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Berlin, 2. 5. 2011

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Nachdem am Freitag die Meldung über eine ungewöhnliche Häufung von HUS Fällen im Landkreis Brunsbüttel aus dem RPI eingetroffen war, hatte sich über das Wochenende die Situation weiter zugespitzt. Der Verdacht auf EHEC-Infektionen bei den Patienten hatte sich erhärtet. In Leo Schneiders Labor am ILH in Berlin herrschte jetzt Hochbetrieb. Aus der Menge an Lebensmittelproben, mit denen sie zu Wochenbeginn überschüttet wurden, waren die meisten im Zusammenhang mit dem EHEC-Ausbruch in Landkreis Dithmarschen gezogen worden. Schneider öffnete eine der mit Klebeband verschlossenen Styroporkisten und war überrascht. Vor ihm lagen Gurken, Salat und Tomaten. Eigentlich eher ungewöhnliche Lebensmittel bei Verdacht auf EHEC. Meist waren es Fleisch- oder Milchprodukte, die mit EHEC im Zusammenhang standen. Kühe und Schafe trugen häufiger EHEC in ihren Eingeweiden, ohne dass man ihnen das anmerkte. Beim Melken konnte dann die Milch und beim Schlachten das Fleisch der Tiere mit EHEC verseucht werden. Für das Auge unsichtbare Mengen der Bakterien reichten schon aus, um bei Menschen Erkrankungen zu verursachen. Zum Glück waren EHEC-Bakterien empfindlich gegen Hitze, gefährlich wurde es nur, wenn EHEC-verseuchte Lebensmittel roh verzehrt wurden.

Neben der einen standen noch vier weitere Kisten mit Gemüse auf dem Flur. Schneider stapelte die Kisten auf einen Laborwagen und fuhr damit ins mikrobiologische Labor. Elisabeth, eine seiner technischen Assistentinnen, riss die Augen auf, als sie die Menge der Proben erahnte, die Schneider mit den Kisten durch die Labortür schob. Nach welcher Priorität die Proben abgearbeitet werden sollten, wollte sie wissen.

„Zuerst alle, die mit dem Ausbruch zusammenhängen“, sagte Schneider.

Er sah sich die Mappe mit den Probenbegleitscheinen an. Der größte Teil der Einsendungen waren Gurken, daneben auch anderes Gemüse, sogar Erdbeeren gab es.

„Scheint so, dass alles mit dem EHEC-Ausbruch zusammenhängt“, sagte Schneider ernüchtert.

Sein personell nicht gerade üppig ausgestattetes Labor war mit dieser Probenmenge schon überfordert.

„Wonach suchen wir eigentlich genau?“, fragte Elisabeth.

„Nach EHEC! Genaueres dazu weiß ich noch nicht“, sagte Schneider und starrte auf die geöffneten Kisten, die jetzt aufgereiht wie zum Verkauf auf dem Labortisch standen.

„Wie kommen die bloß auf Gurken?“, sagte er mehr zu sich selbst.

„Das weiß ich auch nicht“, antwortete Elisabeth, die ihre Ohren gespitzt hatte, „aber Frau Gack meinte ...“

„Frau Gack!“ Schneider verzog sein Gesicht, als er diesen Namen hörte. Die Sturheit von Simone Gack, Leiterin der Abteilung Mikrobiologie, wurde nur noch von ihrer Beschränktheit übertroffen. Für sie war die Welt klein und überschaubar und sie hatte zu jeder Frage eine Antwort, mit der sie sich auch nie zurückhielt. Am liebsten hielt sie Vorträge vor Leuten, die vom Thema nichts verstanden. Da riskierte sie nicht, mit genauen Fragen in die Mangel genommen zu werden. Wie die meisten aus der oberen Etage des ILH ließ sich Frau Gack gerne mit Informationen aus zweiter Hand versorgen, ohne dass sie beurteilen konnte, welchen Wert diese tatsächlich hatten.

„Entschuldigung, Elisabeth, was meint denn Frau Gack?“, knurrte Schneider, der sich ärgerte, dass seine Assistentin ihm seine Laune deutlich vom Gesicht ablesen konnte.

„Frau Gack kam vorhin ins Labor und sagte, die Gurken müssten dringend untersucht werden, das hätte höchste Priorität.“

„Und wieso gerade die Gurken?“, gab Schneider zurück.

Elisabeth schürzte ihre Lippen. „Tja, wenn du das nicht weißt“, meinte sie schnippisch.

„Hauptsache, Frau Gack weiß Bescheid“, gab er bissig zurück. Mit der Gewissheit, dass Elisabeth es auch so gemacht hätte, wenn er widersprochen hätte. Es war typisch für seine Vorgesetzte, ungefragt in sein Labor zu gehen, den Assistentinnen unsinnige Anweisungen zu erteilen, um ihn so vor vollendete Tatsachen zu stellen.

Wie viele im streng hierarchisch geführten ILH orientierte Elisabeth sich an den Machtverhältnissen. Und wie viele Menschen, die gelernt hatten, sich allen Verhältnissen anzupassen, wusste sie instinktiv, wie diese gerade lagen. Da war nicht nur Frau Gack, sondern auch Professor Franz Vogel, Leiter der Wissenschaftsadministration des ILH und damit Frau Gacks und Schneiders Vorgesetzter. Vogel und Gack mussten weitere Informationen zu dem Ausbruch haben, nur so ließ sich die Sache mit den Gurken erklären. Schneider ging in sein Büro, versuchte noch einmal Seiboldt telefonisch zu erreichen, aber erfolglos. So konnte Schneider ihm nur eine Mail schicken, mit der Frage, ob er vielleicht wüsste, was es mit den Gurken auf sich hatte.

Gegen Mittag gab es aus dem RPI eine erste Pressemitteilung zum EHEC-Ausbruch im Landkreis Dithmarschen. Jetzt fand die Gurkengeschichte plötzlich ihre Erklärung. Seiboldt, der sich so bedeckt gehalten hatte, musste es schon vorher gewusst haben. Die Epidemiologen des RPI hatten die EHEC-Patienten in den Krankenhäusern interviewt. Angeschlossen an diversen Schläuchen für Infusionen und die Dialyse, sollten die Patienten Dutzende von Fragen beantworten, mit denen man dem Ursprung des Ausbruchs auf die Spur kommen wollte.

Es muss nicht einfach sein, sich daran zu erinnern, was man vor einer Woche gegessen hat, wenn man mit Nierenversagen im Krankenhaus liegt, dachte Schneider. Trotzdem hatten sie um die dreißig Patienten und eine doppelt so große Kontrollgruppe zusammenbekommen. Das Ergebnis der Befragung war, dass die EHEC-Patienten statistisch häufiger Gurken gegessen hatten, als die Menschen aus der Kontrollgruppe. Das hatte den Ausschlag gegeben, Gurken als EHEC-verdächtiges Lebensmittel einzustufen.

Am Nachmittag trafen mit Expressversand weitere Kisten mit Gurken in Schneiders Labor ein. Elisabeth sah ihre Stunde gekommen und organisierte den Ablauf der Untersuchungen. Schneider war es Recht, hatte er doch damit Zeit gewonnen, sich um andere Fragen zu kümmern. Es gab schon ein paar Informationen zu dem EHEC-Stamm, den sie aus den Stuhlproben der Brunsbütteler Patienten isoliert hatten. Das Überraschende war, es handelte sich nicht um die üblichen Verdächtigen. Es schien ein völlig neuer Typ von EHEC zu sein, der Schneider bisher noch nicht untergekommen war.

***

Der Himmel war bereits seit einer Weile dunkel. In seinem schwach erleuchteten Büro sah er auf seine Armbanduhr, es war kurz nach zehn Uhr abends. Das geschäftige Treiben in dem Gebäude hatte sich gelegt. Er hatte es sich schon seit einer Weile auf seinem Bürosessel bequem gemacht und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Auf seinem Gesicht spielte ein Lächeln, das Abwarten hatte sich also gelohnt. Aus einem Impuls heraus stieß er sich leicht mit einem Fuß vom Boden ab. Der Stuhl drehte sich langsam mit ihm um seine eigene Achse. Die Welt dreht sich um mich, dachte er dabei und er drückte für einen Moment fest seine beiden Daumen. Hoffentlich, beschwor er in Gedanken das Schicksal, hoffentlich klappt es. Die erste Hürde war genommen. Sein Baby war nicht im Nirwana der natürlichen Selektionsprozesse verschwunden. Es hatte die Bewährungsprobe überstanden und im Kampf ums Dasein überlebt. Abwarten, ob es sich durchsetzen würde. Auch in der Welt der Bakterien gab es Kämpfe ums Dasein, die dem menschlichen Auge allerdings verborgen blieben.

Manches von dem, was sich in der letzten Woche ereignet hatte, erschien ihm widersprüchlich. Er war sich nicht sicher, was er als Nächstes unternehmen musste. Das Wichtigste war, die Kontrolle über die weitere Entwicklung zu behalten. Er war auf alles vorbereitet. Information war alles in dieser Phase, zu tun gab es im Moment nichts.

Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Die Uhr tickte und der Rest des Jahres war schnell vergangen. Es musste noch einiges mehr passieren, damit man auf seine Schöpfung richtig aufmerksam wurde und damit auf ihn, den Problemlöser.

Auch die besten Ideen und der genialste Plan halfen nichts, wenn das Glück nicht ein wenig mitspielte. Aber ihm blieb zurzeit nicht viel mehr, als abzuwarten und aufmerksam zu bleiben. Aufmerksam, damit er zur Stelle war, wenn sein Baby wieder auftauchte. Und wenn es wirklich soweit war, dann würde er bereit sein. Der Experte, der Crack. Ruhig und gelassen hatte er bereits schon die Antworten auf all die Fragen, die die anderen noch nicht einmal formuliert hatten. Dieses Mal würde er ihnen um mehr als nur eine Nasenlänge voraus sein und sie könnten gar nicht anders, als anzuerkennen, das er der Beste, der Erste war.

Er zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Seine Anspannung löste sich etwas, als das Nikotin durch alle Körperzellen strömte. Er unterdrückte den Hustenreiz und ließ sich für einige Momente genießerisch in seinem Tagtraum dahintreiben.

EHEC-Alarm

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