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Boksee, 30. 4. 2011

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Harald hatte kein Auto. Da er sich sonst nur in der Kieler Innenstadt bewegte, brauchte er eine Weile, um herauszufinden, wie er mit dem Bus zum Hof Keim und Sprosse in der Nähe von Boksee südlich von Kiel gelangen konnte. Der Bus fuhr am Sonntag nur alle paar Stunden und Harald verstand jetzt, warum Marie immer Wert darauf gelegt hatte, sich mit ihrem eigenen Fahrrad unabhängig zu machen. Aber selbst, wenn Harald ein Fahrrad gehabt hätte, wäre ihm das zu weit gewesen. Er hatte sich daran gewöhnt, alle seine Wege zu Fuß, oder falls es nicht anders ging, mit dem Bus zurückzulegen.

Der Bus hatte schon seit einer Weile die Stadtgrenze passiert, als der Fahrer an einer verlassenen Haltestelle stoppte und ihm zunickte. Harald lief die Landstraße etwa hundert Meter weiter, bis er auf einen Feldweg stieß. Dort stand ein Schild, das den Weg zum Hof Keim und Sprosse wies. Er hoffte, dass sie keine Hunde hatten. Kläffende Köter, die aus dem Hinterhalt hervor stürmten und ihn womöglich ansprangen, machten ihm Angst. Marie hatte nie von Hunden gesprochen, doch als er sich dem Hof näherte, wurde er eines Besseren belehrt. Aber der große, etwas zottelige Hund, der durch die offene Gartenpforte zielgerichtet auf ihn zu schlenderte, blieb friedlich. Erst als er dicht vor Harald stand, setzte er sich vor ihm hin und bellte.

Eine Frau erschien aus der Flügeltür des lang gestreckten, roten Backsteinhauses. „Ist brav, Charly, brav!“, rief sie, worauf der Hund mit dem Schwanz wedelte und begann Harald intensiv zu beschnüffeln. Als er damit fertig war, machte er kehrt und trollte sich.

„Bist du Harald?“, fragte die Frau, während sie auf ihn zuging.

Sie trug eine blaue Schürze, ihre langen, schwarzen, lockig herunterfallenden Haare umrahmten ihr ebenmäßig geformtes Gesicht. Als sie ihn anlachte, formten sich kleine Grübchen auf ihren Wangen.

Sie passt eigentlich nicht auf einen Bauernhof, dachte er. In seinen Vorstellungen über das Landleben passten eher verhärmte, sorgenzerfurchte Gesichter, obwohl Marie auch nicht so ausgesehen hatte.

„Ich bin Clara“, sagte sie. An dem festen Druck ihrer schlanken Hand spürte er, dass sie körperliche Arbeit gewohnt war. Was für ein Unterschied zu den Leuten im Labor, deren handschuhbewehrte Finger sich selten berührten, staunte er, während Clara ihn am Arm fasste und mit ihm ins Haus ging.

„Die anderen sind alle auf den Feldern oder in den Gewächshäusern“, sagte Clara. „Wir haben im Moment alle Hände voll zu tun. Weißt du, wie es auf einem Bauernhof zugeht?“

Harald nickte und sagte: „Ja, aber nicht so genau.“ Er erzählte Clara nichts weiter von den Eindrücken, die das Dorf seiner Jugendzeit bei ihm hinterlassen hatte, denn er wollte sie nicht kränken.

„Marie hat das alles hier so sehr gemocht.“ Clara zeigte in die Runde und bekam einen dunklen Schimmer in ihren blauen Augen. „Es ist so schade, so traurig! Ich kann immer noch nicht verstehen, wie das passieren konnte.“

Nachdem sie sich in die große Wohnküche gesetzt hatten, goss Clara ihm Kaffee ein und gab ihm von dem selbst gebackenen Erdbeerkuchen. Sie redeten eine Weile darüber, wie Harald und Marie sich kennengelernt hatten und Clara fragte nach seiner Arbeit im Labor. Er blieb allgemein, sagte nur, sie forschten für die Gesundheit. Clara war interessiert. Harald mochte sie und hätte sich eigentlich gerne mit ihr noch länger unterhalten. Da aber niemand sonst anwesend war, wollte er die Gelegenheit nützen und sich in Maries Zimmer ein wenig umzusehen. Nach Beweisen suchen, die belegten, dass Jörg sich an sie rangemacht hatte.

Nach einer Weile kam er daher gezielt auf die CDs zu sprechen. Clara nickte, begleitete ihn in den ersten Stock und zeigte ihm die Tür von Maries Zimmer. Zum Glück hatte sie noch unten zu tun und ließ ihn allein. Wenn er die CDs gefunden hatte, sollte er einfach wieder zu ihr in die Küche kommen.

Der Anblick von Maries Zimmer, das er vorher nie gesehen hatte, gab ihm einen Stich. Ein Hauch von ihrem Duft schien noch in der Luft zu liegen. In der Art, wie der Raum dekoriert war, fühlte er ihre Nähe, aber auch die Gewissheit, dass sie für immer von ihm getrennt sein würde. Er sah sich um, erblickte einen selbst gebauten Holzständer mit CDs und nahm nach kurzer Suche zwei davon in die Hand. Damit hatte er ein Alibi, das gefunden zu haben, was er zu suchen vorgab.

Dann machte er sich auf die Suche nach Beweisen für Jörgs Präsenz in Maries Leben. Er fand ein Tagebuch, das Marie aber schon vor einigen Monaten nicht mehr weitergeführt hatte. Ein paar Briefe von ihren Eltern und von Leuten, die er nicht kannte. Er selbst hatte ihr nie Briefe geschrieben, nur SMS. Ein paar Postkarten, die an der Wand befestigt waren, sahen so aus, als hingen sie schon eine Weile dort.

Auf ihrem Schreibtisch, in einer Glasschale, fand er, was er suchte. Ein paar Zettel mit Adressen, darunter lag die Visitenkarte von Jörg mit dem Logo des Instituts. Er hatte darauf handschriftlich seine private Telefonnummer und Adresse geschrieben. Harald spürte, wie ihm bei diesem Fund die Hitze zu Kopf stieg.

Er wollte die Karte gerade einstecken, da hörte er jemand hinter ihm sagen: „Hör mal, was schnüffelst du eigentlich hier herum?“

Harald schrak zusammen. Er war in Gedanken gewesen und hatte niemanden kommen hören. Er drehte sich um. Vor ihm stand ein Mann, schlank, aber muskulös, mindestens ein Meter neunzig groß, mit flachsfarbenen, etwas schütteren Haaren. Der Mann trat näher an Harald heran und schloss die Tür mit einer Fußbewegung.

„Hallo, ich bin Harald. Clara hat mich netterweise hereingelassen und ich wollte nur die zwei CDs, die ich Marie mal geliehen hatte, wieder abholen ...“

„Zeig mal her!“, sagte der Blonde.

Die Hüllen mit den CDs wurden ihm aus der Hand gerissen. Der Mann schob die CDs zwischen seinen Fingern hin und her, als suchte er etwas. Plötzlich verzerrte sich sein Gesicht und er schubste Harald mit einem heftigen Stoß gegen den Tisch.

„Du lügst! Du Scheißkerl, diese CD von Stevie Moore habe ich Marie zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt.“

Er drehte die CD um und hielt sie Harald dicht vor die Augen. Harald las die kleine, handgeschriebene Widmung auf der Rückseite des Covers mit Maries Geburtstagsdatum vom letzten Jahr. „Erinnerung an Roskilde. Alles Liebe zum Geburtstag, Dein Jan.“

„Was? Dann habe ich mich wohl geirrt“, stieß Harald hervor.

„Geirrt? Ja, das glaube ich auch“, sagte Jan gedehnt und ergriff Haralds Hand. „Geirrt! Dann erzähl mal, was du hier wirklich gesucht hast?“

Sein Blick fiel auf die Karte, die Harald in der anderen Hand hielt. Er zog ihn am Arm zu sich heran, dicht vor sein Gesicht.

„Was ist denn das da? Eine Visitenkarte?“

Jans Augen verengten sich. „Eine Karte von dir, aus eurem Institut, wo ihr die Bakterien genetisch manipuliert. Wolltest die wieder mitnehmen, was? Deine Spuren tilgen.“

Harald konnte nicht mehr darauf antworten, denn nun traf ihn ein Hagel von Faustschlägen, auf seinen Oberkörper und sein Gesicht, sodass er zu Boden ging.

„Jan! Bist du wahnsinnig, hör sofort auf!!“ Claras Schrei kam aus der Tür, die jetzt wieder offen stand. Sie stürmte auf Jan zu, der begann, den am Boden liegenden Harald mit Fußtritten zu traktieren.

„Einen komischen Vogel hast du dir hier eingeladen!!“, schrie Jan, ließ sich aber von Clara abhalten, Harald weiter mit Schlägen zu traktieren.

„Er hat dich angelogen. Das mit den CDs war nur ein Vorwand! Er wollte eine CD mitnehmen, die ich Marie zum Geburtstag geschenkt hatte. Der ist doch nur gekommen, um seine Visitenkarte wieder mitzunehmen, damit niemand erfährt, von woher Marie sich diese Seuche geholt hat. Da, schau mal!“ Er hielt Clara die Visitenkarte unter die Nase. Harald rappelte sich inzwischen auf und wischte sich das Blut mit seinem Jackenärmel von der Nase.

„Was hat das zu bedeuten, Harald?“, fragte Clara, die plötzlich blass geworden war.

„Ich kann das erklären!“, sagte Harald, „aber ihr werdet es nicht verstehen ...“

„Hältst du uns für Deppen, weil wir auf einem Bauernhof leben? Ich verstehe sehr gut. Hau bloß ab. Sei froh, dass Clara hier ist, sonst würde ich dich mal richtig in die Mangel nehmen. Reicht dir das nicht, dass du Marie auf dem Gewissen hast, du Schwein?“

Jan redete sich wieder in Rage und wollte erneut auf Harald los. Clara zog Harald an seinem Ärmel aus dem Zimmer, weg von Jan, die Treppe hinunter. Unten angekommen, öffnete sie die Haustür und deutete hinaus.

„Wirklich, ich kann das ...“

„Geh jetzt! Ich weiß nicht, was wirklich passiert ist, aber ganz ehrlich scheinst du mir nicht zu sein.“

Harald strauchelte in den sonnendurchfluteten Hof. Die Tür schlug hinter ihm zu. Von drinnen hörte er laute, harte Worte. Sie stritten sich. Als er sich umdrehte, sah er den zotteligen Hund zielstrebig auf sich zulaufen. Harald lief erst ein paar Schritte, dann rannte er über das Hofgelände und drehte sich nicht mehr um, als das Kläffen des Hundes immer näherkam.

Jan hatte seiner Lebensgefährtin Clara wütend die Küchentür vor der Nase zugeknallt. Dann war er wieder zurück in Maries Zimmer gegangen. Er hatte es seit ihrem Tod nicht mehr betreten. Der Anblick ihrer Sachen gab ihm einen Stich und machte ihn traurig und wütend zugleich. Traurig über den Tod von Marie und wütend, weil Clara diesen Typen hier herumschnüffeln gelassen hatte. Die Geschichte mit den CDs war eine freche Lüge gewesen, das hatte Clara einsehen müssen. Was hatte dieser Heini hier wirklich gewollt? Jans Blick schweifte über den Raum, der gemütlich und aufgeräumt wirkte. Er öffnete vorsichtig eine Holzkiste, die unten im Regal stand und mit Pailletten verziert war. Die Kiste enthielt Briefe und Postkarten. Jan überflog die Absender, Maries Eltern und ein paar von ihren alten Freundinnen aus der Münchener Zeit. Er scheute sich, die Briefe zu lesen und schob den Packen wieder in die Kiste zurück. Sein Blick glitt über den Boden und fiel auf das kleine Stück Papier, das dort lag und die Ordnung des Zimmers störte. Es war die Visitenkarte, die der Bursche, als er ihn bearbeitete, fallen gelassen hatte. Jörg Puster, Institut für medizinische Mikrobiologie, las Jan, dazu eine Telefonnummer und die Adresse. Eine weitere Telefonnummer, mit der Hand geschrieben. Das war es, was dieser Heini gewollt hatte. Die Visitenkarte holen. Er hatte sie schon in der Hand gehabt, als er gestört wurde. Zum Glück hatte er sie nicht mehr einstecken können.

Klar, dass dieser Kerl etwas mit Maries Krankheit und Tod zu tun gehabt haben musste. Warum hätte er sich sonst die Mühe gemacht, mit einer erfundenen Geschichte um geborgte CDs extra auf den Hof zu kommen, um die Visitenkarte zu suchen? Aber das hatte er ihm vermasselt.

Er hörte Clara von unten laut nach ihm rufen. Er steckte die reliefartig bedruckte Karte in seine Hosentasche und ging die große Holztreppe zur Küche hinunter. Als er die Tür öffnete, saß Clara kreidebleich auf einem Hocker und hatte ihre Beine weit von sich gespreizt. Sie stöhnte und drückte die Hände auf ihren Bauch. „Mir ist auf einmal so kodderig“, sagte sie.

„Hast du jetzt etwa auch, was Marie hatte?“, fragte Jan entsetzt.

Clara schüttelte den Kopf. „Quatsch, ich hab ein wenig Bauchkrämpfe, hab mich draußen bestimmt erkältet.“

„Das fing bei Marie aber auch so an mit Krämpfen. Sag mal, wie hieß dieser Typ, der gerade hier war? Jörg Puster?“

„Jörg wie? Nein, bei mir hat er sich als Harald Pütz vorgestellt. Den Namen, den du da nennst, kenne ich gar nicht.“

„Da sieh mal! Der richtige Name steht aber hier drauf“, sagte Jan und gab ihr die Visitenkarte.

Clara warf einen Blick auf die Karte. „Professor Doktor Jörg Puster“, las sie und musste auflachen. „Du glaubst doch nicht etwa, dass dieser Jungspund sich schon solche Titel angesammelt hat? Der ist doch höchstens Mitte zwanzig!“ Clara fing wieder an zu lachen und verzog dann schmerzhaft ihr Gesicht.

„Ich fahr dich jetzt gleich zur Untersuchung. Vielleicht ist das doch nicht so harmlos, was du hast! Und was diesen Typen betrifft, die Sache stinkt doch zum Himmel. Kommt extra wegen dieser Karte. Er, oder dieser Professor muss etwas mit Maries Krankheit zu tun haben.“

Jan legte Claras Arm um seine Schulter, um sie aus dem Haus bis zum Lieferwagen zu führen. Er ließ sich auch nicht davon abbringen, sie ins Krankenhaus zu fahren, als Clara laut protestierte.

„Und diesmal lass ich mich auch nicht mehr von den Ärzten abwimmeln“, versprach er seiner Lebensgefährtin, als sie in die Notaufnahme der Klinik gingen.

EHEC-Alarm

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