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Ein paar Wochen, bevor überraschend alle Laborleiter des IEI zu einer Sitzung bei Krantz einbestellt wurden, waren in den USA Dinge passiert, die das Szenario eines Hollywoodfilms in den Schatten stellten. Nur wenige Tage nach den Anschlägen des 11. September erhielten amerikanische Politiker Briefe, die außer einer banalen Botschaft weißen Staub enthielten, der den Empfängern um die Nase wehte. Ein paar Tage danach entwickelten sie Anzeichen einer Grippe, bekamen Fieber und Schüttelfrost, um bald darauf im Schockzustand zu sterben.

Die Ursache dafür war schnell gefunden. Es war Milzbrand, eine Krankheit, die vor hundert Jahren bei Pelzverarbeitern eine Rolle spielte, heutzutage aber so gut wie verschwunden war. Proben aus den Wohnungen der Briefopfer identifizierten den weißen Staub als Sporen des Milzbrandbakteriums Bacillus anthracis. Anthrax hieß diese Seuche wegen der anthrazitschwarzen Hautgeschwüre, die sich bei den Infizierten bildeten. Ohne antibiotische Behandlung verlief Anthrax meistens tödlich. Einige der Briefempfänger starben, denn bevor man wusste, was die Ursache ihrer Erkrankung war, kam die Antibiotikatherapie zu spät.

Der Verdacht auf Bioterrorismus im Geleit der nine eleven Anschläge in Manhattan lag auf der Hand. Hatten Nachrichtendienste nicht geheime Produktionsstätten für Biowaffen im Irak entdeckt? War Anthrax nicht eine der bekanntesten Biowaffen überhaupt? Einfach in der Herstellung und verheerend in der Wirkung. So verheerend, dass Sporen des Milzbranderregers, welche die britische Armee auf eine unbewohnte Insel abgeworfen hatte, fünfzig Jahre danach immer noch ansteckungsfähig waren. Für die Militärs relativierte das die Eignung von Anthrax als Kriegswaffe, weil man das Land des Gegners für Jahrzehnte lang nicht ohne Schutzanzug betreten konnte. Aber für Terroristen, die Angst und den Tod verbreiten wollten, schien diese Waffe dagegen viel besser geeignet zu sein.

Diese Absicht teilten auch Kreise des japanischen Militärs, die Anthrax im Zweiten Weltkrieg in China einsetzten, um die Zivilbevölkerung zu dezimieren. Nach Kriegsende wurden die Verantwortlichen von den Alliierten zum Tode durch den Strang verurteilt. Doch einige konnten ihren Hals durch ihre Kenntnisse retten, die sie den Siegermächten zur Verfügung anboten. So entstand zu Beginn des Kalten Krieges eine staatlich geförderte B-Waffen Entwicklung, welche die Atombomben im Portfolio der Drohkulisse ergänzen sollte. Die Großmächte betrieben geheime Forschungseinrichtungen zur Entwicklung von biologischen Waffen. Das in der Sowjetunion gelegene Institut in Stepnogorsk fiel nach der Wende durch die weiträumige Verseuchung der Umgebung mit Viren und Bakterien auf. Entdeckt wurde das nur durch Zufall, weil Stepnogorsk in den Wirren der Wendezeit von ausländischen Experten besucht werden durfte. Ein amerikanisches Gegenstück zu Stepnogorsk war Fort Detrick im Bundesstaat Maryland. Hier musste man sich nie von ausländischen Inspektoren in die Karten gucken lassen. Als der Kalte Krieg nach 1990 eine Pause machte, litt Fort Detrick wie sein russischer Gegenpart an nachlassendem Interesse der Militärs. Mit der Folge, dass die Budgets dieser Institute immer mehr schrumpften.

Nach dem Auftauchen der Anthraxbriefe war das Interesse an B-Waffen wieder geweckt. Gewisse Leute mochten daraus einen Nutzen ziehen. Aber die Aktion geriet bald außer Kontrolle, weil die präparierten Briefe nicht nur ihre Adressaten trafen, sondern zwischen den Walzen der Sortieranlagen in der Post aufplatzten und ihren staubigen Inhalt auf die dort Arbeitenden verteilten. Dadurch wurde die Verbreitung der Milzbrandbakterien unvorhersehbar.

Wer konnte hinter den Briefen stecken? Die Analyse der Sporen ergab, es handelte sich um ein professionell hergestelltes Produkt. Die Verarbeitung der Bakterien zu einem feinen, flüchtigen Pulver konnte nur mit Spezialmaschinen erfolgt sein. Von offizieller Seite wurde ein Zusammenhang mit der Terrororganisation al-Quaida gezogen, die kurz zuvor mitten in Manhattan ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt hatte. Hatten die Attentäter des 11. September nicht bewiesen, wie weit der Terrorismus in die Infrastruktur des Landes eingesickert war? Waren die Terroristen möglicherweise schon in Fort Detrick?

Die Anthraxbriefe waren ein gefundenes Fressen für die Medien und Deutschland blieb davon nicht ausgenommen. Die Briefe kursierten zwar nur in den USA, doch jeder erwartete ihr Auftreten in anderen Ländern. An einem Frühsommertag war es in der deutschen Hauptstadt soweit: Eine Angestellte des Möbelhauses Hiller fand nach Ladenschluss einen im Geschäft abgelegten Brief, der außer einem staubigen Papiertaschentuch mit einer unverständlichen Botschaft weiter nichts enthielt. Der Umschlag landete zunächst bei der Polizei, dann beim Landeskriminalamt und schließlich wurde der Staatsschutz eingeschaltet. Pressemitteilungen, wie Anthraxbrief in Berlin aufgetaucht, konnten nicht mehr verhindert werden und die Angestellte des Möbelhauses freute sich über die vielen Interviews.

Hier bestand Verdacht auf terroristische Aktivität, es mussten Untersuchungen an dem Briefinhalt vorgenommen werden. Diese hätte jedes medizinische Labor durchführen können, aber es handelte sich um eine Sache der höchsten Sicherheitsstufe, um ein Politikum. Welche Institution kam dafür besser infrage als das IEI unter der Leitung des berühmten Professors Herbert Krantz?

Für das IEI begann mit diesem Tag eine neue Epoche, der Einstieg in die Biowaffenforschung. Das Landeskriminalamt meldete sich bei Direktor Krantz, ob die Untersuchung des Briefes in seinem Institut erfolgen könnte. Krantz gab zurück, das sei selbstverständlich kein Problem. Er verschwieg, wie schlecht die Voraussetzungen dafür inzwischen waren, denn er selbst hatte Monate zuvor die klinische Bakteriologie am IEI so gut wie aufgelöst. Die freiwerdenden Mittel und das Personal waren längst auf die virologischen Fachgruppen verteilt. Aber Herbert Krantz irritierte das nicht. Unmittelbar, nachdem das LKA sich bei ihm gemeldet hatte, zitierte er die Leiter aller Laborbereiche zu sich. Schneider war vom Anruf aus dem Präsidialbüro überrascht, weil der Termin umgehend war. Als Schneider, der sich nicht besonders beeilt hatte, Krantzens Bürosuite betrat, saßen dort bereits Kollegen aus allen Abteilungen des Instituts.

Sogar Krantz war diesmal pünktlich, und nachdem Schneider eingetroffen war, eröffnete er die Sitzung. „Ich musste Sie kurzfristig zu mir bitten, da der schon befürchtete Ernstfall eingetreten ist. Heute sind wir vom LKA informiert worden, dass ein im Möbelhaus Hiller deponierter Brief möglicherweise Anthraxsporen enthält. Ich habe bereits mit dem Bundeskriminalamt Kontakt. Man erwartet von höchster Stelle eine unverzügliche Aufklärung des Sachverhaltes durch das IEI. Ich setzte voraus, dass der Nachweis dieser Sporen für uns kein Problem darstellt!“

Mit der Betonung auf seine letzten drei Worte starrte er Leo Schneider an, wie ein räuberisches Insekt, möglicherweise, weil Schneider das einzige noch existierende bakteriologische Labor am IEI betrieb. Schneider war zu überrascht, um darauf zu reagieren. Krantz legte nach: „Ich nehme an, dass diese Untersuchung bei Ihnen problemlos durchgeführt werden kann, Herr Schneider?“ Der leise Tonfall war unüberhörbar, da alle Anwesenden wie gebannt schwiegen.

Leo Schneider zögerte. Er hatte nichts für die Untersuchung von Anthrax im Labor vorrätig, er arbeitete mit anderen Bakterien, die Durchfall verursachten. Aber ein Test für Anthraxsporen wäre schnell aufgebaut und vielleicht eine Chance, sein Labor zu erhalten. Er überlegte ein paar Sekunden zu lange. Als er gerade „Ja, aber ...“, sagen wollte, kam von Gerhard Hellman, dem Leiter der virologischen Abteilung, der Satz: „Wir können das machen!“

Damit hatte Schneider nicht gerechnet. Der Veterinär Hellman hatte vielleicht als Student das letzte Mal mit Bakterienkulturen gearbeitet. Ob Hellman überhaupt wusste, wie man Sporen bildende Anthrax Bazillen erkennt? Schneider war sprachlos, in seinem Kopf schossen sich die Gedanken gegenseitig ab. Instinktiv spürte er, wenn er weiter schwieg, würde sein Labor bald nicht mehr existieren. „Ja, natürlich können wir diese Untersuchungen durchführen“, sagte er eine gefühlte Unendlichkeit später.

Krantz fixierte ihn weiterhin, seine Augen verengten sich, dann blickte er auf seinen Duzfreund Hellman. Er verzog seine schmalen Lippen zu einem dünnen Grinsen, das seinen Oberlippenbart zu einem Strich gerinnen ließ. „Ich denke, Sie beide werden das übernehmen und dabei zusammenarbeiten. Sie sind beide für das Gelingen verantwortlich, wir dürfen uns gegenüber dem LKA keine Schwächen erlauben. Das war es für heute, ich schließe die Sitzung, Sie können zurück an Ihre Arbeit, meine Damen und Herren.“

Schneider nickte. Ihm blieb nichts weiter zu sagen und er sah, wie Hellman zufrieden grinste, als alle Anwesenden eilig das Präsidialbüro verließen, froh, dass der Kelch diesmal an ihnen vorübergegangen war. Alle, bis auf Hellman, der keine Anstalten zum Gehen machte. Schneider stand betont langsam auf, hoffte, Hellman würde auch gehen, aber der blieb sitzen und Schneider ging mit gesenktem Kopf aus dem Raum. Wie ein Schlafwandler lief er durch das Vorzimmer an der Chefsekretärin vorbei, verließ den Präsidialtrakt und ging den Flur im Altbau des Instituts entlang. Hellman hatte als Leiter der virologischen Abteilung viel mehr personelle und apparative Mittel, als Schneider mit seinen verbliebenen zwei technischen Assistentinnen. Hellman und Krantz kannten sich schon aus Studienzeiten, zwei Duzfreunde, beide um die sechzig. Schneider fühlte, dass zwischen ihm und den beiden Männern eine Kluft lag, die er nicht überwinden konnte noch wollte.

„Männer über sechzig sind gefährlich, denn sie haben keine Zukunft!“ Diesen Satz hatte Leo Schneider einmal in einer Festrede für einen grau melierten Klinikchef gehört und der fiel ihm jetzt wieder ein. Im Gegensatz zu Hellman musste Schneider ungefährlich sein, denn er hatte sich mit Mitte vierzig noch um seine Zukunft zu sorgen. Er stellte sich Hellman vor, der jetzt bei Krantz saß und wahrscheinlich über ihn herzog. Ohne es richtig wahrzunehmen, war Schneider in sein Labor gelangt. Er grübelte, was Hellman und Krantz wohl ausheckten. Eine Rolle würde er dabei spielen, aber welche? Wie selbstverständlich war Hellman sitzen geblieben, als alle anderen den Raum verließen. Krantz hatte Schneider auch nicht gebeten, an dem Gespräch teilzunehmen. Langsam beruhigte Schneider sich wieder. Natürlich war es spannend, einer neuen Herausforderung zu begegnen, aber sein Entsetzen über das, was er gerade erlebt hatte, überwog.

Schneiders Assistentin Tanja fragte, wie es gelaufen war. Nach der Antwort „Nur das übliche Zeug von Krantz, war wie immer furchtbar“, sah sie ihn ungläubig an. In diesem Moment wurde ihm klar, es war Unsinn, die Sache herunterzuspielen. Er fügte hinzu: „Vielleicht müssen wir ab jetzt etwas mit Bazillen arbeiten.“

Tanjas Kollegin Karin regte sich auf, fand es Schwachsinn, von einem Tag auf den anderen die Arbeit völlig umzustellen. Tanja zuckte mit den Achseln, meinte: „Und wenn schon, das kriegen wir hin.“ Sie blieb gelassen, war geduldig und verließ sich auf ihre Erfahrung. Bevor sie zu Schneider kam, hatte sie für die Gerichtsmedizin im Leichenschauhaus gearbeitet. Zwar war sie keine ausgebildete Sektionsassistentin, hatte sich aber die dafür notwendigen Fähigkeiten zur Präparation der Organe, der Fixierung der Proben und der fotografischen Dokumentation angeeignet. Oft war sie mit diesen Arbeiten stundenlang allein in dem neonbeleuchteten Sektionssaal und was sie jeden Tag dort sah, brachte ihr eine stoische Grundhaltung ein. Eines Tages hatte sie genug davon und sich auf die Stelle am IEI bei Schneider beworben. Ihm hatte sie erzählt, es wäre der Geruch des Todes gewesen, den sie irgendwann nicht mehr ausgehalten hätte. Eine Erbschaft aus dieser Beschäftigung war das Rauchen, das sie sich in dieser Zeit angewöhnt hatte, um den Leichengeruch, von dem sie meinte, er würde an ihr kleben, zu überdecken. Gelernt hatte Tanja den Beruf einer veterinärmedizinischen Assistentin in einer Großtierpraxis. Von ihrem Lebenslauf her war sie einiges gewohnt und kannte vieles. Ihre Ehe mit ihrem Mann Arno war vor drei Jahren in die Brüche gegangen, nachdem sie ihn in flagranti mit ihrer besten Freundin ertappt hatte. Sie hatte sich damals geschworen, nie wieder zu heiraten. Seitdem lebte sie allein, bis auf kurze Affären, die aber nie länger als ein paar Wochen oder Monate hielten.

Leo Schneider sagte nichts weiter und verzog sich in sein Büro. In seinen Gedanken drehten sich die Worte „Anthrax, Bazillen, Anthracis, Bacillus“ im Kreis. Wie alle Bazillen hatte Anthrax die Eigenschaft Sporen zu bilden. Als Spore konnten die Bazillen sich zwar nicht vermehren, waren aber auch nicht tot und konnten in dieser Form Hitze, Kälte und Trockenheit jahrzehntelang überdauern. Man nahm an, das Leben hätte sich im All in Form von Sporen verbreitet, denn nur Sporen könnten den langen Weg durch den kalten und trockenen Weltraum unbeschadet überstehen. Träfen sie irgendwann auf einen neuen Planeten mit günstigen Lebensbedingungen, dann konnten die Sporen wieder auskeimen und sich wie ganz gewöhnliche Bakterien vermehren. Und das Leben auf der Erde? Waren Bakterien nicht die erste Stufe davon gewesen?

Am späten Nachmittag, als er allein im Labor war, erinnerte sich Leo Schneider daran, dass er früher schon einmal mit Bazillen gearbeitet hatte. Er war damals zweiundzwanzig, es war in den drei Monaten, bevor er mit seiner Diplomarbeit begann. Er verdiente sich sein erstes Geld in seinem späteren Beruf als studentische Hilfskraft im Labor von Helmuth Linde. Dort sollte er Mutanten des Heubacillus isolieren. Der Heubacillus war harmlos. Er kam in Erde und auf Pflanzen vor und sein Name kam daher, dass er aus einem Aufguss aus Heu und Wasser leicht anzuzüchten war. Im trockenen Heu überlebte der Bazillus als Spore.

Die Widerstandsfähigkeit von Sporen gegen Hitze hatte Schneider durch eine absichtslose Spielerei selbst erfahren. Nachdem er den ganzen Tag mit den Heubazillen gearbeitet hatte, brachte er sie aus einer Laune heraus über der Flamme des Bunsenbrenners zum Kochen. Das habt ihr davon, dachte er, als er die blubbernde Bouillon betrachtete. Dann wurde er neugierig. Ob einige der Bazillen diese Hitze vielleicht überlebt hatten? Da war noch eine Schale mit dem Nährboden übrig, auf dem man die Bazillen zu Kolonien wachsen lassen konnte. Aus einem Bazillus wurden durch ständige Teilungen nach wenigen Stunden Millionen, und weil sie dicht nebeneinander wuchsen, wurden ihre Kolonien für das bloße Auge als millimetergroße, gelbliche Punkte sichtbar. Nachdem Schneider die aufgekochten Bazillen auf dem Nährboden verteilt hatte, stellte er die Schale in den Brutschrank. Er ließ sie über Nacht dort, damit die Bazillen sich vermehren konnten. Allerdings rechnete er nicht damit, dass es überlebende Bazillen gab, und ging nach Hause.

Als er am nächsten Morgen die Schale aus dem Brutschrank nahm, waren aber doch ein paar Kolonien zu sehen. Schneider verstand das nicht und sprach mit Helmuth Linde darüber. Als der die Geschichte hörte, lachte er und sagte: „Ist doch klar, da waren ein paar Sporen in deiner Kultur. Es gibt immer welche, sozusagen für den Notfall und nur die Sporen überleben das Kochen. Alle anderen Bazillen gehen kaputt. Nachdem du die Sporen auf den Nähragar gebracht hast, sind sie ausgekeimt und wieder zu Kolonien herangewachsen. So einfach ist das.“

Schneider hatte das beeindruckt. Es war etwas anderes, darüber in einem Lehrbuch zu lesen, oder die über der Flamme brodelnde Kultur zu sehen, um festzustellen, dass in der kochend heißen Suppe doch nicht alles Leben erloschen war.

Diese Geschichte war ihm wieder eingefallen. Er dachte an die Durchfallbakterien, mit denen er arbeitete. Die bildeten keine Sporen und schon bei 60 °C Hitze wären sie alle futsch gewesen. Und dann fiel ihm ein, was er mit dem Staub aus dem Anthraxbrief machen musste. In Wasser auflösen, aufkochen und danach auf den Nähragar bringen. Wenn der Staub Sporen enthielt, würde er sie am nächsten Tag als Kolonien finden. Genauso wie damals mit dem Heubazillus. Wenn aber nichts auf dem Nähragar wuchs, dann enthielt der Staub keine Sporen und damit auch keine Anthraxbazillen.

Schneider wurde zuversichtlicher. Nachdem er aus Datenbanken die genetischen Eigenschaften der Anthraxbazillen ermittelt hatte, beschloss er, diese durch PCR-Verfahren nachzuweisen. PCR, das stand für eine Methode, mit der Teile der Bakterien DNA millionenfach vermehrt wurden. Nach einer Stunde hatte man soviel davon, dass man das Produkt durch eine Färbung sichtbar machen konnte. Bildete sich ein gefärbtes Produkt, dann enthielt die Probe Anthraxbazillen, wenn nicht, dann nicht. Die PCR konnte er an einem Tag durchführen. Einen Anthraxstamm zur Kontrolle würde ihm Krantz mit seinen Beziehungen schon organisieren, dachte Schneider.


Aber vieles lief anders, als Schneider dachte. Nach der Sitzung bei Krantz war Gerhard Hellman nicht untätig geblieben und legte mit seinen Leuten los. Für ihn war das die Gelegenheit, zur mächtigsten Figur im IEI neben Krantz aufzusteigen und das wollte er sich nicht entgehen lassen. Nur deswegen hatte er gleich die Initiative ergriffen. „Wir können das machen!“ Das dumme Gesicht von Schneider hatte er noch vor Augen. Hellman musste lachen, denn Schneider bekam gar nicht mit, was er alles machte.

Die von Krantz verordnete Zusammenarbeit begann damit, dass Schneider den Brief aus dem Möbelhaus nie zu Gesicht bekam. Hellman hatte den Brief und seinen Inhalt mithilfe eines medizinischen Labors als ungefährlich identifiziert. Mit dem Ergebnis war er dann zu seinem Freund Krantz gegangen, um sich für die schnelle Aufklärung beglückwünschen zu lassen. Schneider blieb uninformiert, aber Hellman kam in dieser Zeit öfter bei ihm im Labor vorbei und fragte ihn über dies und jenes aus. Schneider fühlte sich bestätigt, denn er merkte, wie wenig Hellman von Bakteriologie verstand. Hellman war doch von ihm abhängig, dachte er. Der hatte zwar viele Leute, aber keinen Mikrobiologen.

Aber Hellman hatte etwas ganz anderes vor. Leo Schneider war für ihn Konkurrenz, die er kaltstellen wollte. An einem Freitagnachmittag kam er in das Labor von Schneider und kündigte einen neuen Brief zur Bearbeitung auf Anthrax an. „Schaffen Sie das bis morgen?“, fragte Hellman.

Leo Schneider und Tanja waren bei der Arbeit und schauten Hellman entgeistert an. Schneider begann zu rechnen, in der Summe ergab das eine Arbeitszeit von acht Stunden. Wenn er jetzt damit anfing, würde er bis Mitternacht daran sitzen. „Haben Sie die Probe dabei?“, fragte Schneider.

„Die soll bald mit der Polizei im Institut eintreffen, ich melde mich dann gleich bei Ihnen“, erwiderte Hellman.

Das konnte sich bis in den Morgen hinziehen. Tanja wollte eigentlich schon seit einer halben Stunde weg sein. Vor Montag war nicht wieder mit ihr zu rechnen. Hellman wollte das Ergebnis aber bis morgen. Schneider sagte zu, ihm blieb auch keine andere Wahl. Weigerte er sich, am Wochenende zu arbeiten, hätte Hellman einen Grund ihn bei Krantz anzuschwärzen. Eigentlich wollte er früher gehen, seine Tochter Elsa hatte ihren Besuch aus Frankreich angekündigt. Früh gehen konnte er jetzt abschreiben. Ich muss sehen, wie weit ich komme, dachte er, wenn es zu spät wird, mache ich den Rest der Arbeit morgen früh.

Hellman schien zufrieden, er ging und versprach, die Probe vorbeizubringen. Nachdem Tanja fort war, setzte Schneider sich in sein Büro, machte sich einen Tee und überlegte, ob er alles für die Untersuchung parat hatte. Die Zeit verging, Schneider wartete auf die Probe, nachdem er die Vorbereitungen abgeschlossen hatte. Die Gefäße und Reagenzien standen auf Eis, alles war bereit. Es fehlte nur noch die Probe. Inzwischen war es bereits Viertel nach sieben. Schneider hatte seine Frau Louisa angerufen und gesagt, es würde später werden.

Die Zeit verging und das Untersuchungsmaterial war immer noch nicht da. Schließlich rief Schneider bei Hellman an. Erst in seinem Büro, dann im Labor, aber niemand hob ab. Die Privatnummer von Hellman hatte er nicht. Vielleicht hatte Hellman angerufen, als Schneider auf der Toilette gewesen war? Aber dann hätte er es doch noch einmal versucht oder wäre vorbeigekommen. Und wenn die Proben heute gar nicht mehr kämen? Schneider ging in den zweiten Stock und fand die Labore und das Büro von Hellman verschlossen. Inzwischen war es acht Uhr. Niemand war mehr da, der Auskunft geben konnte. Schneider rief den Pförtner an und fragte, ob Proben für ihn hinterlegt wurden. Nein, da war nichts!

Schneider beschloss, nach Hause zu gehen. Der arrogante Hellman hatte es nicht für nötig befunden, ihm zu sagen, dass die Probe heute nicht mehr eintreffen würde. Schneider ärgerte sich über den gestohlenen Abend. Kurz nach neun Uhr war er zu Hause. Er hatte zwölf Stunden im Institut verbracht und musste Louisa erklären, warum er morgen den ganzen Tag im Institut verbringen müsste. Elsa war gerade angekommen und enttäuscht, weil er am Wochenende kaum noch Zeit hatte.

Nach einer schlecht verbrachten Nacht rief Schneider am Samstag früh die Pforte des IEI an. Dort stand der Kühlschrank für Probenmaterial, welches außerhalb der Dienstzeiten abgegeben wurde. Der Pförtner schaute nach, es gab nichts und er konnte sich nicht erinnern, dass seit gestern etwas für Schneider eingetroffen war. Toll, dachte Schneider. Wieder einmal so eine Ankündigung. Er kannte das schon. Beim leisesten Verdacht gab es sofort Großalarm. Die Polizei hatte einen Heidenrespekt vor den Briefen und wollte sie so schnell wie möglich abliefern. Wahrscheinlich war es blinder Alarm gewesen. Immerhin, der Samstag war gerettet.

Aber es war alles ganz anders und nach einem ruhigen Sonntag mit seiner Familie, wartete am Montag im Institut eine Überraschung auf Schneider. Kaum hatte er das Labor betreten, kam Tanja und sagte: „Du, der Hellman hat schon dreimal angerufen, der ist stinksauer und hat gefragt, wo wir denn am Freitag gewesen sind.“

„Wieso?“, fragte Schneider, „Hellman war doch am Freitagabend längst weg. Ich habe bis nach acht gewartet, nach ihm gesucht und ihm hinterher telefoniert.“

Tanja war noch nicht fertig. „Hellman hat gesagt, er hätte deinetwegen die Probe selbst untersuchen müssen, damit das Ergebnis rechtzeitig für das BKA vorliegt.“

Jetzt dämmerte Schneider, was hier gespielt worden war. Eine Intrige. „So ein Schwein!“, platzte es aus ihm heraus.

Und so war es. Hellman hatte durch seine Mitarbeiter die Anthrax-PCR aufbauen lassen und von Krantz Anthraxbazillen bekommen. Er hatte Schneider nichts davon erzählt und außerdem hatte Hellman den ersten Zugriff auf die eintreffenden Verdachtsproben. Wie Schneider später erfuhr, war die Probe in Wirklichkeit schon am Freitagvormittag in Hellmans Labor gelangt. Hellman hatte die Ergebnisse schon in der Tasche, als er am Nachmittag bei Schneider im Labor auftauchte. Mit seiner Inszenierung wollte Hellman nur erreichen, dass Schneider nach vergeblichem Warten irgendwann nach Hause ging. Am Samstag hatte Hellman dem Direktor das Ergebnis der Untersuchung mitgeteilt und sich über den unzuverlässigen Schneider beklagt, der es vorgezogen hatte, seinen Feierabend einzuläuten, anstatt seine Pflicht zu tun.

Ob Krantz über die Intrige Bescheid wusste, spielte keine Rolle. Hellman hatte sein Ziel erreicht. Von nun an hatte er die Federführung bei der Untersuchung der Verdachtsproben, Schneider war zur Randfigur geworden. Kurz darauf besiegelte Krantz das offiziell und ernannte Hellman zum Leiter der Arbeitsgruppe Bioterrorismus. Von Zusammenarbeit mit Schneider war nur noch in soweit die Rede, als dass man in ihm einen Zuarbeiter sah. Mit seinen neuen Befugnissen ließ Hellman einen Raum im Innentrakt des Neubaus als Hochsicherheitslabor ausbauen. Er bekam Mittel, den schon älteren Mikrobiologen Bartow, der seine Position an der Humboldt-Universität verloren hatte, einzustellen. Jetzt hatte Hellman seinen Mikrobiologen, ein Veterinär, der sich mit Anthrax gut auskannte. Bartow blieb auf Hellman angewiesen, denn der gab ihm nur befristete Arbeitsverträge, deren Verlängerung er vom Wohlverhalten Bartows abhängig machte.

Die Alarmstufe für Anthrax blieb bestehen. Damit hatte Hellman weitreichenden Zugriff auf die Techniker und Wissenschaftler des IEI. Er erstellte einen Dienstplan, der die Wochenenden, Feiertage und Ferienzeiten mit einschloss. Alle Mitarbeiter, auch Schneider und seine Assistentinnen, hatten sich zu einem festgelegten Zeitplan zu Diensten einzutragen. Die Einweisung der Mitarbeiter in die Anthraxuntersuchung erfolgte durch Bartow und seine Assistentin. Kurze Zeit danach berichteten Krantz und Hellman auf einer Pressekonferenz, was sie zur biologischen Gefahrenabwehr auf die Beine gestellt hatten. Die Bürger konnten beruhigt schlafen, für ihre Sicherheit war gesorgt. Dieser Coup steigerte das Ansehen von Krantz. Anfragen im Parlament und Druck von politischer Seite ließen Geld und neue Stellen für den Aufbau der neuen Abteilung Biologische Gefahrenabwehr, kurz BIGA genannt, fließen.


Durch den Presserummel schwoll die Menge der verdächtigen Briefsendungen, die im IEI eintrafen, mehr und mehr an. Krantz hatte einen Mechanismus in Gang gebracht, der sich von selbst verstärkte und so am Leben erhielt. Was die Briefe betraf, so erschien der Geisteszustand der Absender oft bedrohlicher als ihr Inhalt. Anonym geschrieben, enthielten sie meistens Beschimpfungen und Bedrohungen. Wenn Leute etwas über sich in den Medien lesen, hören oder sehen wollten, reichte es schon, einen solchen Brief mit einer Prise Backpulver an die Adresse eines Prominenten, Ministeriums oder einer Botschaft zu schicken.

Am nächsten Tag konnten sie dann das öffentliche Echo ihrer Aktion verfolgen. Manch einer fand es schade, anonym zu bleiben und tat sich mit seinem Werk wichtig. Aber die wenigen Briefschreiber, die von der Polizei geschnappt wurden, waren solche, die sich irgendwann verplappert hatten.

Briefe, die Verdacht erregten, wurden von der Polizei in bruchsichere Spezialbehälter verpackt und mit Blaulicht und Sirene ins IEI gebracht. Für einen Brief im Wert von einem Euro entstanden mehrere Tausend Euro Kosten, wenn man die Polizei- und die Laborarbeit berechnete. Das Geld fehlte an anderer Stelle, aber das kümmerte Krantz nicht. Wie viele Briefe mussten noch eintreffen, bevor man begriff, dass es vernünftiger war, sie gefahrlos zu vernichten, anstatt jede Woche ihren Pegelstand in der Zeitung auszukrähen?

Schneider hatte sich das bald gefragt. Aber mit Vernunft hatte es nichts zu tun. Es ging um Geld, Macht und Einfluss. Selbst der zuständige Minister profitierte davon, weil seine Stellung in der Regierung gestärkt wurde. Als die Briefwelle abrupt endete und man Bilanz zog, hatte es in Deutschland nicht einen Brief gegeben, der tatsächlich Anthraxbazillen enthalten hatte.

Schneider war in dieser Zeit mit den Anthraxuntersuchungen, bis auf die Wochenenddienste, nicht weiter beschäftigt. Hellman hatte sein Ziel erreicht und benötigte ihn nicht mehr. Nach der Intrige war Schneiders Ruf beim Direktor sowieso ruiniert. Hellman hatte jetzt die Leitung der BIGA, dazu Personalstellen und Mittel, sich die neuesten Laborgeräte und DNA-Sequenziergeräte anzuschaffen. Was Schneider zur Verfügung stand, war dagegen mehr als bescheiden. Nachdem er für Hellman keine Konkurrenz mehr darstellte, schien Leo Schneider aus der Schusslinie geraten zu sein. Man ließ ihn in Ruhe weiter an seinen alten Projekten arbeiten.

In dieser Zeit gab es neue Informationen zu den echten Anthraxbriefen, die in den USA kursiert hatten. Mit Sicherheit stammten die Sporen aus einem Profilabor. Dafür sprachen die genetischen Eigenschaften der Bazillen und die Aufbereitung des Sporenpulvers. Immerhin, die Sache hatte dazu gedient, dass man nun willens war, den Schurkenstaaten im Nahen, Mittleren und Fernen Osten militärisch das Handwerk zu legen. Nachdem ein Mitarbeiter des Anthraxlabors aus Fort Detrick tot aufgefunden worden war - es sah wie Selbstmord aus - endete der Briefspuk so plötzlich, wie er angefangen hatte. Die Briefe waren nun nicht mehr wichtig, der Krieg gegen den Terror hatte begonnen und es gab gewaltige finanzielle Zuwendungen für die biologische Sicherheitsforschung. Für jede Milliarde, die in den USA ausgegeben wurde, floss in Deutschland nur eine Million. IEI Direktor Krantz versäumte keine Gelegenheit, sich darüber auszulassen. Aber auch die Millionen sicherten den Fortbestand der BIGA, nachdem es keine Anthraxbriefe mehr gab.

Die von Hellman geleitete BIGA war inzwischen größer geworden. Ein Leiter der bakteriologischen Sektion wurde gesucht und in der Person des Biochemikers Horst Griebsch gefunden. Hellman hatte darauf geachtet, dass man jemanden einstellte, der ihm als Konkurrent nicht gefährlich werden konnte. Griebsch hatte sich praktisch kaum mit Bakterien beschäftigt. Er war jahrelang in der Verwaltung tätig gewesen und somit für Hellman der geeignete Kandidat.

Mit der Verschärfung der Irakkrise drängte die Politik zu einem immer weiteren Ausbau der biologischen Sicherheitsforschung. Saddam Hussein und andere Schurken hatten in ihren Arsenalen außer Anthrax noch andere Biowaffen. Die musste man beforschen, um dagegen gewappnet zu sein. Hellman und Griebsch bekamen von Krantz den Auftrag die BIGA entsprechend aufzurüsten. Für Schneider bedeutete das vor allem, dass er und seine Gruppe dem Newcomer Griebsch unterstellt wurden.

Rizin

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