döste den Rest der dreißig Minuten vor sich hin, die Müdigkeit machte ihm wieder zu schaffen.

In der Kaffeepause nach den ersten drei Vorträgen schlenderte er ziellos durch die Grüppchen der diskutierenden Teilnehmer. Er peilte Sarah Ferguson an, die aber von einer Schar Teilnehmer umringt war. Griebsch erkannte den Engländer Smith, mit dem sie diskutierte, das hielt ihn davon ab, sich dazu zu gesellen. Vor seinem eigenen gab es nur noch zwei Vorträge. Bei dem Gedanken wurde er aufgeregter, seine Blase meldete sich und er ging auf die Toilette. Als er zurückkam, ertönte die Klingel als Zeichen für die Anwesenden sich wieder auf ihre Plätze zu begeben. Griebsch hatte seinen Platz mit seiner Tasche belegt. Er wollte diesen Gangplatz halten, um, sobald er an der Reihe war, schnell und ungehindert auf die Tribüne gehen zu können. Aber noch war es nicht soweit. Der nächste Vortrag kam von Pierre Duval vom Institut Pasteur in Paris. Griebsch kannte das Institut, aber nicht Duval. Duvals Arbeitsgruppe war schon sehr weit bei der gentechnischen Bearbeitung von bioterroristisch relevanten Bakterien wie Botulinum, Staphyloccoccus, Burgholderia und Anthracis. Sein Englisch hatte eine starke französische Färbung, die für Griebsch merkwürdig klingenden Laute gaben ihm Zuversicht. Er hatte sich Sorgen gemacht, wie sein Englisch auf die Zuhörer wirken würde. Aber im Vergleich mit Duval würde man ihn besser verstehen.

Einiges was Duval erzählte, klang interessant. Als sein Vortrag zu Ende war, traute Griebsch sich nicht, eine Frage zu stellen, aus Angst sich zu blamieren. Schließlich trat der Vorsitzende O’Reilly an das Pult und gab bekannt, dass der für den nächsten Vortrag vorgesehene Kollege Leibowitz aus Tel Aviv umständehalber nicht anreisen konnte. Als Ersatzredner wurde Ishiiro Yamaguchi von Saikan Industries aus Kobe angekündigt. Saikan war eine Firma, die sich mit der Entwicklung von Schnelldiagnostika gegen Toxine aller Art befasste. Noch ein Japaner. Von dem Ersten war Griebsch nur noch die Sojasoße in Erinnerung geblieben.

Yamaguchi war in erster Linie Manager und stellte in seinem Vortrag die Produkte von Saikan in den Vordergrund. Griebsch konnte seinen Ausführungen gut folgen. Je mehr er Yamaguchi reden hörte, desto mehr wunderte er sich, was die Japaner schon alles in den Handel gebracht hatten. Er machte sich eine Notiz, am Stand der Firma Saikan vorbeizugehen und dort Informationsmaterial mitzunehmen. Vielleicht konnte er damit bei Krantz punkten.

Yamaguchi hatte die vorgesehene Redezeit schon überzogen, Griebsch war nach ihm an der Reihe. Seine Aufregung wuchs und er begann, auf seinem Stuhl herumzurutschen. Eigentlich müsste der Vorsitzende Yamaguchi jeden Moment stoppen. Yamaguchi schien aber nicht zum Ende zu kommen. Er zeigte eine Folie nach der anderen, stets mit neuen Produkten der Firma Saikan und kommentierte jede neue Folie mit einem tief aus dem Bauch kommenden „Mmmh“ oder „Oohh!“ Griebsch schaute aufgeregt von links nach rechts, versuchte vergeblich Blickkontakt mit O’Reilly aufzunehmen, aber der schaute ihn nicht an, sondern spielte nur mit seinem Kugelschreiber. Nachdem Yamaguchi seine Redezeit bereits um zehn Minuten überzogen hatte, hüstelte O’Reilly in das Mikrofon und schob seinen Stuhl zurück, als wolle er aufstehen. Yamaguchi drehte sich in O’Reillys Richtung und bat mit einer Verbeugung um mehr Zeit: „Two more minutes Mr. Chairman, please.“ O’Reilly sank in seinen Stuhl zurück und blickte Griebsch aufmunternd an. Der konnte seinen Hintern kaum noch auf dem Sitz halten. Schließlich kam auch Yamaguchi zum Schluss. O’Reilly gestattete noch eine Frage, wofür Griebsch ihn in Gedanken erwürgte, um schließlich den letzten Vortrag des Vormittags anzukündigen: „Professor Griebsch from the Institute for Experimental Infectiology, in Berlin, Germany.“

In diesem Moment hörte Horst Griebsch sein Herz und seinen Atem lauter als alle anderen Geräusche im Saal. Er stand auf und die meisten Teilnehmer nahmen ihn zum ersten Mal bewusst wahr, als er mit seinem Manuskript in der Hand die drei Stufen an der Seite der Tribüne hoch zum Rednerpult strebte. Von oben blickte er in den halbdunklen Saal und war froh, nur die ersten zwei Reihen seiner Zuhörer zu erkennen. In der ersten Reihe saß Sarah Ferguson, neben ihr der Engländer Smith und ein paar Sitze weiter, Duval. Griebsch hatte sich seinen Vortrag so oft selbst gehalten, dass er ihn fast auswendig konnte. Allerdings hatte er dreißig Minuten eingeplant und Bedenken, dass ihm diese Zeit wegen Yamaguchi nicht mehr gewährt würde. Er begann überhastet. Nach den ersten einführenden Worten geriet er ins Schwimmen, als er über Dinge redete, die er nur vom Hörensagen kannte. Aber der Saal blieb ruhig und Griebsch schaffte es, seinen Vortrag in fünfundzwanzig Minuten zu Ende zu bringen. O’Reilly war sichtlich zufrieden, bedankte sich und meinte, nach diesem sehr interessanten Vortrag wäre sicherlich Bedarf für Fragen. Prompt hoben sich mehrere Hände. Ein Assistent lief mit einem Mikrofon in der Hand an den Sitzreihen entlang, bis er haltmachte. Griebsch schaute ihm hinterher und sah Sarah Ferguson, die das Mikrofon in die Hand nahm und sich vorstellte: „Sarah Ferguson, Fort Detrick“, um Griebsch nach Einzelheiten zur Herstellung der Rizinvakzine zu fragen.

Griebsch, dessen Ausführungen oberflächlich, aber inhaltlich brisant gewesen waren, war von der gezielten Frage überrascht. Aber dann fiel ihm doch eine passende Antwort ein: „I think this is not the place to go into the experimental details. (7)”

Die Amerikanerin musterte ihn von oben bis unten, drehte sich dem Auditorium zu und kommentierte: „I’ve got the impression that some people just present their ideas. But we want facts and not fiction.“ (8) Sie gab das Mikrofon zurück und setzte sich, ohne Griebsch noch eines Blickes zu würdigen. Dann begann sie mit ihrem Sitznachbarn Smith zu tuscheln, der wiederholt heftig nickte. Griebsch fühlte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss, wahrscheinlich war er knallrot geworden.

Mit so einer Erwiderung hatte er nicht gerechnet, aber jetzt kam schon die nächste Frage aus dem Teilnehmerkreis. Allerdings hatte er Mühe, diese überhaupt zu verstehen. Ein Australier aus einer der hinteren Reihen, Calderon oder Cameron, artikulierte mit einem für Griebsch kaum verständlichen Akzent und zwang ihn dadurch, zweimal nachzufragen. Als es zu peinlich wurde, antwortete Griebsch eben so gut, wie er meinte, den Australier verstanden zu haben. Dann bemerkte er, wie dieser schon das Interesse verloren hatte, um sich mit einem kurzen „Okay, thank you for nothing“, wieder zu setzen.

Die zwei, drei Hände, die sich noch zu Fragen erhoben hatten, sanken herunter. Der Vorsitzende stellte noch eine Höflichkeitsfrage, die Griebsch beantwortete. Nachdem O’Reilly allen Rednern gedankt hatte, schloss er die Session für die Mittagspause. Sofort erhoben sich die Anwesenden von ihren Stühlen, der Geräuschpegel im Saal stieg an, das Redebedürfnis machte sich nach den drei Stunden erzwungener Ruhe Bahn. Die Menge strebte dem Ausgang zu, um sich ein Stockwerk höher in einem dafür vorgesehenen Saal zum Lunch zu begeben.


Stufe für Stufe stieg Griebsch von der Rednertribüne hinab in den Saal. Er schaute sich um, ob jemand ihn auf seinen Vortrag ansprechen wollte, aber fast alle waren bereits nach draußen geeilt. O’Reilly ordnete seine Unterlagen und beachtete ihn nicht, also schloss sich Griebsch der Menge an. In dem Saal, wo das Mittagessen serviert wurde, standen eine Anzahl gedeckter, runder Tische. Viele waren schon mit zwei oder mehr Teilnehmern besetzt. Augenpaare hielten Ausschau nach Bekannten, mit denen sie gerne zusammen essen wollten. Im Vorbeigehen sah Griebsch einen voll besetzten Tisch, an dem Sarah Ferguson angeregt mit ihren Sitznachbarn Smith und Duval plauderte. Ein Stück weiter einen anderen, der ausschließlich von Südamerikanern besetzt war, und an einem weiteren Tisch sah er Yamaguchi mit dem Bürgermeister von Kyoto und anderen Japanern in einer Runde sitzen. Schließlich entschied er sich, an dem letzten noch freien Tisch Platz zu nehmen, womit ihm die Peinlichkeit der Frage, ob der Platz noch frei wäre, erspart blieb.

Horst Griebsch blieb nicht lange allein, ihm gegenüber nahmen drei Asiaten Platz. Von ihren Namensschildern konnte Griebsch ablesen, dass sie aus Malaysia, Indonesien und Singapur kamen. Die drei Männer begrüßten ihn höflich und sprachen untereinander in einem Idiom, das er nicht verstand. Griebsch drehte seinen Stuhl halb in die Richtung des Saals, um die Ankommenden zu sehen, als er die junge Anna aus Warschau bemerkte, die er bei der Registrierung am Morgen getroffen hatte. Sie schien ihn wiederzuerkennen. Horst Griebsch rückte mit seinem Arm den freien Stuhl neben sich ein Stück weiter weg vom Tisch, als Zeichen, dass der Platz neben ihm noch frei war. Anna zögerte und als sie in seine Richtung gehen wollte, kreuzte ein anderer Teilnehmer ihren Weg und sprach sie an. Er zeigte auf einen anderen Tisch und mit seiner freien Hand, die er für einen Moment leicht auf ihren Oberarm legte, lenkte er Anna in die Richtung zweier Plätze, die noch unbesetzt waren.

Anna schien das nicht unrecht zu sein und Griebsch drehte seinen Kopf betont langsam wieder zurück auf seinen Tisch. Sein Blick fiel auf die drei Asiaten, welche alles mitbekommen zu haben schienen und ihn angrinsten. Zu seinem Glück waren die beiden Stühle rechts neben ihm inzwischen besetzt. Er schielte auf die Namenschilder, sein Sitznachbar kam aus Österreich. Neben ihm saß eine Frau, deren Namen Griebsch nicht lesen konnte. „Kerner, vom Biotest-Institut aus Graz“, stellte sich sein Nachbar vor und Griebsch war froh, jemand an der Seite zu haben, mit dem er Deutsch reden konnte.

Dr. Domenescu from Bukarest“, stellte Kerner ihm die Frau vor.

Griebsch nickte ihr desinteressiert zu. „Nice to meet you”, sagte er.

I was listening to your interesting presentation (9)“, sagte die etwas korpulente Frau Domenescu, aber Griebsch freute sich nicht darüber. Wer war schon diese Frau? Der Frust, wie Sarah Ferguson ihn nach seinem Vortrag abgekanzelt hatte und die Enttäuschung, dass Anna sich lieber zu dem Jüngeren an den Tisch gesetzt hatte, waren noch zu frisch. Kerner begann, mit Griebsch und Frau Domenescu über seine Arbeit zu reden. Er war ein Koordinator. Seine Aufgabe war es, zwischen staatlichen Stellen und der Industrie zu Fragen des Bioterrorismus zu vermitteln. Frau Domenescu erschien ihm wegen ihrer Verbindungen aus der sowjetischen Zeit interessant, was er Griebsch zwischendurch ins Ohr flüsterte.


„Herr Professor Griebsch, ich bin froh, Sie endlich persönlich kennenzulernen“, hörte Griebsch eine Stimme von seiner linken Seite. Er schaute sich um. Auf dem Stuhl, den er für Anna vorgesehen hatte, saß ein Mann circa Ende dreißig, eine elegante Erscheinung in einem hellen Anzug. Sein Gegenüber sprach Deutsch mit einem leichten Akzent, den Griebsch nicht einordnen konnte. Er sah seinen neuen Tischnachbarn genauer an, aber bevor er noch etwas erwidern konnte, traten überall Kellner an die Tische und trugen eine Misosuppe als Vorspeise auf. Nach einem Moment des Schweigens und Löffelns fragte Griebsch seinen Nachbarn, woher er ihn kenne. Eigentlich hätte er ihn gerne gefragt, wer er sei, aber Griebsch dachte, er müsste ihn vielleicht kennen, zumindest, wenn er dazugehören wollte. Sein Nachbar trug kein Namensschild und antwortete „Oh, Sie sind als Rizinexperte bekannter, als Sie denken. Ich habe Ihren Vortrag gehört, den ich sehr interessant fand.“

Griebsch war angenehm überrascht. Als er sich seinem neuen Nachbarn gerade widmen wollte, hörte er, wie Anna, die zwei Tische weiter entfernt saß, laut lachte, als der dunkelhaarige Mann, der sie an den Tisch gelotst hatte, ihr etwas ins Ohr flüsterte. Dann schüttelte sie mit gespielter Entrüstung den Kopf, eine Szene, die Griebsch schwer irritierte.

„Ich habe mich nicht vorgestellt, entschuldigen Sie. Mein Name ist Sutter und ich bin hier im Auftrag der OECD“, sagte sein Nachbar und lächelte Griebsch an, wobei seine blauen Augen ihren prüfenden Ausdruck dabei nicht verloren. Sutters Haare waren dunkelblond, eher lang und straff nach hinten gekämmt.

„Sie sprechen sehr gut Deutsch“, bemerkte Griebsch. Sutter erwiderte, seine Mutter käme aus Basel, er sei aber in Bergamo in Italien aufgewachsen. Von seinem Vater sagte er nichts. Im nächsten Gang wurden Tempura, frittiertes Fleisch und Gemüsestücke, serviert. Sutter lobte die japanische Küche als zweitbeste hinter der italienischen, um dann wieder auf Griebschs Vortrag zurückzukommen. „Sarah Ferguson hat Sie ganz schön angegriffen, nicht wahr? Sie wollte Sie nur provozieren, um mehr Details zu Ihren Forschungen zu erfahren, seien Sie sich dessen sicher.“ Er lachte. „Sie würde Ihnen auch nichts davon erzählen, was in Fort Detrick gerade abläuft, denke ich mal.“

Griebsch bekam bessere Laune und den Eindruck, dass sich doch nicht alle durch die Polemik der Ferguson gegen ihn aufbringen ließen und so stürzte er sich fröhlich auf die immer neu aufgetragenen Schälchen von Kostbarkeiten aus der japanischen Küche. Später wollte er nachschauen, wo Sutter hingehörte und da er Angst hatte, Sutter würde ihn zu Einzelheiten befragen, zu denen er nichts wusste, stellte er Sutter und Kerner einander vor. „Sehr angenehm“, sagte Sutter. Er schien kein besonderes Interesse an Kerner zu zeigen, der sich bald wieder Frau Domenescu zuwandte, um sie mit seinem vom Wiener Schmäh gefärbtem Englisch weiter auszufragen. Griebsch war froh, dass der Gong ertönte, das Zeichen für die Anwesenden zurück in den Saal zur Nachmittagssession zu gehen. Griebsch erhob sich und verabschiedete sich hastig, um noch auf die Toilette zu gehen. Auf dem Lokus holte er die Teilnehmerliste aus seiner Jackentasche und fand Kerner und Domenescu, aber nicht Sutter. Ob er den Namen falsch verstanden hatte? Aber er fand nichts ähnlich Klingendes, als er die Liste mit den hundert Teilnehmern durchging.

Er wollte Sutter beim nächsten Mal darauf anzusprechen, falls sie sich wieder treffen sollten. Griebsch steckte die Unterlagen zurück in seine Tasche und beendete seine private Sitzung. Im Saal setzte er sich wieder auf seinen alten Platz. Noch vier Vorträge musste er überstehen, bis der heutige Konferenztag zu Ende ging. Horst Griebsch konnte sich nicht mehr gut konzentrieren. Er hatte sein Pensum erfüllt und mit dem Mittagessen im Bauch machte sich eine tiefe Müdigkeit breit. Die Zeitverschiebung forderte ihren Tribut. Beim letzten Vortrag, der von dem Russen Wladimir Tschernenko gehalten wurde, kam es zu einem Eklat und Griebsch wachte wieder auf. Tschernenko forderte für Russland finanzielle Unterstützung von den Ländern, die sich durch Bioterror bedroht fühlten. Damit sollten die durch das Ende des sowjetischen Biowaffenprogramms arbeitslos gewordenen Wissenschaftler im Land gehalten werden. Man könne sonst nicht dafür garantieren, dass sie lukrativen Angeboten aus Schurkenstaaten folgten. Tschernenkos Beitrag endete in einer ausgelassenen Diskussion, in der sich Sarah Ferguson sehr exponierte. Griebsch nahm das Treiben nur als Zuschauer wahr. Er war überrascht, dass sogar der ansonsten stoische Schotte O’Reilly Anzeichen von Aufregung zeigte. Schließlich beendete O’Reilly mit dem Hinweis, schließlich sei er der Chairman, die Diskussion und sprach das Schlusswort.

Griebsch erhob sich mühsam aus seinem Stuhl, seine Beine schmerzten vom langen Sitzen und von der angesammelten Müdigkeit. Er ging rasch zur Garderobe, um seinen Mantel zu holen und in das Hotel zurückzugehen. Aus dem Augenwinkel sah er Sutter, der auf ihn zusteuerte, aber Griebsch schaffte es mit einem Schlenker, diese Klippe zu umschiffen. Er lief eilig durch die Haupthalle der KICH, um nach draußen zu gelangen. An der Eingangstür stieß er fast mit Anna und ihrem neuen Bekannten zusammen. Beide machten sich gemeinsam auf den Weg aus dem Gebäude. Im Vorbeigehen entzifferte Griebsch das Namensschild seiner Eifersucht. Ein Spanier mit dem Namen Ibanez. Schnell eilte Griebsch weiter, während er sich bemühte, in eine andere Richtung zu schauen. Er beeilte sich, in sein Hotel zu kommen. Für 20:30 waren alle Vortragenden zum Speakers Dinner (10) in ein traditionelles japanisches Restaurant im oberen Stockwerk des KICH geladen. Nach dem Gespräch mit Sutter hatte er den Eindruck, dass sein Vortrag doch nicht so schlecht angekommen war. Er nahm sich vor, Sarah Ferguson beim Dinner anzusprechen, um das Verhältnis zu ihr zu normalisieren.

Rizin

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